Direkt zum Seiteninhalt springen

Einleitung 1953

Einleitung 1953
Roger Engelmann

1953 ist ein Schlüsseljahr der DDR-Geschichte. Es ist geprägt von einem doppelten Scheitern: dem Scheitern des SED-Regimes bei dem Versuch, die »sozialistische Umgestaltung« in einem Parforceakt zu vollziehen, und dem Scheitern der Volksbewegung bei dem Versuch, die Machthaber – die ihr eigenes Scheitern mit der Verkündung des »Neuen Kurses« gerade eingestanden hatten – am 17. Juni abzuschütteln. Aus den Ereignissen entstand ein doppeltes Trauma, das der Funktionäre, die mit einer gegen sie revoltierenden »Arbeiterklasse« konfrontiert waren und denen die Macht bereits entglitten war, und das der Regimegegner, die erkennen mussten, dass die Sowjetunion ihren deutschen Satellitenstaat in keinem Fall aus der Hand geben würde. Dieses doppelte Trauma wirkte noch lange, es bestimmte die Politik der DDR-Führung und das Verhalten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen einschließlich der Opposition.1

Das Jahr 1953 markiert somit eine Zäsur für alle politischen Akteure in der DDR, nicht zuletzt auch für die Staatssicherheit, die sich mit dem Vorwurf der Partei konfrontiert sah, versagt zu haben. Sie musste versuchen, den Erwartungen der Politbürokratie zu entsprechen und unter Anleitung der damals noch allgegenwärtigen sowjetischen Berater aus dem Geschehen spezifische geheimpolizeiliche Lehren zu ziehen.2

Eine Konsequenz war die Einrichtung eines institutionalisierten Berichtssystems mit dem Ziel, die politische Führung auf der Grundlage von geheimdienstlich ermittelten Informationen über die aktuelle Lage auf dem Laufenden zu halten. Das MfS war jedoch – insbesondere wegen der bescheidenen intellektuellen Fähigkeiten seiner damaligen Kader – auf diese Aufgabe nicht gut vorbereitet. Die frühen Berichte wirken dilettantisch, ihr sprachliches und analytisches Niveau ist niedrig. Die Kehrseite dieser Schwäche erweist sich jedoch als ihre Stärke. Die Meldungen bestehen häufig aus notdürftig zusammengesetztem Rohmaterial, das weithin noch die Authentizität der zugrunde liegenden Primärquellen aufweist. Hinzu kommt die generelle Stärke der Staatssicherheitsberichte, die auf Informationen zurückgreifen konnten, die mit konspirativen Mitteln beschafft worden waren.

Die Lage- und Stimmungsberichte des Jahres 1953 zeichnen ein vielseitiges Bild der DDR-Wirklichkeit in den Monaten nach dem Volksaufstand. Sie zeigen eine Gesellschaft, die noch lange in Aufruhr war und sich nur widerwillig und schrittweise dem Machtanspruch und den Machtritualen der SED beugte. Sie zeigen den allgegenwärtigen Mangel, der den DDR-Alltag bestimmte und auch durch die verschiedenen Regierungsbeschlüsse zugunsten des Konsums nur gemildert werden konnte. Und sie zeigen nicht zuletzt die Defizite einer Wirtschaftsorganisation, die durch Willkür und bürokratische Ineffizienz gekennzeichnet war.

Einige der hier edierten Berichte gehören zu den ersten MfS-Quellen, die überhaupt in der Geschichtswissenschaft verwendet wurden. Der Historiker Armin Mitter war 1990 als Mitglied des Berliner Bürgerkomitees im MfS-Zentralarchiv auf sie gestoßen und veröffentlichte bereits im Januar 1991 auf dieser Quellengrundlage einen Aufsatz zum Juni-Aufstand und seiner unmittelbaren Nachgeschichte.3 Auch im späteren Schrifttum zum 17. Juni blieben die Berichte von Bedeutung, selbst wenn sich schon bald das Spektrum der für die Thematik verwendeten Quellenbestände stark erweiterte.4 Doch die zentralen Staatssicherheitsberichte enthalten – insbesondere für die Phase der wiedereinsetzenden Konsolidierung ab August 1953 – noch zahlreiche andere thematische Aspekte, und diese jenseits des Juni-Aufstandes und seiner Ausläufer liegenden Inhalte wurden von der Historiographie bisher kaum ausgewertet – wohl auch, weil die betreffenden Informationen in der Regel in zahlreichen Tagesmeldungen »verstreut« sind. Durch die vorliegende vollständige digitale Edition ist nunmehr auch für andere thematische Zugänge eine komfortable Auswertungsmöglichkeit gegeben.

1. Zeitgeschichtlicher Hintergrund

1.1 Der harte politische Kurs seit Sommer 1952

Viele Inhalte der mit dem Juni-Aufstand einsetzenden regelmäßigen Berichterstattung der Staatssicherheit an die politische Führung sind nur vor dem Hintergrund der SED-Politik des vorangegangenen Jahres zu verstehen. Von Stalin ermuntert, hatte die SED ab Sommer 1952 die Sowjetisierung der Gesellschaft der DDR forciert. Auf der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 rief Walter Ulbricht den »planmäßigen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus« aus und gab damit den Startschuss für eine aggressive und repressive Gangart in nahezu allen Politikbereichen. Der eingeschlagene Kurs lief auf einen »totalen sozialen Krieg« (Werkentin)5 gegen alle Schichten der Bevölkerung hinaus und steigerte sich zeitweise zu einem regelrechten politischen Amoklauf.

Bereits Ende Mai 1952 hatte die DDR-Führung die Abriegelung der Zonengrenze zu Westdeutschland mit einem gestaffelten System von Sperrzonen verfügt und anschließend Personen, die sie als politisch oder sozial unzuverlässig ansah, aus dem Grenzraum ausgesiedelt.6 Ende Juli wurden die Länder aufgelöst und durch eine in 14 Bezirke gegliederte zentralistische Verwaltungsstruktur ersetzt. Der Aufbau der bewaffneten Organe, insbesondere der als »Kasernierte Volkspolizei« (KVP) getarnten Armee7 und der Staatssicherheit,8 wurde forciert.

Auch fuhr die SED jetzt einen verstärkten antikirchlichen Kurs, der sich im Frühjahr 1953 zu einem regelrechten »Kirchenkampf« steigerte und mit der Verhaftung von Geistlichen und kirchlichen Laien einherging. Insbesondere die »Jungen Gemeinden« waren heftigen Angriffen ausgesetzt, weil sie Jugendliche vor dem Zugriff des Staatsjugendverbandes FDJ abschirmten.9 Die Kirchen waren die einzigen unabhängigen Institutionen im Lande, in denen sich politischer Protest noch offen artikulieren konnte. Kirchliche Würdenträger nutzten ihre Position, um staatliche Übergriffe zu verurteilen. In den Gottesdiensten wurden regelmäßig Fürbitten für Inhaftierte verlesen.10

Der neue politische Kurs richtete sich vor allem gegen alle selbstständig Wirtschaftenden, denen in der aufzubauenden sozialistischen Gesellschaft kein Existenzrecht mehr eingeräumt wurde. Im Frühjahr 1953 wurden Selbstständige aus der allgemeinen Kranken- und Sozialversicherung ausgeschlossen und erhielten keine Lebensmittelkarten mehr.11 Darüber hinaus setzte eine teils schleichende, teils in regelrechten Kampagnen organisierte Drangsalierung des gewerblichen Mittelstandes und der privaten Bauern ein. Nichterfüllung des Abgabesolls, Steuerrückstände oder geringfügige Verstöße gegen die bestehenden Bewirtschaftungsregelungen lieferten Vorwände für administrative oder strafrechtliche Maßnahmen, die häufig auf den Ruin und die Enteignung der Betroffenen hinausliefen. Häufig wurden Gummiparagraphen des Wirtschaftsstrafrechts genutzt, um die Betroffenen zu kriminalisieren.

Besonders eklatant ist in dieser Hinsicht das Beispiel der Aktion »Rose«, bei der im Frühjahr 1953 – von Volkspolizei und Staatsanwaltschaft stabsmäßig geplant – an der Ostseeküste Hotels, Pensionen und Gaststätten beschlagnahmt wurden, um sie dem Feriendienst des FDGB zu übertragen. Hunderte Hotel- und Gaststättenbesitzer wurden unter den fadenscheinigsten Beschuldigungen festgenommen und zumeist zu Haftstrafen und Vermögenseinzug verurteilt. Viele von ihnen zogen es vor, rechtzeitig in den Westen zu fliehen und überließen der DDR ihr Eigentum auf diese Weise.12

Auf dem Lande ging es vielen Mittel- und Großbauern ähnlich: Sie wurden im Hinblick auf Abgabeverpflichtungen und auf die Versorgung mit Maschinen und Saatgut zunehmend diskriminiert und gerieten – insbesondere wenn schlechte Ernten hinzu kamen – nicht selten in eine Situation, in der sich Steuerschulden und Abgaberückstände akkumulierten, was wiederum entsprechende Strafverfahren auslöste. Unter diesen Umständen zog es mancher Privatbauer vor, Zuflucht in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft zu suchen oder in den Westen zu fliehen.13

Die Drangsalierung von Privatbauern und privatem Handel sowie die Kollektivierung der Landwirtschaft führten zu einer Verschlechterung der Versorgungslage. Hinzu kamen eine Missernte im Sommer/Herbst 1952 und die aus militärpolitischen Gründen erfolgte Aufstockung der Staatsreserve. Im Frühjahr 1953 kam es so bei bestimmten Lebensmitteln zu einer regelrechten Versorgungskrise: Insbesondere Butter, Margarine, Fleisch, Gemüse und Zucker wurden zur Mangelware. Der forcierte Ausbau der Grundstoff- und Schwerindustrie zulasten anderer Industriezweige verstärkte zudem den Mangel auch im Bereich der industriellen Konsumgüter.14

Doch der scharfe politische Kurs richtete sich nicht nur gegen die besitzenden Schichten. Um die ehrgeizigen ökonomischen Ziele zu erreichen und den Aufbau der KVP zu finanzieren – im Jahr 1952 stiegen die Rüstungsausgaben auf fast das Doppelte –, musste die Produktivität gesteigert werden. So erhöhte sich der Druck auf die Belegschaften, Normenerhöhungen zu akzeptieren. Oftmals ging dies mit der Einführung sogenannter »technisch begründeter Arbeitsnormen« (TAN) einher, die auf scheinbar exakten Berechnungen der möglichen Arbeitsleitung basierten, häufig aber nicht realistisch waren. Für die Arbeiter bedeutete das in der Regel Lohnkürzungen.15 Zudem wurden die ermäßigten Arbeiterfahrkarten abgeschafft, was große Empörung auslöste.

Auch im Bereich des Strafrechts kam es zu einer drakonischen erziehungsdiktatorischen Neuerung nach stalinistischem Vorbild. Im Oktober 1952 trat das Gesetz zum Schutz des Volkseigentums in Kraft, das auch für kleinste Bagatelleigentumsdelikte, die nicht selten aus den allgegenwärtigen Versorgungsproblemen resultierten, eine Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus vorsah. Die sich daraus ergebende Strafrechtspraxis traf ganz überwiegend Angehörige der Arbeiterschaft und war für einen dramatischen Anstieg der Häftlingszahlen verantwortlich. Hatte es im Juli 1952 noch 31 000 Gefangene gegeben, so war ihre Zahl im Mai 1953 auf 66 000 angewachsen, in weniger als einem Jahr auf mehr als das Doppelte.16

Zunehmende Repression gegen den Mittelstand, verstärkter ideologischer Anpassungsdruck, der »Kirchenkampf« und nicht zuletzt die eskalierenden wirtschaftlichen Probleme führten zu einem dramatischen Anstieg der Flüchtlingszahlen, die im Frühjahr 1953 Höchstwerte erreichten; im Spitzenmonat März waren es rund 42 000. Insgesamt verließen im ersten Halbjahr 1953 fast 200 000 Menschen die DDR.17

1.2 »Neuer Kurs« und Volksaufstand

Die SED-Politbürokratie zeigte sich von der katastrophalen Bilanz ihrer Politik zunächst wenig beeindruckt. Die nach dem Tod Stalins im März 1953 an die Macht gekommene Moskauer Führungsgruppe dagegen beobachtete den anschwellenden Flüchtlingsstrom mit zunehmender Sorge und verordnete der SED-Führung – nach längeren internen Diskussionen – einen scharfen politischen Kurswechsel. Am 2. Juni mussten Ulbricht, Grotewohl und Oelßner in Moskau antreten, um ein politisches Memorandum entgegenzunehmen, in dem die politischen Eckpunkte eines »Neuen Kurses« bereits festgeschrieben waren. Den überraschten SED-Politikern wurde eine »fehlerhafte politische Linie« vorgehalten, die zu einer »äußerst unbefriedigenden politischen und wirtschaftlichen Lage« und einer »ernsten Unzufriedenheit« in der Bevölkerung geführt habe. Es sei ein grundlegender Fehler gewesen, »Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus« zu nehmen, ohne dass hierfür die »objektiven Voraussetzungen« vorhanden gewesen seien. Eine Totalrevision dieser Politik wurde verlangt. Im Einzelnen bedeute dies die Auflösung derjenigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), die »auf einer unfreiwilligen Basis« geschaffen worden seien oder sich als lebensunfähig erwiesen hätten, den Verzicht auf Diskriminierung und Überbesteuerung des »mittleren und kleinen Kapitals«, eine »Lockerung des überspannten Tempos der Entwicklung der Schwerindustrie« und eine erhebliche Stärkung des Konsumgütersektors, außerdem die »Stärkung der Gesetzlichkeit«, Überprüfung ergangener Urteile sowie die Rücknahme antikirchlicher Maßnahmen und die Einstellung der Verfolgung der einfachen Mitglieder der Jungen Gemeinden.18

Der abrupte Kurswechsel der Sowjetunion führte zu einer Schwächung der Position Walter Ulbrichts, der als Generalsekretär den harten politischen Kurs weitgehend autokratisch durchgesetzt hatte. Die Diskussion der sowjetischen Vorgaben in der folgenden Sitzung des SED-Politbüros am 9. Juni ging übergangslos in eine allgemeine Kritik an Ulbrichts selbstherrlichem Führungsstil über und mündete in einen schweren Machtkampf, der die SED-Führung sechs Wochen lang in Atem halten und teilweise lähmen sollte.19

Als der »Neue Kurs« zwei Tage später als Kommuniqué des Politbüros im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« verkündet wurde, übertrug sich der politische Schwächezustand auf die gesamte SED. Die Basis der Partei war angesichts der Hundertachtzig-Grad-Wendung desorientiert und die Bevölkerung empfand den Kurswechsel überwiegend als Eingeständnis der Schwäche, ja als politische Bankrotterklärung. Diese für die Machthaber ausgesprochen schwierige psychologische Situation war eine entscheidende Voraussetzung für den Ausbruch des Aufstandes wenige Tage später.20

Nachdem die Machthaber mit dem »Neuen Kurs« den bürgerlichen Schichten weitreichende Konzessionen und auch schon einzelne Rückzieher mit Blick auf die Arbeiterschaft gemacht hatten, etwa bei der Wiedereinführung der ermäßigten Arbeiterfahrkarten und der Preisreduktion bei Süßwaren,21 breitete sich offenbar die Erwartung aus, dass die SED auch in der Frage der Normenerhöhung umgehend den Rückzug antreten würde. Ihre Kompromisslosigkeit in diesem Punkt brüskierte die Arbeiterschaft und wirkte wie Sprengstoff.

Die Belegschaften hatten seit Monaten Widerstand gegen »freiwillige« Normenerhöhungen geleistet. Deshalb beschloss das Zentralkomitee der SED am 14. Mai 1953 auf seinem 13. Plenum eine generelle und bindende Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens 10 % und am 28. Mai folgte der entsprechende Ministerratsbeschluss.22 Als Endtermin für die Umsetzung wurde der 30. Juni festgelegt – es war Ulbrichts Geburtstag –, was weder zur Popularität der Maßnahme noch zu der des SED-Generalsekretärs beitrug.

Angesichts der Unruhe, die wegen der Normenfrage in den Betrieben bereits herrschte, was vereinzelt auch schon zu Streiks geführt hatte, war die »administrative Normenerhöhung« eine riskante Entscheidung. Sie entsprach allerdings dem ungehemmten politischen Voluntarismus Ulbrichts in dieser Phase und lag ganz auf der Linie der anderen rücksichtslosen und selbstherrlichen Maßnahmen der Zeit. Als aber Mitte Juni die Wut der Arbeiter über die zu erwartenden Lohneinbußen auf den politischen Schwächezustand der SED nach der Ausrufung des »Neuen Kurses« traf, ergab sich eine explosive Situation, bei der nur noch der Funke für die Detonation fehlte.

Dieser Funke wurde auf einer Baustelle des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain geschlagen, auf der es bereits am Montag, dem 15. Juni, zu einer Arbeitsniederlegung kam. Eine an den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl gerichtete Resolution wurde verfasst, in der die Rücknahme der Normenerhöhung verlangt wurde. Der Text der Resolution wurde verbreitet, insbesondere auf der Großbaustelle Block 40 an der Stalinallee entstand am Folgetag ein weiterer Streikherd. Als die Arbeiter das Gefühl bekamen, nicht ernst genommen zu werden, bildeten sie spontan einen Demonstrationszug, der auf seinem Weg durch das Stadtzentrum stark anwuchs. Die Demonstranten zogen zum Haus der Ministerien, wo sie nach Ulbricht und Grotewohl verlangten. Die Parolen hatten sich inzwischen bereits politisiert, es wurden freie Wahlen und der Rücktritt der Regierung gefordert. Als der Minister für Hüttenwesen und Erzbergbau Fritz Selbmann zu den Demonstranten sprach und die inzwischen erfolgte Rücknahme der Normenerhöhung bekannt gab, konnte das die Gemüter nicht mehr beruhigen. Die Parole Generalstreik machte die Runde, am nächsten Tag wollte man nochmals mit mehr Macht demonstrieren.23

Von entscheidender Bedeutung war, dass es einer Abordnung von Arbeitern gelang, die Redaktion des RIAS in Westberlin dazu zu bewegen, sich ihrer Sache anzunehmen. Der RIAS berichtete laufend über die Ostberliner Ereignisse, verbreitete die Forderungen der Arbeiter und übertrug eine Rede des Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski, der den Demonstrationsaufruf für den kommenden Tag unterstützte.24

Am 17. Juni breiteten sich Streiks und Demonstrationen über nahezu die gesamte DDR aus. Die Ereignisse entwickelten sich in den unterschiedlichen Aufstandszentren fast immer nach dem gleichen Muster: In den Betrieben versammelten sich die Arbeiter, beschlossen zu streiken und formierten sich zu Demonstrationszügen, die sich in Richtung der Innenstädte bewegten und auf ihrem Weg weitere Betriebsbelegschaften dazu animierten, sich anzuschließen. Die Demonstranten nahmen die Gebäude der Machtorgane ins Visier. Haftanstalten, Dienststellen der Volkspolizei und Staatssicherheit und die Gebäude von SED und Massenorganisationen wurden gestürmt. In den meisten industriellen Zentren, aber auch in vielen Kleinstädten und auf dem Lande, schien die Macht der SED gebrochen.25

Erst durch die Ausrufung des Ausnahmezustandes und das Eingreifen der sowjetischen Truppen konnten die Machtverhältnisse, teilweise allerdings erst nach Tagen, wiederhergestellt werden. Durch Massenverhaftungen und standrechtliche Erschießungen wurde die Bevölkerung unmittelbar eingeschüchtert, doch die Herrschaftsstrukturen waren angeschlagen und der SED-Apparat brauchte Wochen und Monate, bis er seine Verunsicherung überwunden und seine Durchgriffsmöglichkeiten restauriert hatte.

1.3 Staatssicherheit im Umbruch

Die regelmäßige Berichterstattung der Staatssicherheit, die mit dem 17. Juni einsetzte, muss vor dem Hintergrund der sich in dieser Phase vollziehenden Krise der Institution gesehen werden. Der Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, war einer der unterlegenen Protagonisten des Machtkampfes im SED-Politbüro. Als Ulbricht ihn auf der 15. Tagung des ZK am 26. Juli demontierte und entmachtete, ging das einher mit einer parteioffiziellen Kritik am MfS, dem vorgeworfen wurde, am 17. Juni vollkommen versagt zu haben, weil es die Machenschaften der Drahtzieher des »faschistischen Putschversuches« nicht rechtzeitig aufgedeckt habe. Die Ursachen für das Versagen identifizierte Ulbricht insbesondere in der Distanz zum Parteiapparat und in der Vernachlässigung seiner »Hauptaufgabe«, des Kampfes gegen die »faschistische Untergrundbewegung«.

Die Staatssicherheit wurde formal zu einem Staatssekretariat im Ministerium des Innern zurückgestuft. Das war zwar schon beschlossen worden, als Zaisser noch fest im Sattel saß, und der Beschluss trug zu diesem Zeitpunkt nicht den Charakter einer Strafmaßnahme, sondern war als Angleichung an die entsprechenden institutionellen Strukturen in der Sowjetunion und anderen Staaten des kommunistischen Lagers gedacht.26 Zum Zeitpunkt, als die Strukturveränderung offiziell umgesetzt wurde, nämlich am 23. Juli,27 musste sie jedoch als Maßregelung erscheinen. Der gleichzeitig zum Staatssekretär für Staatssicherheit berufene Ernst Wollweber, ehemaliger Staatssekretär für Schifffahrt, der sich in der Weimarer Zeit als revolutionärer Haudegen und kommunistischer Politiker einen Namen gemacht hatte und später im skandinavischen Exil Sabotagespezialist des NKWD gewesen war,28 musste die Staatssicherheit im Lichte der Parteikritik neu ordnen. Das bedeutete eine stärkere Anbindung an den Parteiapparat, die Ausweitung des inoffiziellen Netzes insbesondere in den Bereichen, die sich als Brennpunkte der Aufstandsbewegung erwiesen hatten,29 und die Implementierung einer offensiveren Arbeit, die auf eine Zerschlagung erkannter westlicher Verbindungen in der DDR zielte und im Herbst 1953 in die Praxis der »konzentrierten Schläge«, das heißt in großangelegte Verhaftungsaktionen gegen Kontaktleute westlicher Geheimdienste und politischer Organisationen, mündete. Die SED-Führung war in diesem Prozess der Neuausrichtung der Staatssicherheit nicht die einzige maßgebende Instanz, eine noch entscheidendere Rolle spielte die sowjetische Geheimpolizei, die in Gestalt von Beratern im SfS-Apparat auf allen Ebenen präsent war und den Veränderungsprozess konzeptionell anleitete.30

Eine entscheidende organisatorische Folge des 17. Juni und der sich anschließenden Kritik der Parteiführung war die Schaffung eines täglich aktuellen Berichtswesens mit festen Strukturen in der Staatssicherheit, das den Machthabern als ein Frühwarnsystem im Hinblick auf eine zukünftige herrschaftsgefährdende Situation dienen sollte. Die Themen der Berichterstattung und die Art ihrer Behandlung sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Bei der Einschätzung der Berichte ist daher zu berücksichtigen, dass die Staatssicherheit bei der Information der politischen Führung bemüht war, ihr Versagen am 17. Juni wiedergutzumachen. Bemerkenswerterweise blieb sie dabei jedoch keineswegs in der parteioffiziellen Deutung des Juni-Aufstandes als eines von »westlichen Agenturen« gesteuerten »faschistischen Putschversuchs« befangen, sondern berichtete über weite Strecken relativ wirklichkeitsnah über Stimmungen und Missstände. Die Berichterstattung über die eigentliche »Feindtätigkeit« spielte in den Meldungen eher eine untergeordnete Rolle.

2. Ausgewählte Themenfelder der Berichte

2.1 Der Volksaufstand

Die aus den laufend eingehenden Meldungen gefertigten Lageberichte zum Juni-Aufstand sind überwiegend knapp gehalten und liefern daher kaum Details zum Geschehen. Sie geben Momentaufnahmen wieder, keine abschließende Bestandsaufnahme oder Bewertung der Ereignisse. Ihre Vorläufigkeit wird dadurch unterstrichen, dass sie neben dem Datum teilweise eine Uhrzeitangabe tragen. Entsprechend unvollständig sind auch die Zahlenangaben zu Toten, Verletzten und Verhafteten. Auch sonstige Angaben sind manchmal ungenau oder sogar fehlerhaft, weil die zugrundeliegende telefonische oder telegrafische Übermittlung der Primärinformationen Fehlerquellen in sich barg und für eine Überprüfung der Meldungen keine Zeit vorhanden war.

Trotzdem lässt sich anhand dieser Berichterstattung ein Eindruck von der geographischen Ausbreitung und der zeitlichen Entwicklung des Juni-Aufstandes gewinnen. Die langsame Normalisierung der Lage ab dem 18. Juni mit Ausnahme der Küstenstädte, wo die Unruhen an diesem Tag erst richtig aufflammten, ist nachvollziehbar. Es wird deutlich, dass die Streiks teilweise noch tagelang anhielten. So meldet die »Information Nr. 3« vom 21. Juni, dass in den Bau-Unionen noch immer nur die Hälfte der Belegschaft arbeite, im Elektromotorenwerk Wernigerode sogar nur 5 %.31

Auch in dieser frühen Phase wird bereits über die Stimmung in der Bevölkerung berichtet, überwiegend durch die Wiedergabe von Einzelzitaten. Eine Verallgemeinerung oder Gewichtung der unterschiedlichen Äußerungen unterbleibt zumeist, nur in einem Lagebericht über den 18. Juni findet sich die bilanzierende Aussage: »Ein nicht unbedeutender Teil der Arbeiter sympathisiert zweifellos mit den Streikenden, verwirft aber gleichzeitig das verbrecherische Vorgehen.«32

Immerhin benennt das MfS die Einschüchterung der Bevölkerung als Schwierigkeit bei der Ermittlung der tatsächlichen Stimmung: »Über die Verhaftungen der Streikleitungen und Provokateure« finde »unter den Werktätigen keine allzu starke Diskussion statt«. Dies sei darauf zurückzuführen, dass »eine gewisse Furcht« herrsche, dass diejenigen, die sich gegen die Verhaftung »dieser Aufrührer« aussprächen, »ebenfalls als Provokateure betrachtet« würden.33

Bemerkenswert ist, dass sich die Staatssicherheit nicht scheute, direkt und indirekt Kritik an der Untätigkeit der Partei zu üben. So betonte sie am 20. Juni, es sei dringend erforderlich, »dass die Agitationsarbeit in den Betrieben und Häusern mit den Werktätigen verstärkt« werde. Von Werktätigen werde geäußert, dass sie besonders am 17. Juni auf ein Flugblatt des Politbüros gewartet oder erwartet hätten, dass ein Mitglied des Politbüros »zu den Fragen Stellung« nimmt, um »die feindlichen Provokateure zu entlarven und die Kampfaufgaben zu stellen«.34

Obwohl die Staatssicherheit selbstkritisch feststellen musste, dass ihre »Informationen über die Lage auf dem Lande ungenügend« seien, »weil unsere Mitarbeiter in den Städten sehr stark beansprucht werden«, lieferte sie aus der Zeitphase des Aufstandes zwei entsprechende Berichte,35 von denen der erste neben Meldungen über Auflösungserscheinungen bei den LPG auch Informationen über die Bauernunruhen in Jessen und Mühlhausen am 17. Juni enthält. Obwohl er nicht sehr ausführlich ist, wurde er immerhin für so wichtig gehalten, dass er im ZK-Apparat vervielfältigt wurde.36

Der letzte Bericht, der nach dem Muster der Lageberichte zum 17. Juni gefertigt war, wurde am 22. Juni verfasst. Zu diesem Zeitpunkt hielt das MfS den Aufstand offensichtlich für endgültig beendet und ging zu Tagesberichten über, deren Konzeption von einer relativen Normalisierung der Lage ausging.37

2.2 Entwicklung der allgemeinen Stimmungslage

Eine Stärke der Berichterstattung des Jahres 1953 zeigt sich bei der Wiedergabe von Stimmungen, die einen sehr großen Raum einnimmt und häufig außerordentlich authentisch wirkt, was daran liegt, dass Äußerungen durchweg mehr oder weniger wörtlich zitiert werden. Die spätere Scheu, »feindliche« Meinungsbekundungen im Originalton zu reproduzieren, ist hier noch nicht vorhanden. So wird unmittelbar nach dem Juni-Aufstand ein Bauarbeiter aus Prenzlau mit der Äußerung zitiert, Grotewohl und Ulbricht sollten »sich die Brust waschen und fertig machen zum Erschießen«.38 Noch am 31. Juli wird aus einer Blocksitzung in der Gemeinde Karnin, Kreis Stralsund, gemeldet, die Vertreter der Blockparteien CDU, NDPD und DBD lehnten Ulbricht als SED-Chef ab, weil er »auch heute noch mit der verhassteste Mensch in der DDR« sei.39

Ein Schneidermeister aus Weimar wird mit folgendem Ausspruch zu den Inhaftierungen von Spitzenfunktionären zitiert: »1950 hat man Merker,40 Kreikemeyer41 und andere verhaftet, sie wurden nie verurteilt. Dann kamen 1952/53 Hamann42 und Dertinger43 in die roten Haftzellen, auch ohne bisher verurteilt worden zu sein, Fechner folgte ihnen. Dem Schwein schadet es zwar nichts, denn er hat viele anständige Menschen auf dem Gewissen. Aber auch ihn wird man nicht aburteilen, die Menschen verschwinden alle auf Nimmerwiedersehen. Das Regime weiß genau, dass es Schiffbruch erleiden würde, wenn es die Urteile bekannt geben und begründen soll.«44

Als Otto Grotewohl auf einer Volkskammersitzung am 27. Juli verkündete, die DDR würde die Bundesrepublik im Hinblick auf den Lebensstandard bald überrundet haben und diese Sequenz in den Kino-Wochenschauen »Der Augenzeuge« gezeigt wurde, berichtete die Staatssicherheit aus den unterschiedlichsten Orten, dass in den Vorstellungen »bei diesen Worten ein lautes und höhnisches Gelächter« ausbreche.45

Nach den inszenierten Regierungsverhandlungen zwischen der Sowjetunion und der DDR und der Veröffentlichung des sowjetisch-deutschen Kommuniqués vom 23. August, das immerhin nicht unerhebliche sowjetische Konzessionen enthielt, die durchaus populär waren, wie der Verzicht auf Reparationen, zusätzliche Warenlieferungen und die Entlassung deutscher Kriegsgefangener, veranstaltete die SED in Berlin eine große Kundgebung, zu der sie versuchte, insbesondere in den Großbetrieben zu mobilisieren. Dem betreffenden Bericht ist zu entnehmen, wie widerwillig die Belegschaften mitmachten. Die Beteiligung sei in einigen Betrieben gering gewesen. Es habe der Eindruck bestanden, dass die Teilnehmer nur aus Pflichtgefühl mitmachten. Zahlreiche Personen hätten sich noch vor Erreichen des Kundgebungsplatzes entfernt. Bei der Ansprache des Ministerpräsidenten Grotewohl habe der größte Teil der Anwesenden zwar noch aufmerksam zugehört, doch während der anschließenden Rede von Ulbricht habe »wieder ein starkes Gehen« eingesetzt, wobei »unter den abgehenden Personen sich ein großer Teil von Genossen befanden«. Zum Schluss der Kundgebung seien nur noch 10 000 Personen auf dem Platz gewesen, was nur einem knappen Zehntel der ursprünglich mobilisierten Kundgebungsteilnehmer entsprach.46

Es findet sich jedoch von Anfang an auch die MfS-typische stereotype Zurückführung SED-kritischer Ansichten auf westliche Beeinflussung. Das gilt gerade auch für die Situation während des Aufstandes, als das MfS im Meinungsbild »bei verschiedenen Teilen der Bevölkerung eine gewisse Einheitlichkeit« konstatiert und das als Indiz dafür deutet, dass die Meinungen »von westlichen Agenturen in die Bevölkerung hineingetragen wurden«.47 Eine besondere Rolle spielen dabei Hinweise auf den Einfluss von RIAS-Sendungen, die sich durch den gesamten Berichtsjahrgang ziehen. Immer wieder wird die Identität »feindlicher« Äußerungen mit den »RIAS-Parolen« festgestellt. Allerdings wird auch deutlich, wie populär der RIAS in der DDR-Bevölkerung als Alternative zu den SED-gelenkten Medien war. Sogar der 1. Sekretär der SED-Gebietsleitung der Wismut AG, Günther Röder, wird mit der offenbar unmittelbar nach dem 17. Juni gemachten Äußerung zitiert: »Ich bin gezwungen den RIAS zu hören, die Parteiführung lässt uns voll und ganz im Stich. Ich höre jetzt RIAS, damit ich meine Arbeit danach einstellen kann und damit ich endlich weiß, was los ist.«48

Bemerkenswert ist, dass sich die Staatssicherheit gerade in den Wochen nach dem Juni-Aufstand bei ihrer Stimmungsberichterstattung durchaus um ein methodisches Vorgehen bemühte. Im Tagesbericht vom 26. Juni heißt es: »Um einen Schlüssel bzw. um einen Anhaltspunkt für die prozentuale Einstellung der Bevölkerung zu unserer Regierung und den Maßnahmen zu bekommen, wurden absolut von staatlichen Stellen unbeeinflusste Unterhaltungen durchgeführt. Die Methode der Unterhaltung wurde gewählt, damit bei der Befragung auch nicht die leiseste Befürchtung einer evtl. Benachteiligung bei offener Aussprache entstehen konnte.« Ob diese Vorkehrung ausreichte, um ein realistisches Bild zu bekommen, darf angesichts des Ergebnisses bezweifelt werden. Das MfS sammelte mit dieser Methode bei der Befragung von 200 Personen in Ostberlin rund 75 % »positive« und 25 % »negative« Stellungnahmen, während sich bei den 200 Personen, die in den Bezirken befragt wurden, 60 % »negativ« und nur 40 % »positiv« äußerten.49

Knapp zwei Wochen später ermittelte das MfS mit diesem Verfahren an zwei aufeinanderfolgenden Tagen insgesamt ein Verhältnis der positiven zu den negativen Stimmen von 60 % zu 40 % und stellte befriedigt fest, dass »gegenüber dem Resultat früherer Befragungen bereits eine Verschiebung zugunsten der positiven Stimmen eingetreten« sei, was »sich zweifellos bei guter Durchführung der Ministerratsbeschlüsse besonders im Hinblick auf die Versorgung der Bevölkerung fortsetzen werde«.50 Weitere zehn Tage später fertigte die Staatssicherheit schließlich einen Bericht, der das Verhältnis von positiven und negativen Stimmen über den Zeitraum vom 12. bis zum 17. Juli auflistete und einen durchschnittlichen Wert von 62 % positiven zu 38 % negativen Stimmen sowie einen weiteren positiven Trend feststellte.51

Die Aussagekraft dieser Werte dürfte sehr begrenzt sein, aber eine gewisse Beruhigung der Lage scheint gegen Ende Juli durchaus eingetreten zu sein – das legt die Berichterstattung auch jenseits der Zahlen nahe. In dieser Situation lief die US-amerikanische Lebensmittelhilfe für die DDR an, die von Dwight D. Eisenhower als Element der »Psychologischen Kriegsführung« durchaus in destabilisierender Absicht beschlossen worden war.52 Die Lebensmittelpakete, die an Westberliner Verteilerstellen von Mitarbeitern der Senatsverwaltung sowie der Ostbüros und der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit ausgegeben wurden, fanden bei Ostberlinern und DDR-Bürgern sofort regen Zuspruch. Bei der ersten Aktion, die vom 27. Juli bis zum 27. August lief, wurden 2 700 000 Pakete verteilt. Es schloss sich unmittelbar eine zweite Aktion an, bei der bis zum 10. Oktober weitere 2 800 000 Pakete zur Verteilung kamen.

Für die SED-Führung und die Sowjetunion, die mit dem »Neuen Kurs« beweisen wollten, dass sie der DDR-Bevölkerung attraktive Lebensverhältnisse bieten konnten, war der Run auf die »Bettelpakete« ein politisch-psychologisches Problem erster Ordnung. Um den Zuspruch für die US-Lebensmittelaktion einzudämmen, wurde deshalb in der Nacht vom 1. auf den 2. August der Verkauf von Fahrkarten nach Berlin eingestellt, außerdem wurde der Besitz von mehr als einem Personalausweis bzw. die Weitergabe von Personalausweisen an eine andere Person unter Strafe gestellt – Ostberliner und DDR-Bürger hatten, ausgestattet mit fremden Personalausweisen, in großem Stil Pakete für Verwandte und Bekannte abgeholt. Schließlich wurden Reisende in und um Berlin nach »Bettelpaketen« durchsucht und diese beschlagnahmt.53 Entdeckte »Paketabholer« wurden teilweise öffentlich an den Pranger gestellt und aus ihren Betrieben entlassen. Erst durch diese repressiven Maßnahmen – das zeigen die entsprechenden SfS-Berichte recht deutlich – wurde die »Paketaktion« für die DDR zu einem echten politischen Problem.

Aus dem Reichsbahnausbesserungswerk Brandenburg-West (Kirchmöser) wurden beispielsweise am 4. August »sehr heftige Diskussionen über die Westpakete« gemeldet, nachdem »Arbeitern, die nur durchschnittlich 300 DM verdienen«, die Pakete abgenommen worden waren. Ein SED-Mitglied gab sein Parteidokument demonstrativ zurück, nachdem ihm in der Nacht ein Paket, das er für seine Tochter geholt hatte, durch Parteiaktivisten beschlagnahmt worden war. Die allgemeine Stimmung sei, »dass man das Vertrauen zur Partei restlos verloren hat«. Wenn die Partei jetzt noch etwas wolle, solle sie sofort eine 50%ige Preissenkung bei den HO-Lebensmitteln durchführen.54

Die Organisierung künstlicher Empörung gegen die Paketabholer und die Inszenierung der Zustimmung zu ihrer Entlassung scheiterte in den Betrieben oftmals am Widerstand der Belegschaften. Solche Fälle wurden von der Staatssicherheit aus dem Reichsbahnamt Rostock55 oder vom Bahnhof Neubrandenburg berichtet.56 Am Bahnhof Potsdam-Babelsberg kam es laut SfS-Bericht am 1. September nach der Beschlagnahme von Lebensmittelpaketen sogar »zu einer Zusammenrottung von ca. 400–500 Personen«, die von der Volkspolizei zerstreut werden musste.57

Die US-Lebensmittelaktion und ihre Auswirkungen machten deutlich, dass die Lage in der DDR in den Monaten nach dem Juni-Aufstand noch ziemlich instabil war. Repressive Maßnahmen konnten in dieser Situation nur dosiert eingesetzt werden, und so versuchten die Machthaber ihre Position durch zahlreiche Konzessionen insbesondere sozialpolitischer Art zu stärken, die mit großem propagandistischem Aufwand verkauft wurden. Die sowjetische Politik spielte dabei eine maßgebliche Rolle.

Vom 20. bis zum 22. August 1953 wurden in Moskau »Regierungsverhandlungen« zwischen der Sowjetunion und der DDR inszeniert, die mit der Veröffentlichung eines sowjetisch-deutschen Kommuniqués endeten, das neben einer deutschlandpolitischen Initiative weitreichende politische Konzessionen an die DDR ankündigte. Weitgehend auf der altbekannten deutschlandpolitischen Linie der Sowjetunion lag der Vorschlag zur Einberufung einer Friedenskonferenz, diesmal unter Beteiligung der »Vertreter Deutschlands«, die zur Bildung einer provisorischen gesamtdeutschen Regierung führen sollte, deren Hauptaufgabe es sei, »freie gesamtdeutsche Wahlen vorzubereiten und durchzuführen«. Für die Bevölkerungsstimmung entscheidender dürften jedoch die konkreten Zugeständnisse an die DDR gewesen sein – wie der Verzicht auf die Reparationsverpflichtungen, die Überführung der noch bestehenden Sowjetischen Aktiengesellschaften in DDR-Eigentum, die Senkung der Zahlungsverpflichtungen für den Unterhalt der sowjetischen Truppen in der DDR, ein Schuldenerlass und zusätzliche Warenlieferungen für das laufende Jahr im Werte von etwa 590 Mio. Rubel sowie ein Kredit über 485 Mio. Rubel. Für die Bevölkerungsstimmung von großer Bedeutung war insbesondere die Ankündigung der Entlassung deutscher Kriegsgefangener, die bis dahin noch in der Sowjetunion festgehalten wurden.58

Die SfS-Berichte vermitteln den Eindruck, dass die Stimmung durch dieses Maßnahmenbündel tatsächlich positiv beeinflusst wurde und auch die flankierende Propaganda recht erfolgreich war. In Görlitz etwa, einer Hochburg des Juni-Aufstands, gelang die Mobilisierung von 10 000 »Werktätigen« für eine Demonstration, bei der Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion bekundet wurde. Im Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf, ebenfalls ein Brennpunkt des 17. Juni, sei – so der Bericht – in einer Versammlung der Lehrlingsausbilder und der Verwaltung der Verlesung des Kommuniqués Beifall gespendet worden, »eine solch beifällige Aufnahme irgendwelcher Dokumente« sei »dort noch nie zu verzeichnen gewesen«. Auch die Ingenieure und Techniker des Berliner Entwicklungsbüros für Industrie und Bau hätten »zum ersten Mal positiv über eine solche Maßnahme« diskutiert.59

Trotzdem ist unverkennbar, dass die SED auch noch sozialpolitische Konzessionen »nachlegen« musste, um die Bevölkerungsstimmung zu stabilisieren. Zu diesen Maßnahmen zählte die Senkung der Steuern für die unteren und mittleren Einkommen am 15. Oktober,60 die in der Bevölkerung natürlich überwiegend begrüßt wurde. Ein neuralgischer Punkt blieben allerdings noch die Preise der (ohne Lebensmittelkarten) in den HO-Läden frei verkäuflichen Waren. Die teuren HO-Preise waren eines der Themen gewesen, die im Juni-Aufstand eine Rolle gespielt hatten, und sorgten auch noch in den Monaten danach für negative Stimmungen. Ende Juli waren bereits die Preise für einige Güter herabgesetzt worden.61 Doch die Bevölkerung erwartete Preissenkungen auf breiterer Front, vor allem bei Gütern, die für das Budget von Geringverdienerhaushalten eine größere Rolle spielten. Solche Preissenkungen bei HO-Waren hatte es in den vergangenen Jahren wiederholt gegeben.62 Ulbricht nahm das Thema in seiner Grundsatzrede auf der 16. Tagung des ZK am 17. September auf und kündigte für 1954 das Ende der Rationierung und eine Senkung der Preise an.63

Die Stimmungsberichte zeigen jedoch sehr klar, dass die Bevölkerung weithin enttäuscht auf die Ankündigung Ulbrichts reagierte, weil man eine Preissenkung allgemein schon für das Jahr 1953 erwartet hatte. Die SED-Führung lenkte bereits fünf Wochen später ein und verkündete eine große Preissenkung bei zahlreichen Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs.64 Die Staatssicherheitsberichte melden durchgängig positive, teilweise enthusiastische Reaktionen. Die Preissenkung werde besonders »von den Werktätigen und Hausfrauen […] freudig begrüßt«. Es sei »ein wesentlicher Umschwung in der Haltung der Werktätigen erzielt« worden. In den Betrieben zeige sich »eine größere Arbeitsfreudigkeit und Bereitschaft mitzuhelfen am neuen Kurs«. Das Vertrauen zu Partei und Regierung habe sich wesentlich gefestigt. Selbst unter den werktätigen Bauern zeige sich »eine Besserung in ihrer Meinung zur Politik der Regierung, obwohl aus diesen Kreisen noch die meiste Unzufriedenheit kommt«. »Dass der Umschwung besonders unter den Arbeitern erzielt« worden sei, bewiesen »die umfangreichen Produktionsverpflichtungen, Normenerhöhungen und vielen Sonderschichten, besonders in den Schwerpunktbetrieben«.65

Auch wenn diese Darstellung etwas übertrieben wirkt und von Floskeln der SED-Propaganda geprägt ist, wird man diesen Feststellungen – vor dem Hintergrund zeitgleicher, durchaus nicht geschönt wirkender Meldungen – nicht jeglichen Realitätsbezug absprechen können. Die sozialpolitischen Maßnahmen, die im Übrigen eine erhebliche wirtschaftliche Belastung für die DDR darstellten,66 scheinen – neben den wieder besser greifenden Disziplinierungsmechanismen – durchaus einen Anteil an der Beruhigung der Lage zum Ende des Jahres 1953 gehabt zu haben.

2.3 Arbeiterschaft zwischen Aufbegehren und Anpassung

Ein Aspekt des 17. Juni war für die SED-Machthaber besonders schmerzhaft, weil er den Kern ihres politischen Selbstverständnisses infrage stellte: Neben den Bauarbeitern waren es die Arbeiter der größeren volkseigenen Industriebetriebe, die das Geschehen in den meisten Aufstandszentren durch Streiks und Demonstrationen ausgelöst hatten und das Rückgrat der Bewegung bildeten.67 Die »Arbeiterklasse«, in deren Namen die Staatspartei vorgab zu herrschen, hatte sich gegen sie gewandt. Es entsprach somit durchaus auch einer rationalen Schwerpunktsetzung, dass die Beschäftigung mit der Lage in den Betrieben in der Berichterstattung einen zentralen Platz einnahm.

Linientreue Funktionäre hatten in den Betrieben auch noch Wochen nach dem Aufstand einen außerordentlich schweren Stand. Im Tagesbericht vom 7. Juli 1953 wird diese Situation mit den Worten geschildert, »wenn auch nur eine Person sozusagen im Auftrag der Belegschaft in Versammlungen gegen unsere Regierung hetzt, diese den überwiegenden Teil der Belegschaft auf seiner Seite hat«.68 Zur Erläuterung schildert der Bericht anschließend die Lage im Kraftwerk Klingenberg, in dem alle SED-konformen Äußerungen »mit allgemeinem Gelächter aufgenommen« würden und unter anderem »scharf gegen unsere Justiz Stellung genommen« werde, »mit dem Bemerken, dass die Urteile […] schon vor der Verhandlung fertig seien«. Gerichtsverhandlungen würden »nur der Form halber durchgeführt«.69

Noch Anfang August wird ein Schlosser aus dem Braunkohlenkombinat Gölzau im Bezirk Halle mit der Äußerung zitiert: »Warum kommt ihr Funktionäre jetzt so oft in den Betrieb? Ihr wollt doch nur wissen, wie die Stimmung der Kollegen gegenüber der Regierung und SED ist und welche Forderungen gestellt werden.« Auf die Frage, welche Forderungen das denn seien, antwortete er laut Bericht: »Sturz der Regierung, einheitliche und freie Wahlen für ganz Deutschland, Zulassung der einzelnen Parteien, Freilassung der politischen Häftlinge, Absetzung der Hilde Benjamin und Trennung der Gewerkschaft von der SED70

In einigen Großbetrieben war die Stimmung wochenlang so explosiv, dass ein Wiederaufflammen des Aufstandes alles andere als ausgeschlossen erschien. Als das SED-Politbüromitglied Fred Oelßner zum Beispiel am 26. Juni auf einer Belegschaftsversammlung in den Buna-Werken in Schkopau auftrat, hatte er mit einer durchweg feindseligen Stimmung zu kämpfen. Der Bericht schildert, nach seinem Referat hätten »mehrere Belegschaftsmitglieder hetzerische Reden gegen die DDR und die Volkspolizei« gehalten, »die von den übrigen Teilnehmern größtenteils beifällig aufgenommen« worden seien. Oelßners Schlusswort sei mehrfach »durch provokatorische Zwischenrufe und Lachen unterbrochen« worden und die vom Sekretär der Betriebsparteiorganisation eingebrachte Resolution, mit der eine Distanzierung »von den Brandstiftern« zum Ausdruck gebracht werden sollte, habe man »mit großer Stimmenmehrheit« abgelehnt.71

Im Juli setzte dann eine regelrechte betriebliche Streikwelle ein, die vor allem einige wichtige Großbetriebe wie Zeiss, Buna und Leuna erfasste. Den Anfang machte Carl Zeiss Jena. Am 10. Juli berichtete das MfS von einer Versammlung des Gewerkschaftsaktivs vom Vortag, die aus SED-Sicht völlig aus dem Ruder gelaufen war.72 Der anwesende Vorsitzende der IG Metall im FDGB, Hans Schmidt, der das Hauptreferat hielt, hatte das nicht verhindern können, was ihm später als »versöhnlerische Haltung« zum Vorwurf gemacht wurde und ihn seine Funktion kostete.

Der zentralen Gewerkschaftsversammlung waren Versammlungen in den einzelnen Abteilungen vorausgegangen, auf denen die Delegierten für das zentrale Gewerkschaftsaktiv gewählt und verschiedene Forderungskataloge verabschiedet worden waren. Die Forderungen reichten von der Aufhebung der Nachtschicht, der Abschaffung des Prämiensystems und der Wiedereinführung des alten Zeiss-Statuts über Steuer- und Preissenkungen bis hin zur Freilassung aller Inhaftierten des 17. Juni, freien geheimen Wahlen, Wegfall der Zonengrenzen und »Freigabe der Ostgebiete«.73 Die Staatssicherheit berichtete, auf der Gewerkschaftsaktivtagung hätten die meisten Redner »negativ im Sinne der gestellten Forderungen« diskutiert und die Diskussionsredner der SED seien »mit Johlen und Pfeifen empfangen« worden.74 Eines der Hauptanliegen sei die sofortige Freilassung des zu zwei Jahren Haft verurteilten Gewerkschaftsgruppenorganisators und Streikführers Eckhard Norkus gewesen, für die im Betrieb bereits 1 300 Unterschriften gesammelt worden seien. »Bisher unbekannte Kräfte« hätten für den Fall, dass einer Haftentlassung nicht stattgegeben werde, einen Sitzstreik für den 10. Juli angekündigt. Hier zeige sich, »dass die Stimmung und Situation in unseren Betrieben noch großer Aufmerksamkeit bedarf«.75 Am 11. Juli fand dann tatsächlich ein Streik für die Freilassung von Norkus statt, an dem sich 1 500 bis 2 000 Betriebsangehörige beteiligten. Am gleichen Tag kamen der sowjetische Stadtkommandant von Jena, der Sekretär der SED-Bezirksleitung Gera, Werner Aßmus, und der Bezirksstaatsanwalt, Herbert Wolf, beim Werksleiter von Zeiss, Hugo Schrade, mit den vom Streik betroffenen Betriebsleitern und Abteilungsleitern sowie dem 1. Sekretär der Betriebsparteiorganisation, Fritz Wolf, zusammen, um diesen aufzuzeigen, »in welcher Form sie den streikenden Arbeiten entgegentreten sollen«.76

Am gleichen Tag berichtete die Staatssicherheit von der Verabschiedung eines ähnlichen Forderungskatalogs beim VEB ABUS Maschinenbau Nordhausen.77 Hier griff die Staatsmacht sofort ein, der für den Forderungskatalog verantwortliche Gewerkschaftsgruppenorganisator Otto Reckstatt wurde am 17. Juli verhaftet.

Als es Mitte Juli auch bei Buna in Schkopau zu einem Streik kam, war das für die Staatssicherheit am 23. Juli der Anlass, einen ausführlichen Bericht mit vier Anlagen zu fertigen, in dem die gesamte Entwicklung in diesem Betrieb seit Mitte Juni unter die Lupe genommen wurde.78 Der am 14. Juli ausgebrochene Streik zog sich über vier Tage hin. Es wurde eine Vielzahl von betrieblichen, tariflichen, sozialpolitischen und allgemeinpolitischen Forderungen aufgestellt.79 Da sich die Karbidfabrik am Streik beteiligte und alle acht Karbidöfen abgestellt wurden, mussten die an die Karbidproduktion angeschlossenen Betriebe die Arbeit ebenfalls niederlegen, was dazu führte, dass mehr Produktionsbereiche stillstanden als am 17. Juni. Bemerkenswert an der Berichterstattung zu Buna ist ihre Detailfreude, in den Anlagen finden sich die Forderungskataloge der Belegschaften verschiedener Teilbetriebe,80 eine Liste mit 70 Belegschaftsangehörigen, die seit dem 17. Juni aus der SED ausgetreten waren,81 sowie ausführliche Darlegungen zur Rolle der Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre des Betriebs82 und, was außergewöhnlich ist, eine genaue und teilweise durchaus selbstkritische Analyse der eigenen Rolle.83

Die Ereignisse bei Buna waren Anlass zu der Befürchtung, die Unruhe könnte auch auf die nur wenige Kilometer entfernten Leuna-Werke übergreifen. Tatsächlich gab es in einem Teilbetrieb von Leuna einen kleinen Streik, der aber im Keim erstickt wurde. Doch auch dies war der Anlass zu einem längeren Bericht, der eine Bestandsaufnahme der Lage im Betrieb seit dem 17. Juni zum Inhalt hatte.84 Interessant ist vor allem die Anlage zu diesem Bericht, in der die Rolle der SED-Parteiorganisation in den Leuna-Werken kritisch behandelt wird. Insbesondere, dass die SED-Kreisleitung sich außerstande sah, einen Forderungskatalog vom schwarzen Brett zu entfernen, in dem unter anderem der Rücktritt der Regierung, freie Wahlen und die Absetzung der Betriebsgewerkschaftsleitung gefordert wurden, zog die Kritik der Staatssicherheit auf sich. Am Ende steht das Fazit: »Die Parteileitung hat es bis heute noch nicht verstanden, die gesamte Mitgliedschaft der SED im Betrieb zu mobilisieren, sondern lässt die Angriffe der Intelligenz und anderer negativer Elemente des Betriebes über sich ergehen.« Karl Hertel, der 1. Sekretär der betrieblichen SED-Kreisleitung in Leuna, wurde wenig später wegen »kapitulantenhaften Verhaltens« seiner Funktion enthoben.85

Ausführlich berichtete die Staatssicherheit auch – gleichsam in eigener Sache – über einen Protest der Belegschaft des VEB Maschinenfabrik NEMA in Netzschkau, Kreis Reichenbach, die durch das Verhalten des amtierenden MfS-Kreisdienststellenleiters von Reichenbach ausgelöst worden war.86 Der Vorfall ist sehr aufschlussreich und soll daher hier ausführlich geschildert werden. Der MfS-Offizier hatte einen Arbeiter, den er als »Provokateur« im Betrieb festnehmen wollte, laut und vernehmlich aufgefordert »mitzukommen und kein großes Aufsehen zu machen«, sonst bekäme »er etwas zwischen die Rippen gejagt«. Daraufhin stellten die Arbeiter der betreffenden Produktionshalle die Arbeit ein, begaben sich geschlossen vor das Verwaltungsgebäude und forderten von der Betriebsparteileitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung eine Erklärung zu diesem Vorfall. Der festgenommene Arbeiter wurde wieder freigelassen und bestätigte den Versammelten den Ausspruch des Kreisdienststellenleiters. Jetzt legten auch die anderen Betriebsbereiche die Arbeit nieder und versammelten sich ebenfalls auf dem Werkhof.

Vom Kreisdienststellenleiter – so der Bericht – wurde eine Stellungnahme gefordert, in der er bestätigte, diesen Ausspruch tatsächlich gemacht zu haben, »was unter Johlen und Grölen von den Arbeitern aufgenommen wurde«. In die Enge getrieben behauptete er zudem, er habe den betreffenden Arbeiter nur zu einem Brand im benachbarten Foschenroda befragen wollen und stellte unter dem Druck der Versammelten eine schriftliche Bescheinigung aus, dass gegen den Arbeiter nichts Belastendes vorliege und er nicht verhaftet werde. Die Belegschaft drohte, dass sie sofort in den Streik treten würde, wenn es doch zu einer Verhaftung käme. Schließlich verfassten die Betriebsparteileitung und die Betriebsgewerkschaftsleitung ein Schreiben an Ulbricht (im MfS-Bericht wörtlich dokumentiert), in dem festgestellt wurde, »dass das nicht der neue Kurs der Regierung« sei, wenn »man einfach Arbeiter grundlos vom Arbeitsplatz verhaftet und sie mit unflätigen Worten bedroht«. Mit diesen »Gestapo-Methoden« seien die Kollegen »nicht mehr einverstanden, sie lehnen dieselben konsequent ab«. Als Folge wurde die Entlassung des Kreisdienststellenleiters gefordert.

Die Berichte verdeutlichen, dass es den Machthabern erst Ende Juli gelang, die Situation in den Betrieben langsam wieder unter Kontrolle zu bringen. Dabei spielte die Entfernung von SED-kritischen Wortführern, in den Quellen durchweg »Provokateure« genannt, eine große Rolle. Dies wurde häufig tribunalartig, unter Beteiligung der Betriebsbelegschaften, organisiert, um den Maßnahmen einen demokratischen Anstrich zu geben. Unter der Regie der Betriebsparteiorganisationen wurde in Betriebsversammlungen über die Entlassung der »Provokateure« abgestimmt, doch funktionierte diese inszenierte Unterwerfung der Belegschaften unter das SED-Regiment nicht immer reibungslos. Trotz großen Drucks und des Risikos für den Einzelnen, bei Unbotmäßigkeit selbst zum »Provokateur« gestempelt zu werden, kam es hierbei bis weit in den September hinein immer wieder zu Verweigerungen. Im Kalk- und Zementwerk Rüdersdorf stimmten zum Beispiel noch in der zweiten Septemberhälfte 70 % der Belegschaft gegen die Entlassung der gebrandmarkten Kollegen.87 Wenig später sprach sich auch in der Abteilung Verkehr des Stahlwerkes Riesa eine Mehrheit gegen die Entlassung eines Kollegen aus.88 Noch Ende September musste das SfS konstatieren, dass »die Entlarvung und Entlassung von Provokateuren« noch oft »durch versöhnlerische Tendenzen« großer Teile der Betriebsbelegschaften gehemmt werde.89 Zudem berichtete die Staatssicherheit auch über unerwünschte Nebeneffekte der Kampagne. »Ein ernstes Zeichen« sei »die gedrückte Stimmung in Suhler Betrieben«. Ein »Propagandist« habe berichtet, »dass die meisten Arbeiter, ja selbst Genossen, überhaupt nichts mehr sagen, weil sie durch die Entlassung von Provokateuren eingeschüchtert worden seien«. »Das werde sich auch im Parteilehrjahr auswirken, wo man kaum mit offenen und ehrlichen Diskussionen rechnen könne.«90

Noch bis weit in den Herbst hinein äußerte sich betrieblicher Protest auch in der Verweigerung der Zahlung von FDGB-Mitgliedsbeiträgen. Bereits mit dem 17. Juni waren diese Zahlungen verbreitet eingebrochen. Anfang August meldete die Staatssicherheit zum Beispiel, dass im Bereich des Post- und Fernmeldewesens Stendal seit dem Juni-Aufstand keine FDGB-Beiträge mehr gezahlt worden seien. Die Begründung lautete, der FDGB sei »keine Kampforganisation« und habe den Streik am 17. Juni nicht organisiert, »sondern unterdrückt«.91 Im Braunkohlenwerk Greifenhain, wo zuvor monatlich ca. 5 000 DM Beiträge kassiert worden waren, seien für den Monat Juli nur 500 DM eingezahlt worden.92

Die Verweigerung von Beitragszahlungen mit der Begründung, der FDGB vertrete nicht die Interessen der Arbeiter, war weit verbreitet. Das SfS meldete Ende August massiv ausbleibende Beiträge unter anderem aus den Kreisen Schmölln und Eilenburg, dem Kunstseidewerk Premnitz, dem Karl-Marx-Werk Babelsberg und dem Schlepperwerk Brandenburg.93 Im Bezirk Magdeburg seien im August 893 098 DM kassiert worden, im Vergleich zu den 1 332 595 DM vom April 1953. Das Problem konzentriere sich insbesondere auf die Magdeburger Großbetriebe und die Bau-Union der Stadt.94 Auch im VEB Carl Zeiss Jena seien die Beitragseinnahmen in manchen Bereichen um bis zu 50 % gesunken, im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld wollten viele die FDGB-Beiträge erst wieder zahlen, wenn der Lohnausfall vom 17. und 18. Juni bezahlt werde.95 Noch Mitte September meldete das SfS »aus allen Betrieben […] mangelhafte FDGB-Beitragszahlung«. Als Beispiel wird der Bezirk Cottbus angeführt, wo die Beitragszahlung für die IG Metall im Kreis Finsterwalde um 60 %, im Kreis Forst um 50 %, im Kreis Senftenberg um 40 %, im Kreis Herzberg um 35 % und im Kreis Weißwasser um 30 % gefallen sei.96 In der Lederfabrik Hirschberg verweigerte sogar ein Teil der SED-Mitglieder den Parteibeitrag.97

Erst im Oktober ließ die Verweigerung der FDGB-Beitragszahlungen nach. Die Staatssicherheit meldete Mitte des Monats, in den Bezirken Dresden und Halle hätten die Zahlungen fast wieder den alten Stand erreicht und sich in den Bezirken Erfurt, Schwerin, Magdeburg und Rostock um 20 bis 30 % erhöht.98 In der zweiten Oktoberhälfte trat offenbar eine fast vollständige Normalisierung ein.99

Auch andere thematische Aspekte der Berichterstattung verweisen darauf, dass der Parteiapparat die Betriebe im Oktober wieder vollständig im Griff hatte. Die Meldungen vermitteln jedenfalls den Eindruck, dass es der SED pünktlich zum »Tag der Aktivisten« am 13. Oktober gelang, bei der Propagierung von Wettbewerben und Produktionsverpflichtungen wieder in die Offensive zu kommen. In den letzten zweieinhalb Monaten des Jahres verstärken sich die Erfolgsmeldungen auf diesem Gebiet. Die SED dirigierte mit großer Energie und offensichtlich auch mit einem gewissen Erfolg eine Kampagne zur qualitativen Verbesserung und quantitativen Ausweitung der Produktion. Galionsfigur dieser Kampagne war die Weberin Frida Hockauf, die sich als »Beitrag zur Verwirklichung des neuen Kurses« am 29. September auf einer Gewerkschaftsaktivtagung der Mechanischen Weberei Zittau verpflichtet hatte, im IV. Quartal 45 laufende Meter Stoff bester Qualität über ihren persönlichen Plananteil hinaus zu weben. Ihr wurde der Leitspruch zugeschrieben: »So wie wir heute arbeiten, wird morgen unser Leben sein.«100 Als zweites leuchtendes Vorbild diente der Bereich Schwefelsäureanlage des Kunstfaserwerkes »Wilhelm Pieck« in Schwarza, der sich verpflichtet hatte, im IV. Quartal überplanmäßig 200 Tonnen Schwefelsäure zu produzieren, und gleichzeitig die anderen volkseigenen Betriebe zu ähnlichen Anstrengungen aufgerufen hatte.101 Anfang November meldete das SfS bereits, dass »die Verpflichtungen zur Verbesserung der Produktion und die Wettbewerbsbewegung« die »wichtigsten Betriebe und in verschiedenen Bezirken teilweise 50 % der Industrie« erfasst habe.102 Die Aussagekraft dieser Feststellung ist sicherlich begrenzt, aber der Kontrast zur Berichterstattung des Früh- und Hochsommers, in denen die Betriebe für die SED zuweilen geradezu als Feindesgebiet erscheinen, ist trotzdem augenfällig.

2.4 Konflikte in der Landwirtschaft

Mit der Verkündung des »Neuen Kurses« veränderte sich die Situation auf dem Lande entscheidend.103 Durch zwei Verordnungen vom 11. Juni 1953 wurde geflohenen und anderen Bauern, denen die Verfügung über ihre Betriebe entzogen worden war, in Aussicht gestellt, wieder in ihre alten Rechte eingesetzt zu werden.104 Es folgte am 25. Juni eine Verordnung, die das System der Pflichtablieferung für die Privatbauern abmilderte.105 Der Druck auf die Privatbauern ließ beträchtlich nach, was in vielen LPG, insbesondere denjenigen, deren Zustandekommen von Zwangsmaßnahmen begleitet gewesen war, Auflösungserscheinungen zur Folge hatte. Hinzu kam der bereits im Mai, vor der Verkündung des »Neuen Kurses«, auf sowjetischen Druck erfolgte ZK-Beschluss, nach dem die LPG keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen durften.106 Auch diese Entscheidung schwächte die Position der LPG-Verfechter zumindest psychologisch.

Das MfS lieferte in einem am 7. Juli ausgefertigten ausführlichen Bericht über die Situation auf dem Lande ein etwas diffuses Stimmungsbild, das sich aus unterschiedlichen Einzeläußerungen ergibt, deren Repräsentativität schwer zu beurteilen ist. Der Bericht enthält aber zahlreiche authentisch wirkende Äußerungen. So wird das gewachsene Selbstbewusstsein der Großbauern mit folgender Feststellung eines Landwirts aus Gösen, Kreis Eisenberg, veranschaulicht: »Ich war doch immer der Meinung, dass sie ohne uns nicht auskommen. Wenn man aber solche Leute in die Regierung setzt, die keine Ahnung von der Landwirtschaft haben, dann kann man das verstehen. Wir Großbauern haben doch immer die Ernährung gesichert.«107

Ein Genossenschaftsbauer aus dem Bezirk Gera, Mitglied der SED, wird mit der Äußerung zitiert: »Die Lage hat sich geändert, es wird noch eine Verordnung kommen, wonach alle LPG aufgelöst werden. Ehe ich austrete, warte ich erst die politische Lage ab. Sollten aber die übrigen Bauern dieselben Vergünstigungen erhalten wie wir, dann trete ich gleich aus und arbeite als Einzelbauer, da kann ich besser wirtschaften.« Der Bericht nennt auch erste Zahlen zu den LPG-Auflösungen, die sich bis zum 1. Juli vollzogen hatten. Demnach hätten sich von 5 082 LPG 58 vollkommen aufgelöst, bei 113 bestehe die Absicht der Auflösung. Aus 202 bestehenden LPG seien 2 197 Genossenschaftsbauern ausgetreten.108

Im nächsten ausführlichen Bericht zur Lage in der Landwirtschaft vom 18. Juli wurden (teilweise leicht abweichend) weitere Zahlen aufgeführt, die erkennen ließen, dass sich der Auflösungsprozess inzwischen beschleunigt hatte. Bis Mitte Juli hatten sich demnach 4,3 % aller LPG aufgelöst, weitere 5,3 % (arithmetisch korrekt wären 5,5 %) würden beabsichtigen sich noch aufzulösen, was im Ergebnis zu ca. 10 % aufgelösten LPG führen würde. In weiteren 10 % hätten zahlreiche Mitglieder ihren Austritt erklärt und den eingebrachten Betrieb wieder in Einzelbewirtschaftung übernommen.109

Der Bericht versucht auch die Ursachen für die Auflösungserscheinungen zu benennen. Als Erstes werden die oben erwähnten Beschlüsse des Ministerrates vom 11. Juni genannt, die den aus dem Westen heimkehrenden und aus der Haft entlassenen Bauern die Möglichkeit gäben, ihre Betriebe, die den LPG zur Bewirtschaftung übergeben worden waren, wieder zu übernehmen. Die LPG, welche überwiegend solche Flächen übernommen hätten, würden wirtschaftlich unrentabel. Als Zweites nannte das MfS die »Verordnung über die Erleichterungen in den Pflichtablieferungen« vom 26. Juni, die die Rahmenbedingungen für die Privatbauern so stark verbessert habe, dass Genossenschaftsbauern, die »aus Angst vor wirtschaftlichem Ruin in die LPG eingetreten« seien, sich jetzt durch die »Bewirtschaftung der Einzelwirtschaft einen höheren Erwerb« versprächen. Drittens durften bei den Ursachen natürlich die feindlichen Machenschaften nicht fehlen: die Ereignisse des 17. Juni, »durch den Gegner in Umlauf gebrachte Gerüchte«, »Wühlarbeit von Saboteuren, offene Hetze gegen die LPG« und die systematische »Organisierung der Austritte durch Provokateure«.110

Ähnlich wie in den Industriebetrieben und auf den Baustellen herrschte im Frühsommer 1953 auch in vielen Dörfern eine renitente Stimmung. Das MfS berichtete etwa über eine Bauernversammlung in der Gemeinde Schraden, Kreis Bad Liebenwerda, am 10. Juli, auf der ein Vertreter des Kreisvorstandes der Gewerkschaft Land und Forst zum »Neuen Kurs« gesprochen hatte. Nachdem sein Referat bereits mehrfach von aggressiven Zwischenrufen unterbrochen worden war, kam es zum Eklat, als der Leiter der Molkerei sich zu Wort meldete und die Bauern aufforderte, ihr Milchsoll abzuliefern. Er ließ die Bemerkung fallen, vor einigen Tagen seien zwei Instrukteure der Regierung dagewesen, die geäußert hätten, »man müsste erst ein paar Bauern aufhängen, damit die anderen ablieferten«. Daraufhin sei eine »Meuterei« in der Gaststube ausgebrochen, einige Bauern hätten gerufen: »Walter Ulbricht müsste man vor den Pflug spannen und ihn aufhängen.«111

Zwar deuten die Stimmungsberichte aus dem bäuerlichen Milieu auch auf eine gewisse Entspannung hin, teilweise herrschte sogar Zuversicht im Hinblick auf die weitere Entwicklung der privaten Landwirtschaft. Genauso deutlich wird aber auch, dass viele Privatbauern trotz der eingetretenen Erleichterungen skeptisch blieben. So heißt es in einem Bericht von Ende Juli, »ein Teil des Mittelstandes und der Großbauern« glaube, »dass die gegenwärtigen Maßnahmen unserer Regierung nicht lang anhalten werden«. Als Beispiel wird die Äußerung eines Großbauern wiedergegeben, der gesagt habe: »Nach dem neuen Kurs der Regierung hat wohl die SED den Sozialismus beiseite gestellt, aber in zwei Jahren haben wir dieselben Verhältnisse, das geht doch aus der Geschichte der KPdSU hervor. Was wurde dort mit den Großbauern gemacht, entweder sie wurden vernichtet oder nach Sibirien verbannt.«112

Obwohl regelmäßig über Aktivitäten »großbäuerlicher Elemente« berichtet wurde, die gegen »die fortschrittlichen Kräfte im Dorf« arbeiten würden, meldete das SfS im Oktober eine Besserung der Lage im Hinblick auf die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Die Mehrzahl habe sich gefestigt. Auflösungserscheinungen seien »in den Bezirken verhältnismäßig gering«, mit Ausnahme des Bezirkes Schwerin, in dem noch 1 647 Austrittserklärungen vorlägen und 86 LPG die Auflösung beabsichtigen.113

Im Herbst trat ein anderes Konfliktfeld in den Vordergrund. Jetzt spitzten sich Auseinandersetzungen um Sollerfüllung und Erfassung der abzugebenden Ernteerträge zu. Die Staatssicherheit vermutete bei schlechten Ablieferungsquoten reflexartig »feindlichen Einfluss«. Ein verbreiteter Unwille, die Verpflichtungen zu erfüllen, ist tatsächlich nicht zu übersehen.114 Teilweise artete der Unmut der Bauern in Gewaltaktionen gegen die Erfasser aus. Ende November berichtete das SfS für den Bezirk Potsdam, »der Widerstand der Einzelbauern« habe sich in fast allen Kreisen verstärkt. In Retzow, Kreis Nauen, seien zwei Bauern mit der Brechstange auf die Erfasser losgegangen und in der Nachbargemeinde Senzke seien die Erfasser »von ca. 50 Personen mit Knüppeln und Steinen bedroht« worden. »Neben allgemeinen Beschimpfungen« habe man mit einem neuen 17. Juni gedroht. Auch aus dem Bezirk Rostock wurde von Tätlichkeiten gegenüber Erfassern berichtet.115

Im Kreis Angermünde kehrten sich die Auseinandersetzungen über die Sollablieferungen gegen die lokalen Funktionsträger. So wurde dem Bürgermeister in Zützen im Kreis Angermünde mit den Worten gedroht, wenn es »einmal anders« käme, sei er der erste, der aufgehängt werde. Durch solche Äußerungen – schreibt die Staatssicherheit – fühlten sich die Bürgermeister »ständig bedroht« und wollten von ihren Ämtern zurücktreten. Nach einer Bauernversammlung im Kreis am 18. November, auf der »fast ausschließlich negativ diskutiert« worden sei, hätten der VdgB-Vorsitzende und zwei Gemeindevertreter ihre Funktionen niedergelegt.116

Die Berichterstattung über die Erfassungsproblematik in der Landwirtschaft macht aber auch deutlich, dass die Sollvorgaben, insbesondere bei Kartoffeln, angesichts bescheidener Ernteerträge für viele Bauern immer noch zu hoch waren. Konfrontiert mit erheblichen Engpässen bei der Kartoffelversorgung der Bevölkerung reagierte die Erfassungsbürokratie auf dieses Problem offenbar vollkommen unflexibel. Anfang Dezember berichtete das SfS über die Klage des Leiters der Abteilung Erfassung beim Rat des Kreises Ribnitz-Damgarten, ein Vertreter des Staatssekretariats für Erfassung habe die Anweisung gegeben, das Kartoffelsoll zu 100 % zu erfassen, »ganz gleich, ob der Bauer Speise-, Futter- oder Saatkartoffeln behält«. Diese »unsinnige Anordnung« werde »natürlich prompt durchgeführt«. Wenn man sie nicht bald zurückziehe, werde »genauso eine Republikflucht eintreten« wie vor dem Juni 1953. »Unsere Bauern sind schon jetzt äußerst verbittert.«117 Ein Angestellter des Rates des Kreises Neuruppin wird mit der Äußerung zitiert: »Schon in diesem Jahre waren große Flächen Ackerland unbestellt, weil keine Saatkartoffeln vorhanden waren. Im nächsten Jahr wird es nicht anders werden, da man aus den Fehlern nichts gelernt hat und den Bauern die letzten Kartoffeln herausholt.«118

Der Bericht zitiert einen Neubauern aus Groß Nienhagen, Kreis Bad Doberan, mit der Klage: »Nachdem ich abgeliefert habe, was ich konnte, ist man noch zweimal gekommen und hat jedes Mal neu erfasst. Jetzt habe ich gerade noch so viel, dass ich knapp mit meiner Familie leben kann und meine vier Schweine noch acht Tage füttern kann. Ich bin gezwungen, meine Schweine sofort abzuliefern. Was ich nächstes Jahr abliefern soll, weiß ich nicht, die Herren haben es ja nicht anders haben wollen.«119 Durch die Kategorisierung des Klageführenden als Neubauern (der naturgemäß nur eine kleine Fläche bewirtschaftete) wurde die Glaubwürdigkeit der Aussage unterstrichen, während den »Großbauern« in den Berichten pauschal Ablieferungsverweigerung mit einer tendenziell staatsfeindlichen Motivation unterstellt wurde.

Der »Neue Kurs« änderte nichts an der grundsätzlichen Zuordnung der »Großbauern« zum feindlichen Lager, auch wenn sich die SED agitatorisch in dieser Hinsicht zurückhielt. Auf dem Dorfe drohte jedoch unter den veränderten Bedingungen der gesellschaftliche und politische Einfluss der größeren Landwirte wieder zu wachsen. Das zeigte sich auch darin, dass vielfach das Ansinnen artikuliert wurde, »Großbauern« in die Vorstände der VdgB bzw. der Bäuerlichen Handelsgenossenschaften (BHG) zu wählen und damit ein ungeschriebenes Gesetz zu brechen, nach dem solche Funktionen nur den »werktätigen Bauern« zustanden.

Die »Großbauern« würden versuchen, sich Einfluss zu verschaffen, indem sie die »Mittelbauern« auf ihre Seite zögen. So hätten sich in einer VdgB-Wahlversammlung in Grünberg im Kreis Flöha zwei Großbauern gegen die Bezeichnung »Großbauer« verwahrt und erklärt, dass sie auch als werktätige Bauern anerkannt werden wollten. Die anwesenden Klein- und Mittelbauern hätten sich für sie eingesetzt.120

Aus Beilrode, Kreis Torgau, berichtete das SfS über die Forderung, einen »Großbauern« mit 65 Hektar Land in den Vorstand wählen zu können. Wenn dies nicht gestattet werde, wollten alle anderen aufgestellten Kandidaten zurücktreten. Aus der zum selben Kreis gehörenden Gemeinde Loßwig zitiert die Staatssicherheit einen Schmiedemeister mit der Äußerung, es sei ungerecht, dass die Großbauern keine Funktion in der VdgB ausüben könnten. Jeder könne »heute seine Funktionäre selber wählen wie er will, ob Geschäftsleute oder Handwerker, nur der Bauer nicht. Dem werde vorgeschrieben, dass er die Großbauern nicht wählen darf.«121

Laut SfS-Meldungen konnte die Wahl von »Großbauern« in die Ortsvorstände der VdgB zumeist verhindert werden. In Einzelfällen war es jedoch zu unerwünschten Wahlergebnissen gekommen. Im Bezirk Frankfurt/Oder wurden insgesamt 14 Großbauern in die Vorstände der VdgB gewählt. Unter den parteilosen Vorstandsmitgliedern, welche ca. 60 % ausmachten, sei ein großer Teil Altbauern sowie ehemalige Offiziere und Umsiedler. Nur ca. 20 % der gewählten Vorstandsmitglieder seien SED-Mitglieder. Die übrigen 20 % setzten sich aus Mitgliedern der Blockparteien zusammen. Besonders ungünstig seien die Wahlen dort ausgefallen, »wo die Anleitung und Unterstützung sowie die Vorbereitung der VdgB-Wahlen von unseren Genossen Funktionären ungenügend war«. So habe »der Genosse Kreisbeauftragte der VdgB« in Weichensdorf, Kreis Beeskow, nicht verhindert, dass in einen fünfköpfigen Vorstand vier Großbauern gewählt worden seien. Im gesamten Bezirk Frankfurt/Oder sei bei den VdgB-Wahlen der Anteil der Parteilosen sehr stark angestiegen. Bis zum 7. Dezember seien 664 Parteilose sowie 243 Mitglieder der SED, 175 der DBD, 29 der CDU, 21 der LDP und 13 der NDPD in die Vorstände gewählt worden.122 Hier zeigt sich, dass die SED unter den Vorzeichen des »Neuen Kurses« und der damit verbundenen Schwächung ihres Einschüchterungspotenzials die Verhältnisse auf dem flachen Lande auch zum Jahresende hin noch nicht wieder uneingeschränkt determinieren konnte.

2.5 Versorgungsprobleme

Die verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die dem Juni-Aufstand vorausging, war – wie bereits erwähnt – nicht unwesentlich durch die chronisch schlechte Versorgungslage in der DDR bedingt, die sich seit dem Sommer 1952 nochmals erheblich verschlechtert hatte und insbesondere Lebensmittel wie Butter, Margarine, Fleisch, Gemüse und Zucker, aber auch industrielle Konsumgüter betraf.123

Besonderen Unmut hatten auch die im April 1953 erfolgten Preiserhöhungen für zuckerhaltige Lebensmittel124 hervorgerufen und an diesem Punkt korrigierte die SED ihre Politik bereits mit der Verkündung des »Neuen Kurses« am 11. Juni.125 Weitere, sehr viel einschneidendere Maßnahmen folgten auf diesem Gebiet erst nach dem Juni-Aufstand mit den Regierungsbeschlüssen vom 25. Juni. Durch die Freigabe der Staatsreserve und die Erhöhung der Importe sollte das Angebot von Nahrungsmitteln verbessert werden, bei denen es in der jüngsten Vergangenheit besondere Engpässe gegeben hatte: Zucker, Margarine, Butter und Schlachtfette, Fleisch, Fischkonserven, Getreide, Obst und Gemüse.126 Außerdem wurde beschlossen, dass zusätzliche Industriewaren, vor allem Textilien und Schuhe sowie Fahr- und Motorräder, durch Liquidation der Staatsreserve in den Handel gebracht werden sollten.127

Auch die häufigen Stromabschaltungen, verursacht vor allem durch die Forcierung energieintensiver Industriezweige, hatten zu großem Unmut in der Bevölkerung geführt. Der Ministerrat verpflichtete daher, ebenfalls in einem Beschluss vom 25. Juni, das Staatssekretariat für Energie, »alle erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit ab 1. Juli 1953 die Abschaltungen in der Versorgung der Bevölkerung mit Strom völlig beseitigt werden.«128 Für die Realisierung dieses Beschlusses fehlten allerdings die entsprechenden Kapazitäten, sodass es noch lange zu verbreiteten Stromabschaltungen und einem entsprechenden Glaubwürdigkeitsverlust der Regierung kam – ein immer wiederkehrendes Thema der Stimmungsberichte der folgenden Monate.

Angesichts der Bedeutung der Versorgungslage für die Stimmung der Bevölkerung waren die Meldungen zur Versorgung eine ständige Rubrik in der Berichterstattung der Staatssicherheit. Bereits die erste Tagesberichtserie, die vom 24. bis zum 30. Juni ausgefertigt wurde,129 enthielt einen festen Abschnitt »Versorgung der Bevölkerung«. Das blieb auch im Juli so, allerdings wurden jetzt wiederholt auch noch umfängliche eigenständige Berichte zur Versorgungslage erarbeitet, die den Tagesberichten als Anlagen beigegeben wurden.130

Die Berichte enthalten nahezu alle sinngemäß die einleitende Formulierung, die Versorgung der Bevölkerung sei im Großen und Ganzen gesichert. Anschließend folgen aber eine Vielzahl von Informationen über Mangellagen und Probleme. Gerade auch Güter, die gemäß Regierungsbeschluss vom 25. Juni aus der Staatsreserve ergänzt werden sollten, waren nach wie vor knapp. Das galt insbesondere für Zucker, Butter und Margarine, Fischkonserven, aber auch zum Beispiel für Textilien und Schuhe. Im Bericht vom 7. Juli benennt die Staatssicherheit einen gravierenden Grund für diese Situation: Ein Teil der im Ministerratsbeschluss genannten Güter war in der Staatsreserve gar nicht mehr vorhanden, weil diese bereits vor dem Beschluss in den Handel gegeben worden waren. Der Bericht enthält eine aufschlussreiche Tabelle, in der die Warenmengen aus dem Ministerratsbeschluss den tatsächlich in der Staatsreserve noch vorhandenen Mengen gegenübergestellt werden. Die Fehlmengen waren beträchtlich, sie lagen mindestens bei 50 %, bei den meisten Gütern noch höher.131

Am 11. Juli fasste das MfS die Versorgungssituation und die daraus resultierende Stimmung folgendermaßen zusammen: Im Allgemeinen könne man den Diskussionen in der Bevölkerung entnehmen, dass trotz der bei Butter, Margarine, Zucker, Fisch und Fischkonserven eingetretenen Zuwächse »von einer Verbesserung der Lebenslage« nicht gesprochen werden könne, »sondern nur von der Wiederherstellung des bereits einmal gewesenen Zustandes«.132

Katastrophale Zustände herrschten vor allem bei den ebenfalls durch den Ministerratsbeschluss ausgeweiteten Importlieferungen von Gemüse und Obst aus den »Volksdemokratien«. Die Transporte dauerten so lang, dass die Ware in den ungekühlten Güterwaggons bei den hochsommerlichen Temperaturen die DDR häufig nicht mehr in einem verzehrbaren Zustand erreichte. Die Staatssicherheit meldete, der verdorbene Anteil belaufe sich bei Gemüse auf 40 bis 60 % und bei Obst auf 80 bis 90 %.133 Hinzu kam, dass die Importe vielfach überflüssig waren, weil die DDR die meisten der importierten Gemüsesorten in ausreichendem Maße produzierte, das MfS sprach sogar von einer »Obst- und Gemüseschwemme«.134 Ähnliche Missstände bestanden auch bei den Fleischimporten, wofür das MfS den zuständigen Deutschen Innen- und Außenhandel (DIA) verantwortlich machte. Der DIA habe mit Rumänien einen Importvertrag über 144 Rinderviertel und 800 Schweinehälften abgeschlossen. Als das Fleisch in der DDR eintraf, seien »132 Schweinehälften von Fäulnis stark angegriffen« gewesen, »sodass 2 625 kg als untauglich verworfen wurden und 1 876 kg zum sofortigen Verkauf als Freibankfleisch verfügt wurden«. Die restlichen 668 Schweinehälften seien »von einer leichten Oberflächenfäulnis angegriffen« gewesen und »konnten nur noch zur Kochwurstverarbeitung in die Industrie abgegeben werden«. Die Missstände bei den Lebensmittelimporten seien darauf zurückzuführen, dass der DIA unter anderem »bei dem Abschluss von Verträgen nicht genügend auf die Qualität« achte, keine »Abstimmung des Imports mit dem Inlandsaufkommen« vornehme und die »Verbraucherwünsche« nicht berücksichtige.135

Kontinuierlich berichtet die Staatssicherheit über haarsträubende organisatorische Mängel im Bereich von Handel und Versorgung. Ihrer Einschätzung nach waren die »örtlich vorhandenen Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung […] zum größten Teil auf schlechte Organisation und Planung, auf Mängel in der Belieferung, auf bürokratisches Verhalten bzw. Unfähigkeit der dafür verantwortlichen Stellen zurückzuführen«.136 In einzelnen Fällen hätten auch »unklar gegebene Anweisungen von höherer Stelle (Ministerium für Handel und Versorgung) eine gute Organisation und Planung verhindert bzw. gestört«. In dem betreffenden Bericht folgen verschiedene Beispiele, etwa dass aus dem Bezirk Erfurt Blumenkohl nach Karl-Marx-Stadt geliefert worden sei und gleichzeitig Erfurt Blumenkohl aus dem ostsächsischen Bad Schandau erhalten habe oder dass eine Möbellieferung aus Raschau an den nur wenige Kilometer entfernten Konsum von Schwarzenberg über die rund 120 Kilometer entfernte DHZ Dresden transportiert worden sei.137

Solche bürokratischen Possen im Gütertransport waren umso problematischer, als es extreme Engpässe bei den Transportkapazitäten sowohl auf der Straße als auch auf der Schiene gab, ebenfalls ein Dauerthema in der Berichterstattung. Das wirkte sich teilweise zugunsten der privaten Einzelhändler aus, die, wie etwa Ende Juli aus Karl-Marx-Stadt berichtet wurde, »ihre Waren (besonders Grünwaren) schon in den frühen Morgenstunden anbieten« könnten, wohingegen »die HO und der Konsum erst in den Mittagsstunden die Waren zum Verkauf« brächten.138

Zunehmend ging die Staatssicherheit dazu über, in ihren Berichten auch explizite Vorschläge zur besseren Organisation der Versorgung zu machen. Als etwa Anfang August Margarine, bei der noch wenige Wochen zuvor eher Knappheit geherrscht hatte, nicht im ausreichenden Umfang abgesetzt werden konnte und zu verderben drohte, schlug das SfS eine Preissenkung vor.139 Die Bevölkerung reagierte regelmäßig verstimmt, wenn begehrte Lebensmittel verdarben, weil zu lange mit den notwendigen Preisnachlässen gewartet wurde. Als zum Beispiel Anfang Oktober im Bezirk Halle größere Mengen teurer Importweintrauben schlecht wurden, weil sie nicht abgesetzt werden konnten, kam es zu verbreiteten »Diskussionen«, deren Tenor das SfS wiedergab: »Lieber kann das Zeug verfaulen, ehe man es uns rechtzeitig für billigeres Geld geben würde.«140

Dauerbrenner bei der Berichterstattung waren die Versorgungsprobleme bei Kartoffeln und bei Kohlen für den Hausbrand. Als es im Herbst um die Bevorratung beider Güter für den Winter ging, war das Thema in den Berichten ständig präsent. Bereits im September zitiert das SfS den Leiter der Abteilung Materialversorgung beim Rat des Bezirkes Cottbus mit den Worten, die Situation bei der Brennstoffversorgung sei so schlecht, »dass dies bereits keine Frage der Versorgung mehr […], sondern eine politische Frage geworden« sei.141

Schon im Juli hatte die Staatssicherheit vor Engpässen gewarnt, die sich aus dem zu knappen Angebot ergäben. Der vom Ministerrat bestätigte Verteilungsplan für das 2. Halbjahr 1953 gehe von einem Bedarf an Briketts und Rohbraunkohle aus, der »nach vorläufigen Berechnungen« durch die Produktion nicht gedeckt werden könne, daher sei die gesamte Kohlenversorgung gefährdet. Das Problem sei, dass die Produktion »den Anforderungen der Verbraucher« nicht gerecht werde.142

Versorgungsprobleme blieben für die DDR ein sicherheitspolitisch relevantes Dauerthema und daher auch Gegenstand der Berichterstattung. Die Staatssicherheit schrieb zu diesen Missständen und zum Unmut, den sie in der Bevölkerung hervorriefen, auch in späterer Zeit meistens Klartext.

2.6 Rückkehrer

Gemäß den Vorgaben der sowjetischen Führung waren die Eindämmung der »Republikflucht« und die Förderung der Rückkehr geflüchteter DDR-Bürger und Ostberliner zentrale Ziele des »Neuen Kurses«.143 Den Rückkehrern wurde in der entsprechenden Verordnung vom 11. Juni die Rückgabe des beschlagnahmten Eigentums, die Wiedereinsetzung in ihre Rechte und die Wiedereingliederung »in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben« in Aussicht gestellt.144 Die Bedeutung dieses politischen Ziels erklärt die intensive Berichterstattung der Staatssicherheit zum Rückkehrerthema, die schon unmittelbar nach dem 17. Juni einsetzte. Bereits die Berichte der ersten Kleinserie vom 19. und 21. Juni enthielten unter einer eigenen Rubrik Zahlen zu den über die Berliner Grenzübergänge Zurückgekehrten.145 Am 25. und 26. Juni folgten dann die ersten eigenständigen Berichte über die Stimmung unter den Rückkehrern.146

Im Bericht vom 26. Juni legte das MfS dar, dass er »durch unbeeinflusste, zwanglose Unterhaltungen« mit 34 Personen, die aufgrund des Ministerratsbeschlusses vom 11. Juni in die DDR zurückgekehrt seien, zustande gekommen sei. Er enthält die geradezu agitatorisch anmutende und mit verschiedenen Zitaten erläuterte Behauptung, der Ministerratsbeschluss verbreite sich »wie ein Lauffeuer in den Flüchtlingslagern Westberlins und Westdeutschlands« und die zurückgekehrten Personen brächten »ihre Freude über diese Maßnahmen der Regierung zum Ausdruck« und verpflichteten sich, »aktiv beim Aufbau in der DDR zu helfen«. Die Stimmung in den westlichen Flüchtlingslagern sei schlecht. Eine Hausfrau wird mit den Worten zitiert, das »Elend in den Lagern« sei nicht mehr auszuhalten und man müsse »unter den unmenschlichsten Bedingungen hausen«. »Trotz der schlechten Stimmung in den Flüchtlingslagern und der Tatsache, dass mindestens 80 % der Flüchtlinge gern zurückkehren würden«, bestehe verbreitet »Zweifel an der Ehrlichkeit der Durchführung der Regierungsbeschlüsse«. Man wolle »erst abwarten, wie es den Rückkehrern in der DDR ergeht«. Außerdem würde von Presse und Rundfunk und den offiziellen Stellen im Lager gegen die Rückkehr agitiert. Ein zurückgekehrter Fleischer wird mit der Aussage zitiert, »einige unbekannte Personen« seien ins Lager gekommen und hätten Rückkehrwillige gewarnt: »Sie sollten nicht in die DDR zurückkehren, da sie sonst von den Russen verhaftet werden und nach Sibirien kommen.«147

Das blieb im Wesentlichen der Tenor der Berichterstattung zu diesem Thema, das ab 30. Juni in einem festen Gliederungsschema abgehandelt wurde: 1. Einstellung der zurückgekehrten Personen zum Ministerratsbeschluss; 2. Stimmung der Flüchtlinge und Hemmungen bei ihrer Rückkehr; 3. Maßnahmen und Agitation vonseiten der Bonner Regierung, um die Flüchtlinge von ihrer Rückkehr in die DDR abzuhalten; 4. Durchführung der Maßnahmen des Ministerratsbeschlusses bei zurückgekehrten Personen.148 Diese ausführliche Art der Berichterstattung über das Rückkehrerthema erstreckte sich bis zum 11. August. Mehrmals wurden in diesem Zeitraum auch eigenständige Berichte zum Thema gefertigt, die teilweise als Anlagen zu den Tagesberichten fungierten bzw. (nahezu) alleiniges Thema von Tagesberichten waren.149

Bemerkenswert ist die geradezu fürsorgliche Haltung gegenüber den Rückkehrern, die darin zum Ausdruck kommt, dass sehr genau darüber berichtet wird, ob die von der Regierung beschlossenen Integrationsmaßnahmen auch umgesetzt wurden. Fast komisch wirkt es, wenn die Staatssicherheit beispielsweise beklagt, es gebe »noch Stellen, wo die Rückkehrer trotz stärkstem Bemühen ihrerseits keine Arbeit erhalten«, was zum Teil damit begründet werde, »dass man sie erst einmal überprüfen muss, ob sie auch keine Spione sind«. Dies rufe unter diesen Rückkehrern »starke Empörung« hervor und manche trügen sich mit dem Gedanken wieder nach Westdeutschland zurückzukehren. »Briefe von schlecht behandelten Rückkehrern können sehr schlechte Folgen mit sich bringen, schon wenn es nur Einzelne sind, da ein Brief von diesen geschrieben, schnell im Lager die Runde macht.«150

Ab Mitte August lässt die Berichterstattung über die Rückkehrerproblematik nach, nur am 22. Oktober erscheint nochmals ein ausführlicher Bericht zur Stimmung unter den Rückkehrern.151 Ansonsten wurde jetzt vor allem über die Rückkehrerzahlen (im Verhältnis zu den Flüchtlingszahlen) berichtet. Die Anzahl der Rückkehrer wurde in der 14-täglichen »Analyse« von Mitte Oktober mit 3 217 im August und mit 3 633 im September angegeben, die Zahlen der Zuwanderer entsprechend mit 938 und 1 332.152 Das entspricht in etwa den konsolidierten Zahlen, die die Zentralverwaltung für Statistik später festhielt.153 Die Hoffnungen der DDR-Führung, dass die Maßnahmen des »Neuen Kurses« zu einer besseren Wanderungsbilanz führen würden, erfüllten sich durchaus, wenn auch in einem bescheidenen Umfang.154

2.7 »Feindtätigkeit«

Interessant ist, dass Meldungen zum Zuständigkeitsbereich der Staatssicherheit im engeren Sinn, der »Feindtätigkeit«, im Vergleich zur allgemeinen Lage- und Stimmungsberichterstattung schon 1953 einen eher kleinen Raum einnehmen. Ab dem 18. August155 findet sich eine regelmäßige Rubrik »Feindtätigkeit«, in der – bezeichnenderweise immer ganz am Ende des Berichts – über die Verbreitung westlicher Flugschriften, Gewalttaten gegen Funktionäre oder vermutete Sabotageakte berichtet wurde. Die Meldungen sind hier sehr knapp gehalten, Versuche einer synthetischen Darstellungsweise oder analytischen Einordnung sind kaum zu finden.

Indirekt kam außerdem das Thema »Feindtätigkeit« im Zusammenhang mit der Berichterstattung über politische Strafprozesse oder Festnahmeaktionen der Staatssicherheit zur Sprache, bei der es in erster Linie um die betreffenden Reaktionen in der Bevölkerung ging. Auch die Staatssicherheit achtete jetzt stärker auf die öffentliche Wirkung ihrer Tätigkeit, was sich in der Tagesberichterstattung über Prozesse gegen »Staatsfeinde« und »Agenten« niederschlug. Am 10. Oktober war der »Informationsdienst« gleich mit vier Anlagen zu unterschiedlichen politischen Strafprozessen versehen: dem Prozess gegen acht ehemalige Leitungskader des sächsischen Steinkohlebergbaus vor dem Obersten Gericht von Ende September, den KgU-Prozessen von Magdeburg und Leipzig von Anfang Oktober und dem wenig später vor dem Bezirksgericht Gera stattgefundenen Verfahren gegen zehn leitende Mitarbeiter der Zeiss-Werke.156

Die wiedergegebenen Äußerungen zu den durchweg harten Urteilen (im Magdeburger KgU-Prozess erging sogar ein Todesurteil) sind überwiegend zustimmend, es werden nicht wenige Stimmen zitiert, die sogar noch härtere Urteile forderten. Nur vereinzelt werden auch andere Meinungen aufgeführt. So werden ein Abteilungsleiter und der Arbeitsdirektor des Karl-Marx-Werkes Zwickau mit der Äußerung zitiert, der zu viereinhalb Jahren Haft verurteilte Obersteiger Bruno Fankhähnel habe »doch keine Verbrechen begangen« und »immer seine ganze Kraft eingesetzt«.157 Die Stimmen zum Magdeburger KgU-Prozess fasst das SfS folgendermaßen zusammen: »In den uns bekannten Stellungnahmen wird fast ausschließlich die feindliche Tätigkeit der Agenten erkannt und ihre Handlungsweise aufs Schärfste verurteilt. Dabei bringt man zum Ausdruck, dass solche Elemente nicht hart genug verurteilt werden können. Nur einzelne Personen sind sich über die Gefährlichkeit dieser Agenten noch nicht voll bewusst und äußern, dass diese Urteile nur als Abschreckung dienen, damit keiner seine wahre Meinung zum Ausdruck bringt.«158

Intensiver wurde die Berichterstattung in eigener Sache nach der groß angelegten Staatssicherheitsaktion »Feuerwerk«, dem ersten »konzentrierten Schlag«, bei dem vom 28. bis 30. Oktober über 100 Personen, vorwiegend V-Leute der Organisation Gehlen, verhaftet wurden.159 Am 9. November präsentierte das DDR-Presseamt auf einer internationalen Pressekonferenz »Enthüllungen über USA-Spionagetätigkeit in der DDR«, unter anderem kam es dort zu dem spektakulären Auftritt des ehemaligen stellvertretenden Leiters einer Westberliner Filiale der Organisation, Hans Joachim Geyer, eines abgezogenen Doppelagenten der Staatssicherheit.160 Im Anschluss daran traten leitende Kader der Staatssicherheit über Wochen in Betriebsversammlungen auf und versuchten, anhand dieses »operativen Erfolgs« die Arbeit der Staatssicherheit zu »popularisieren«.

In der Berichterstattung der Staatssicherheit werden diese Auftritte fast durchweg als großer Erfolg ausgegeben. So heißt es im Überblicksbericht zur ersten Novemberhälfte: »Die teilweise bestehende Meinung, dass die Staatssicherheit der ›schwarze Mann‹ in der DDR sei«, sei durch die Auftritte »größtenteils zerschlagen« worden. Vielfach werde der Wunsch geäußert, solche Versammlungen öfter durchzuführen.161 Der Bericht über die zweite Novemberhälfte betont, durch die Betriebsversammlungen, auf denen »Funktionäre des Staatssekretariats für Staatssicherheit« gesprochen hätten, sei »ein großer Umschwung in der Meinung der Arbeiter« eingetreten. Außer in einigen Fällen, bei denen eine schlechte organisatorische Vorbereitung eine geringe Beteiligung zur Folge gehabt habe, seien diese Versammlungen sehr erfolgreich gewesen. »Einmütig begrüßten die Arbeiter, dass die Staatssicherheit in die Betriebe kommt und mit ihnen Kontakt aufnimmt.« Oft hätten sich die Arbeiter »zur erhöhten Wachsamkeit in ihren Betrieben und zur Unterstützung der Organe der Staatssicherheit« verpflichtet. Sie würden strengste Bestrafung der Verbrecher fordern. Das »ausgestellte Beweismaterial« sei interessiert betrachtet worden.162

Einen besonderen Erfolg erzielte offenbar der Leiter der Verwaltung Wismut des SfS, Karl Kleinjung, bei den Wismut-Bergarbeitern in Johanngeorgenstadt. Da der vorgesehene Saal mit 1 200 Mann überbesetzt gewesen sei, hätte seine Rede mit Lautsprechern übertragen werden müssen. »Nach einer mehrstündigen kämpferischen Diskussion« hätten die Kumpel Kampfgruppen gebildet, »um die Wachsamkeit zu erhöhen und die Organe der Staatssicherheit zu unterstützen«.163 Es drängt sich der Eindruck auf, dass bei diesem Thema eine beschönigende Absicht die Feder der Staatssicherheitsoffiziere führte.

3. Der Beginn des Berichtswesens und die Gründung der Informationsgruppen in der Staatssicherheit

Schon vor dem Juni-Aufstand gab es im MfS Strukturen, die in begrenztem Umfang eine Berichterstattung zur Stimmung in der Bevölkerung gewährleisteten.164 Stimmungsberichte wurden regelmäßig von den seit Mai 1951 sowohl in der Zentrale als auch in den Länderverwaltungen bestehenden Referaten Information der Abteilungen VIa erarbeitet, die für Postkontrolle zuständig waren und etwa zur Jahreswende 1951/52 in Abteilungen M umbenannt wurden.165 Diese Berichte wurden aus der geöffneten Post herausgefiltert und sollten gemäß der einschlägigen internen Anweisung vom 25. Mai 1951 das MfS in die Lage versetzen, »jederzeit ein einwandfreies Bild über die Stimmung der Bevölkerung der verschiedenen sozialen Schichten zu den einzelnen politischen und wirtschaftlichen Fragen zu geben« – differenziert nach ostdeutscher und westdeutscher Bevölkerung.166 Diese Stimmungsberichte blieben aber offenbar MfS-intern.

Daneben wurde im Januar 1953 ein Informationsbüro unter der Leitung des kommunistischen Altkaders Joseph Gutsche geschaffen, das dem Minister Wilhelm Zaisser direkt unterstellt war und »zwecks Information des Ministers in alle Dokumente und Akten« der MfS-Diensteinheiten »ohne Einschränkung« Einsicht nehmen konnte.167 Gutsche war eine der wichtigsten Figuren im frühen MfS. Er hatte als Bolschewik 1917/18 an den revolutionären Kämpfen in Russland teilgenommen und war in der Weimarer Zeit einer der führenden Kader des M-Apparates der KPD gewesen. 1930 emigrierte er in die Sowjetunion und war später unter anderem Regimentskommissar der Roten Armee, Agent und Partisan. 1947 wurde er Präsident des Landeskriminalamtes Sachsen und 1949/50 Leiter der Länderverwaltung Sachsen des MfS.168

Was Gutsches Informationsbüro im Einzelnen gemacht hat, ist wegen der schlechten Überlieferungslage nur rudimentär zu rekonstruieren, wahrscheinlich fungierte es als Stabsstelle mit unterschiedlichen übergeordneten Aufgaben. Angesichts der Vita von Gutsche ist bei ihm eine besondere Nähe zu den sowjetischen Beratern anzunehmen, die den Apparat der Staatssicherheit damals noch weitgehend dominierten.169 Auch bei der Herausbildung der Lageberichterstattung unmittelbar nach dem Juni-Aufstand haben deren Wünsche offensichtlich eine zentrale Rolle gespielt. Auf dem ersten Gliederungsentwurf für eine tägliche Lageberichterstattung, der ab 25. Juni für die ersten Tagesberichte maßgeblich war, steht abschließend: »Diese tägliche Zusammenstellung wünschen die Freunde bis spätestens 22.00 Uhr.«170

In der ersten Phase nach dem Juni-Aufstand war es jedenfalls Gutsche, dem die Lageberichterstattung des MfS unmittelbar unterstand.171 Wahrscheinlich waren in seinem Informationsbüro für diesen Zweck ad hoc zusätzliche Kräfte zusammengezogen worden. Spätestens ab dem 24. Juni 1953 konsolidierte sich diese Berichterstattung zu sogenannten »Tagesberichten«, mit einer rudimentären thematischen Struktur. Berichtet wurde über die allgemeine Lage, die Versorgung, die Bevölkerungsstimmung sowie über »neu eingegangenes Material über die Entstehung der Bewegung« (gemeint war der Volksaufstand) und die »Absichten des Feindes«. Bald wurden auch umfassende Berichte zur Lage in bestimmten Bereichen, etwa in den Blockparteien CDU und LDPD oder den Kirchen, gefertigt.172

Die faktische Federführung für dieses ad hoc organisierte Berichtswesen lag bei Erich Mielke, der zu diesem Zeitpunkt noch 1. Stellvertreter des Ministers Wilhelm Zaisser war. Die aus den Bezirksverwaltungen eintreffenden Berichte gingen anfangs überwiegend über seinen Schreibtisch und wurden von ihm – manchmal schon vorredigiert – an Gutsche »zur Auswertung« weitergereicht.173 Bereits eine Woche nach dem 17. Juni zeichnete sich jedoch ab, dass die Berichterstattung verstetigt werden sollte und dafür entsprechende Strukturen geschaffen werden mussten. Hierzu ist ein »Vorschlag zur Berichterstattung« vom 25. Juni 1953 überliefert,174 dessen Duktus die Vermutung nahelegt, dass es sich um ein aus dem Russischen übersetztes Papier der sowjetischen Berater handelt.175 Es ist der erste aus einer ganzen Reihe solcher »Vorschläge«, die für die Konstituierungsphase der MfS-Berichterstattung im Juni und Juli 1953 maßgeblich waren.

Das Papier vom 25. Juni enthält die Forderung, in den Bezirksverwaltungen eine Auswertungsgruppe zu schaffen, »die von sämtlichen Abteilungen der Bezirksverwaltung das Material zur Auswertung erhält und den zentralen Tagesbericht nach Berlin reicht«. Die operativen Abteilungen der Berliner MfS-Zentrale sollten analog verfahren. Die Berichte der Bezirksverwaltungen sollten um 9.00 Uhr morgens in Berlin vorliegen. Es folgt eine detaillierte Vorgabe zur thematischen Gliederung der Berichte, die für die Berichterstattung der nächsten Tage maßgeblich war – in den grundlegenden Punkten auch darüber hinaus. Hauptpunkte waren: Besondere Vorkommnisse, Stimmung der Bevölkerung, Versorgung, Untersuchungsergebnisse zur Aufstandsbewegung, Absichten des Feindes. Auch den Grund ihres Eingreifens hielten die sowjetischen »Freunde« fest: Es werde »zur Zeit sehr viel geschrieben«, »aber die konkreten Punkte, die zur Berichterstattung benötigt« würden, fehlten in den Informationen.176

Die Dringlichkeit der Bildung von Auswertungsgruppen in den Bezirksverwaltungen wurde auch durch eine wahrscheinlich von Gutsche stammende handschriftliche Notiz unterstrichen: Bisher – so der Vermerk – lebe er »von dem Material der Abteilungen«,177 das heißt die Informationsflüsse liefen noch über die dienstlichen Stränge der operativen Linien, was für eine täglich aktuelle Berichterstattung offensichtlich zu schwerfällig war. In der Tat ist die frühe Berichterstattung manchmal erstaunlich inaktuell.

Es folgten weitere »Vorschläge« zur Organisation der Berichterstattung und zur Ausgestaltung der Berichte. Sie dürften ebenfalls von den sowjetischen Beratern stammen und von Joseph Gutsche niedergeschrieben oder übersetzt worden sein. Demnach sollte das Hauptaugenmerk der Berichterstattung auf der Stimmung in den volkseigenen Betrieben liegen. Insbesondere sollten die Argumente von Personen wiedergegeben werden, die die Regierungsbeschlüsse zum »Neuen Kurs« ablehnten. Die Berichterstattung sollte in der Hauptsache auf Berichten von Geheimen Informatoren basieren178, allerdings sollte auch weiterhin das aus der Postkontrolle gewonnene Material der Abteilung M einfließen.179

Noch Ende Juli bestand Unzufriedenheit über die Qualität der bis dahin von den Bezirksverwaltungen gelieferten Stimmungsberichte. Es handle sich »einzig und allein um aneinandergereihte Diskussionsbeispiele«, die nicht die Möglichkeit böten, »ein ungefähres Bild über die Stimmung der Bevölkerung zu entwerfen«.180 Um diesem Zustand abzuhelfen – so ein Papier vom 29. Juli –, sollten die Kreisdienststellen angehalten werden, eigene Stimmungsberichte als Grundlage für die Berichte der Bezirksverwaltungen zu erstellen. Außerdem wurde abermals die Bildung von Auswertungsgruppen in den Bezirksverwaltungen angemahnt, da so »bei Nachfragen oder besonderen Hinweisen nicht immer der Leiter der Bezirksverwaltung in Anspruch genommen werden müsste«.181

Der am 23. Juli 1953 ins Amt des Staatssekretärs für Staatssicherheit berufene Ernst Wollweber machte das Berichtswesen dann unverzüglich zur Chefsache. Seine Dienstanweisung vom 3. August 1953 zur Neustrukturierung der Staatssicherheit sah bereits eine ihm direkt unterstellte Abteilung Information vor.182 Vier Tage später befahl Wollweber dann formell die Bildung von Informationsgruppen in der Zentrale der Staatssicherheit und den Bezirksverwaltungen mit der Aufgabenstellung, Tagesberichte zu fertigen. Die täglichen Informationsberichte der Bezirksverwaltungen waren laut Befehl bis 6.00 Uhr morgens fertigzustellen und bildeten die Grundlage für den zentralen Bericht des Staatssekretariats, der bis 10.00 Uhr zu erarbeiten war und in den zusätzlich die Lageberichte der verschiedenen Polizeiorgane (Volks-, Grenz- und Transportpolizei) sowie der »Abhörbericht« des RIAS und andere wesentliche westliche Presseberichte einfließen sollten. Besonderen Wert legte Wollweber auf die zeitnahe Berichterstattung. Die politische Führung müsse den Bericht zum Vortag bereits am Morgen vorliegen haben.183

Offensichtlich nahmen jedoch nicht alle Bezirksverwaltungsleiter die Berichterstattung so ernst, wie das in der Berliner Zentrale erwartet wurde, denn Joseph Gutsche sah sich auf einer Dienstbesprechung mit den Leitern der zentralen Abteilungen und der Bezirksverwaltungen veranlasst zu betonen, dass für die Erarbeitung des »Informationsdienstes« »politisch und operativ erfahrene Genossen« eingesetzt werden müssten. Die Arbeit der Informationsgruppen müsse gut funktionieren, das sei auch wichtig, um das angeschlagene Verhältnis zur Partei wieder zu verbessern.184

Zum Leiter der Informationsgruppe im Berliner Staatssekretariat wurde am 17. August 1953 der bisherige, für den operativen Bereich zuständige stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung Dresden, Oberstleutnant Heinz Tilch, berufen.185 Dabei handelte es sich keineswegs um eine Beförderung, sondern eher um eine Disziplinarmaßnahme. Tilch war in Misskredit geraten, weil er es nach dem Ausbruch des Juni-Aufstandes nicht für nötig gehalten hatte, freiwillig seinen Urlaub zu unterbrechen, sondern »geholt werden musste«, obwohl er sich ganz in der Nähe seines Dienstortes Dresden befand.186 Von Bedeutung für die Berufung des gelernten Lithographen Tilch scheint gewesen zu sein, dass er für die damaligen Verhältnisse der Staatssicherheit über ein überdurchschnittliches analytisches Vermögen und ordentliche sprachliche Fähigkeiten verfügte. Nach seiner Berufung zeigt sich jedenfalls ein deutlicher Qualitätssprung in der Berichterstattung.

Im Zuge der Stärkung der Stellung der SED-Bezirksleitungen gegenüber den Staatssicherheitsorganen in ihrem territorialen Verantwortungsbereich im September 1953 ergänzte Wollweber die Regelung zum Informationsdienst durch die Bestimmung, dass auch die jeweiligen 1. Bezirkssekretäre einen eigenen Tagesbericht zur Lage im jeweiligen Bezirk erhalten sollten.187

Laut Gründungsbefehl sollten die Informationsgruppen in den größeren Bezirksverwaltungen drei, in den kleineren zwei Mitarbeiter haben. Die zentrale Informationsgruppe im Staatssekretariat übertraf ihre Sollstärke von vier Mitarbeitern bereits am 31. August 1953 um einen Mitarbeiter. Es handelte sich neben dem Leiter Tilch sowie einer Stenotypistin um drei Sachbearbeiter im Offiziersrang.188 Aus der nunmehr qualitativ konsolidierten Berichterstattung ist zu ersehen, dass das System der Informationsgruppen ab September ordnungsgemäß zu arbeiten begann. Der tägliche Informationsdienst hatte jetzt eine thematische Gliederung, die nur noch leicht variierte.

Ab 6. Oktober 1953 erschien der Informationsdienst dann mit einem gedruckten Vorblatt und einer festen Gliederung. Auf die formale Entwicklung wird weiter unten noch detaillierter einzugehen sein.

Auch nach der Bildung der Informationsgruppen behielt die Abteilung M (Postkontrolle) zunächst weiterhin die Aufgabe, Stimmungsberichte zu erarbeiten. Diese blieben als eigenständiger Berichtsstrang erhalten und flossen darüber hinaus auch in die übergeordnete Berichtstätigkeit der Informationsgruppen ein.189

4. Die Berichterstattung

Die Staatssicherheit wurde auf dem Gebiet der Lageberichterstattung durch den Aufstand des 17. Juni gleichsam »ins kalte Wasser« gestoßen. Sie war auf das, was ihr plötzlich abverlangt wurde, in keiner Weise vorbereitet. Das MfS besaß zu diesem Zeitpunkt für diese Tätigkeit keine entsprechenden Strukturen, keine eingespielten Verfahren und Abläufe, außerdem waren die intellektuellen und sprachlichen Kompetenzen, die für eine Berichterstattung dieser Bedeutung nötig gewesen wären, im Apparat kaum vorhanden. Entsprechend dilettantisch sind die Berichte der ersten Wochen. Sie variieren extrem in Form und Umfang, strotzen von orthographischen und grammatikalischen Fehlern sowie von Stilblüten aller Art. Die Texte entstanden, indem verschiedene Materialien – insbesondere Fernschreiben aus den Bezirksverwaltungen – kurzfristig zusammengestellt und von Schreibkräften in einen äußerlich einheitlichen Text gebracht wurden. Auch vom Umfang her lief die Berichterstattung, vor allem im Juli, völlig aus dem Ruder. Die mit Anlagen teilweise 40 bis über 50 Seiten langen »Informationen« dürfte kaum einer der vielbeschäftigten Adressaten vollständig gelesen haben. Das Mitgeteilte war in diesem Zeitraum auch häufig redundant, manchmal tauchen wortgleiche Passagen in verschiedenen Berichten auf. Das verweist darauf, dass manche Informationen – trotz der täglichen Berichterstattung – keineswegs tagesaktuell waren. Eine deutliche qualitative Verbesserung der Berichterstattung trat erst im August im Nachgang zu Wollwebers Grundsatzbefehl 279/53 ein, als die Informationsgruppen in der Zentrale des Staatssekretariats und in den Bezirksverwaltungen eingerichtet wurden.

Hinsichtlich von Form und Inhalt der Staatssicherheitsberichte ist eine Ähnlichkeit zur Berichterstattung der SED unübersehbar. Die Gesamtberichte zur Lage nach dem 17. Juni, die von der ZK-Abteilung »Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen« gefertigt wurden, enthalten neben dem Hauptpunkt »Die Arbeit und die Lage der Partei«, in dem es überwiegend um die Situation in den Betrieben geht, die Gliederungspunkte »Stimmung der Bevölkerung«, »Lage auf dem Lande« und »Gegnerische Tätigkeit«.190 Diese thematische Struktur bildet auch das Grundgerüst der sich herausbildenden Berichterstattung der Staatssicherheit. Allerdings ist unübersehbar, dass die SED-Berichterstattung in dieser Zeit präziser, analytischer und sprachlich ausgereifter ist. Das gilt tendenziell auch für andere Bericht erstattende Institutionen und Organisationen wie etwa die Blockparteien191 und sogar für die Volkspolizei.192 Der Wert der Staatssicherheitsberichterstattung liegt in der besonderen Authentizität insbesondere der Stimmungsberichte, die sich offensichtlich in hohem Maße aus Informationen von Geheimen Informatoren speiste und von der ungeschminkten, oftmals wörtlichen Wiedergabe von Äußerungen lebt.

Die Berichterstattung des Jahres 1953 kann grob in drei Phasen eingeteilt werden. Die erste Phase war durch eine Ad-hoc-Berichterstattung über den Aufstand sowie seine unmittelbaren Ausläufer und Folgen gekennzeichnet und erstreckte sich vom 17. bis zum 22. Juni 1953. Es handelte sich um eine intensive Berichtstätigkeit – in fünf Tagen wurden insgesamt 22 Berichte gefertigt, zwei noch am 17. Juni selbst, die restlichen verteilten sich relativ gleichmäßig auf die folgenden Tage mit Ausnahme des 21. Juni, einem Sonntag, an dem nur ein Bericht gefertigt wurde. Es sind unterschiedliche Berichtstypen auszumachen: Der beherrschende Berichtstypus ist elf Mal vertreten. Es handelt sich um allgemeine Lageberichte, die Einzelmeldungen aus einem angegebenen Zeitraum enthalten und dabei meistens zuerst Berlin und anschließend die Bezirke der DDR abhandeln. Ähnlich strukturiert sind ein Bericht speziell zu den »tätlichen Übergriffen«193 und zwei Berichte, die sich ausschließlich mit der Lage in der Landwirtschaft befassen.194 Darüber hinaus sind in dieser Phase fünf reine Stimmungsberichte überliefert, darunter erstaunlicherweise ein sehr früher – man muss ihn vermutlich auf den 18. Juni datieren –, bei dem sich das MfS trotz des fast noch im Gange befindlichen Aufstands den Luxus leistete, ausschließlich die Reaktion der Bevölkerung auf die Ausrufung des »Neuen Kurses« wiederzugeben.195 Schließlich wurden am 19. und 21. Juni drei Lageberichte mit einer einheitlichen Gliederung und einer laufenden Nummerierung gefertigt – der Beginn einer Serie, die aber sofort wieder abgebrochen wurde, wahrscheinlich weil das Berichtsschema zu starr war und für die inzwischen deutlich ruhigere Situation nicht mehr passte.

Die zweite Phase der Berichterstattung beginnt mit einem Tag Pause am 23. Juni, einem Dienstag, was darauf hindeutet, dass die Akteure die relative Entspannung der Lage nutzten, um die Berichterstattung neu auszurichten. Am Folgetag wurde der erste Tagesbericht gefertigt, der bis einschließlich 27. Juni auch noch so heißt und am 25. und 26. Juni von speziellen Stimmungsberichten über Rückkehrer aus Westdeutschland und Westberlin begleitet war. Handschriftliche Vermerke legen nahe, dass diese Rückkehrerberichte als Anlagen zu den entsprechenden Tagesberichten zu werten sind, obwohl sie nicht explizit so ausgewiesen werden. Diese vier »Tagesberichte« sind lediglich datiert, aber ursprünglich nicht mit einer laufenden Nummer versehen. Der fünfte Tagesbericht vom 29. Juni trägt dagegen die Nummer 5, heißt aber jetzt »Information«, so wie die nachfolgenden Tagesberichte. Nachträglich wurden die vier vorangegangenen Tagesberichte entsprechend durchnummeriert, sodass der Seriencharakter ersichtlich ist. Allerdings wird diese laufende Nummerierung lediglich einen Tag weitergeführt. Am 30. Juni erscheint die Information Nr. 6 und hier bricht die Zählung wiederum ab.

Am 1. Juli setzt mit der Information Nr. 1002 eine neue Nummerierung an, deren Systematik auch nach der Umbenennung der »Informationen« in den »Informationsdienst zur Beurteilung der Situation« am 6. Oktober 1953 und sogar die folgenden Jahre beibehalten wird.196 Weshalb diese Änderung erfolgt, ist unklar, sie ergibt sich weder aus der Sache, noch findet sich in den Akten irgendein Hinweis auf den Grund. Auffällig ist, dass die Berichte mit dem Amtsantritt von Ernst Wollweber am 23. Juli deutlich knapper und stringenter werden. Sie konzentrierten sich jetzt auf das tatsächliche Tagesgeschehen. Im Wesentlichen bleiben sie ab jetzt im Rahmen der »maximal fünf bis sechs Schreibmaschinenseiten«, die am 7. August vom Befehl 279/53 verbindlich vorgegeben wurden. In den folgenden drei Wochen variieren Inhalt und Gliederung der »Informationen« noch ein wenig, doch nach der Berufung von Ernst Tilch zum Leiter der Informationsgruppe des Staatssekretariats am 17. August bildete sich relativ schnell die thematische Gliederung des späteren »Informationsdienstes« heraus. Am 27. August unterbreitete Tilch Wollweber den folgenden »Vorschlag zur Gliederung der täglichen Informationsberichte«:

  • 1.

    Stimmung in den Betrieben,

  • 2.

    Stimmung der Bevölkerung außerhalb der Betriebe,

  • 3.

    Ereignisse von besonderer Bedeutung,

  • 4.

    Organisierte Feindtätigkeit,

  • 5.

    Vermutlich organisierte feindliche Tätigkeit,

  • 6.

    Kritik und Vorschläge,

  • 7.

    Einschätzung der Situation.197

Bezeichnenderweise schlug er vor, »die Einzelbeispiele von Stimmungen aus Westberlin und Westdeutschland vorläufig aus dem Bericht herauszulassen, da man aus dem bisher noch zu wenig erreichbaren Material keine konkreten Schlussfolgerungen ziehen kann«.198 Das scheint aber bei Wollweber (und den sowjetischen Beratern) nicht auf Zustimmung gestoßen zu sein, denn der Gliederungspunkt »Stimmen aus Westberlin und Westdeutschland« ist im überarbeiteten Gliederungsentwurf vom 1. September aufgeführt. Aus »Stimmung in den Betrieben« wurde »Lage in der Wirtschaft«, differenziert nach Wirtschaftssektoren. Die Lage sollte offenbar nicht ausschließlich auf die in den einzelnen Bereichen herrschenden Stimmungen reduziert werden, in der Praxis betrieb die Informationsgruppe des SfS unter dieser Überschrift jedoch ganz überwiegend Stimmungsberichterstattung.

Der Punkt »Stimmen aus Westberlin und Westdeutschland« wurde später fester Bestandteil der Gliederung auf dem gedruckten Vorblatt des Informationsdienstes. Doch Tilch lag in der Sache mit seinem Einwand offenbar richtig, denn der in der Normgliederung zum Ausdruck kommende Anspruch wurde im Jahr 1953 nur selten tatsächlich eingelöst. Der Abschnitt zu den westlichen Stimmungen ist im Informationsdienst nur vereinzelt vorhanden und hier auch noch oftmals verkürzt auf »Stimmen aus Westberlin«. Dagegen fiel der in den Entwürfen vom 27. August und 1. September noch vorhandene Punkt »Kritik und Vorschläge« in der endgültigen Gliederung des Informationsdienstes ganz unter den Tisch, nachdem er im September nur ein einziges Mal und hier auch nur mit einem einzigen, inhaltlich dürftigen Satz eingelöst worden war.199

Ab dem 31. August tragen die »Informationen« bereits weitgehend den Charakter des späteren »Informationsdienstes zur Beurteilung der Situation«, einschließlich der Rubrik »Einschätzung der Situation« am Ende der Berichte, in der eine Quintessenz des Berichtes geliefert wird. Außerdem treten jetzt auch die im Befehl 279/53 neben den Tagesberichten definierten Sonderberichtsformen auf: die »Sonderinformation«, die »bei plötzlichen Veränderungen« zusätzlich herausgegeben werden sollte, und die 14-täglichen »Analysen«, die im Wesentlichen die Inhalte der Tagesberichte in zusammengefasster Form wiedergaben. Der erste Bericht aus der Serie »Analysen« wurde für die erste Septemberhälfte gefertigt.

Eine »Sonderinformation« wurde erstmals am 3. September erstellt. Es handelte sich tatsächlich um eine brisante Angelegenheit: Von einem Westberliner Staatssicherheitsinformanten war mitgeteilt worden, dass aus der DDR stammende »Hauptagenten«, wahrscheinlich Mitarbeiter der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU), des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen (UfJ) oder der Ostbüros, nach Hannover-Langenhagen ausgeflogen worden seien, um in Westdeutschland festgenommene SED- und FDJ-Agitatoren zu identifizieren. Diese waren mit dem Auftrag entsandt worden, sich in den bundesdeutschen Wahlkampf einzuschalten.

Ab 6. Oktober 1953 hießen die Tagesberichte dann »Informationsdienst zur Beurteilung der Situation« und erhielten ein gedrucktes Vorblatt mit einer festen Gliederung, die in den konkreten Berichten – außer im Hinblick auf den Punkt »Stimmen aus Westberlin und Westdeutschland« – zumeist auch abgehandelt wurde:

  • 1.

    Die Lage in der Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft,

  • 2.

    Stimmung der übrigen Bevölkerung,

  • 3.

    Ereignisse von besonderer Bedeutung,

  • 4.

    Feindtätigkeit,

  • 5.

    Stimmen aus Westberlin und Westdeutschland,

  • 6.

    Einschätzung der Situation.200

5. Adressaten

Beim Jahrgang 1953 ist die Bestimmung der Adressaten der Berichterstattung wesentlich schwieriger als für die Jahrgänge nach 1956, wo die Verteiler für die einzelnen Berichte nahezu lückenlos überliefert sind. Für die Phase unmittelbar nach dem 17. Juni sind lediglich einige Mutmaßungen möglich. Tatsache ist, dass der in der Nacht vom 17. auf den 18. Juni verfasste Gesamtbericht »Über die Lage am 17. Juni 1953 in Groß-Berlin und der DDR«, der eindeutig der Staatssicherheit zugeordnet werden kann, ausschließlich im Büro Ulbricht des SED-Parteiarchives überliefert ist. Ob der Bericht unmittelbar nach seiner Erarbeitung dorthin gelangt ist oder erst nachträglich, ist unklar. Sein Überlieferungsweg deutet aber darauf hin, dass Berichte dieses Typs, also solche, die keinen Kopf, keine Verfasserangaben und keine Angaben enthalten, die detaillierte Rückschlüsse auf interne Strukturen oder auf die eingesetzten operativen Mittel erlauben, potenziell (auch) zur Information der politischen Führung angefertigt wurden.

Zwei dieser Berichte sind als Matrizenabzüge in einer textgleichen, aber nicht schriftbildidentischen Version sowohl im SED-Bestand, ZK-Abteilung »Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen«, als auch im Nachlass des damaligen Politbüromitglieds und stellvertretenden Ministerpräsidenten Heinrich Rau überliefert.201 Inhalt und Diktion weisen diese Dokumente als MfS-Berichte aus, sodass die im Sekretariat des Ministers für Staatssicherheit überlieferten Exemplare als die Originale angesehen werden können. Hinweise darauf, wie die Berichte in den ZK-Apparat gelangt sind und warum man sie dort offenbar einem größeren Kreis von Adressaten zugänglich gemacht hat (davon zeugt der Matrizenabzug), ließen sich nicht finden. Der beschriebene Sachverhalt rechtfertigt jedoch die Aufnahme aller gleichartigen Berichte aus dem Teilbestand »Sekretariat des Ministers«202 in die Edition, auch ohne weitere konkrete Hinweise auf eine entsprechende Verteilung.

Die sowjetischen Berater bzw. der Bevollmächtigte des Sowjetischen Innenministeriums (MWD) in Ostberlin sind ebenfalls als regelmäßige Adressaten der Berichterstattung anzunehmen, auch wenn es darauf nur wenige Hinweise gibt. Im Anschluss an einen Gliederungsentwurf für die Tagesberichte, der spätestens auf den 25. Juni zu datieren ist, steht etwa die Bemerkung: »Diese tägliche Zusammenstellung wünschen die Freunde bis spätestens 22.00 Uhr.«203 Außerdem enthält die Anlage zur Information Nr. 1003 vom 2. Juli (es handelt sich um einen als 4. Exemplar ausgegebenen Durchschlag) zahlreiche russische Randvermerke, die von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Berichts und einer ausgeprägten Lehrmeisterhaltung gegenüber den MfS-Offizieren zeugen.204

Die ersten genauen Nachweise über die Übermittlung der Berichte an die SED-Führung setzen Ende Juni ein. Am 29. Juni ist lediglich der Ausgang eines Berichts über Flugblätter der »Nur-Gewerkschaftlichen Opposition« (Ostbüro des DGB) an Ulbricht verzeichnet, der nicht Teil der Serie ist und auch nicht an anderer Stelle ermittelt werden konnte.205 Dass es in diesem Monat noch kein eingespieltes Verfahren zur schriftlichen Information der SED-Führung durch das MfS gab, zeigt sich auch daran, dass laut Postausgangsbuch Grotewohl und Ulbricht am 3. Juli nachträglich 42 Blatt nicht näher bestimmter Informationsberichte erhielten.206 Dieser Befund muss vor dem Hintergrund der Entwicklungen im SED-Politbüro betrachtet werden: In den auf den 17. Juni folgenden zwei Wochen war Ulbricht in der Parteiführung in der Defensive. Zaisser hatte noch politisches Oberwasser und repräsentierte als derjenige, der im Politbüro für Sicherheitsfragen zuständig war, letztlich selbst die Partei. Eine regelmäßige und detaillierte schriftliche Lageberichterstattung an den 1. Sekretär des ZK oder den Ministerpräsidenten konnte unter diesen Umständen als obsolet betrachtet werden, zumal Ulbricht in dieser Phase damit beschäftigt war, sich überhaupt an der Macht zu halten.

Im Machtkampf an der SED-Spitze begann sich das Blatt erst Anfang Juli zu wenden, und so scheint es kein Zufall zu sein, dass Grotewohl und Ulbricht am 3. Juli die erste formell nachgewiesene Lieferung von »Informationen« erhielten – wohlgemerkt in dieser Reihenfolge, was auf die immer noch schwache Position des SED-Chefs schließen lässt. Am 10. Juli erhielt Ulbricht laut MfS-Postausgangsbuch einen Bericht über die am Vortag stattgefundene Gewerkschaftsaktivtagung bei Carl Zeiss Jena, der nicht ermittelt werden konnte.207

Am 15. Juli erhielt nochmals ausschließlich Ulbricht – wiederum nachträglich – vier »Informationen«, die diesmal aber genau ausgewiesen sind,208 »mit der Bitte um Kenntnisnahme und Information für das Politbüro«.209 Auch dieses Datum dürfte nicht zufällig sein, denn es korrelierte ziemlich genau mit dem Zeitpunkt, an dem Ulbricht machtpolitisch wieder fest im Sattel saß und zum Angriff auf seine innerparteilichen Widersacher, insbesondere Zaisser und Herrnstadt, überging.

Die Lieferungen der »Informationen« an Ulbricht »mit der Bitte um Kenntnisnahme und Information für das Politbüro« wurden jetzt regelmäßig. Am 17. Juli betraf das die Information Nr. 1015 zusammen mit zwei weiteren Berichten zur Lage in Buna bzw. Karl-Marx-Stadt, die nicht ermittelt werden konnten.210 Bis zum 22. Juli, also fast bis zum 15. ZK-Plenum, gingen alle »Informationen« lückenlos und zusammen mit teilweise umfänglichen Anlagen, die den Charakter von eigenen Berichten haben, an den 1. Sekretär.211

Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld und während des 15. ZK-Plenums, das vom 24. bis zum 26. Juli abgehalten wurde, sind keine Ausgänge von »Informationen« an Ulbricht oder an ein anderes Mitglied der politischen Führung dokumentiert. Offenbar bestanden in dieser Phase Unsicherheiten hinsichtlich des Adressatenkreises der Berichte, denn in dem vermutlich von den sowjetischen Beratern verfassten oder zumindest inspirierten konzeptionellen Papier vom 29. Juli steht: »Verteiler der Information muss noch durchgesprochen werden.«212

Am 3. und 5. August sind im VS-Ausgangsbuch des »Vorzimmers« des ehemaligen Ministers, jetzt also des seit dem 23. Juli amtierenden Staatssekretärs Wollweber, noch punktuell Lieferungen an Ulbricht und Grotewohl verzeichnet.213 Für die letzte dokumentierte externe Lieferung, der Information Nr. 1031, ist auf dem Vorblatt zum Bericht erstmals auch der interne Verteiler überliefert, der die Namen aller Stellvertreter Wollwebers, einschließlich des 1. Sekretärs der SED-Parteiorganisation in der Staatssicherheit, Otto Walter, enthält.214 Die hier zum Ausdruck kommende Sachlage wird von Wollweber drei Tage später mit dem Befehl 279/53 gleichsam kodifiziert. Hier heißt es, die täglichen »Informationen« sollten »am anderen Morgen über den vorhergehenden Tag […] zur Information des Politbüros, des Ministerpräsidenten, des Ministers des Innern, des Staatssekretärs für Staatssicherheit und der Stellvertreter des Staatssekretärs, vorliegen«.215

Es ist wahrscheinlich, dass das Politbüro auch in der folgenden Zeit durch das an Ulbricht gehende Exemplar als informiert angesehen wurde, das in der Vergangenheit »mit der Bitte um Kenntnisnahme und Information für das Politbüro« übersandt worden war. Auch dass der Innenminister Willi Stoph in den Verteiler aufgenommen wurde, obwohl es bis zum Erlass des Befehls 279/53 keinen Hinweis darauf gibt, dass er zum Kreis der Adressaten gehörte, liegt auf der Hand. Schließlich war er seit zwei Wochen formal der Vorgesetzte des Staatssekretärs für Staatssicherheit.

Ein anderer Adressat, der in Postausgangsbüchern und Verteilern gar nicht vorkommt, aber die Berichte wahrscheinlich regelmäßig zur Kenntnis bekommen hat, ist der jeweils als sowjetischer Chefberater in der Staatssicherheit fungierende Offizier.216 Das würde der internen Organisationslogik der damaligen DDR-Staatssicherheit entsprechen, die in vielem noch ein Hilfsorgan der sowjetischen Staatssicherheit war. Die russischen Randnotizen auf der Anlage zur Information Nr. 1003 vom 2. Juli 1953, einem Bericht über die Lage in der Ost-CDU, geben uns einen Einblick über die Haltung der »Freunde« gegenüber dem MfS und in der Sache. Es handelt sich vor allem um eine in einem belehrenden Ton gehaltene handwerkliche Kritik an einzelnen Punkten der Berichterstattung über die Blockpartei CDU, die zu dieser Zeit zwar schon weitgehend politisch gleichgeschaltet war, aber in der besonderen Situation von Juni/Juli 1953 wieder vermehrt oppositionelle Tendenzen zeigte. Der »Freund«, bei dem es sich – angesichts der Bedeutung der Materie und des dezidierten Tons – durchaus um den amtierenden Bevollmächtigten des MWD in Berlin-Karlshorst, Iwan A. Fadeikin, persönlich gehandelt haben kann, merkte an, es gehe nicht darum – wie im Bericht behauptet –, dass sich die Haltung der Mitglieder der CDU noch nicht herausgebildet habe, sondern darum, dass die Staatssicherheit sie offensichtlich nicht kenne. Auf jeden Fall gehe diese Haltung aus dem vorliegenden Bericht nicht hervor. Die Randglossen des sowjetischen Offiziers verdeutlichen das damalige, noch ausgesprochen asymmetrische Verhältnis zwischen den beiden Geheimpolizeien. Sie zeigen sehr anschaulich die bestehende De-facto-Weisungskompetenz und Lehrmeisterrolle der sowjetischen Seite.

Es ist bisher nicht quellenmäßig belegbar, dass ein Verteiler, der der oben genannten Adressatenregelung im Befehl 279/53 entsprach, auch tatsächlich umgesetzt wurde. Für die folgende Zeit fehlen merkwürdigerweise alle diesbezüglichen Einträge in den verschiedenen infrage kommenden Postausgangsbüchern. Auch Anschreiben zu Informationslieferungen sind nicht mehr überliefert. Für die Zeit vom 5. bis 27. August gibt es lediglich die internen Verteiler mit den Namen der Stellvertreter des Staatssekretärs auf Vorblättern zu den »Informationen«. Dabei handelte es sich regelmäßig um Erich Mielke,217 Otto Last,218 Martin Weikert219 und Rudolf Menzel,220 den 1. Sekretär der SED-Parteiorganisation in der Staatssicherheit, Otto Walter,221 der bis etwa zu diesem Zeitpunkt auch die Bezeichnung »Stellvertreter für Politkultur« trug, sowie Joseph Gutsche,222 der in dieser Phase als Stellvertreter Mielkes fungierte.

Nach dem 27. August ist gar kein Nachweis mehr hinsichtlich der externen oder internen Verteilung vorhanden, wenn man von den Einträgen zur Verteilung der »Analysen« an die Leiter der Bezirksverwaltungen im Postausgangsbuch der Informationsgruppe ab September 1953 absieht. Über die Gründe für diese lückenhafte Quellensituation lässt sich nur spekulieren. Da die Dokumentation genau ab dem Zeitpunkt fehlt, an dem das Informationswesen der Staatssicherheit im August 1953 in geordnete Bahnen überführt wurde, ist anzunehmen, dass von da an ein gesonderter Nachweis über die Verteilung geführt wurde, der nicht überliefert ist.

Über die Rezeption der Staatssicherheitsberichte in der SED-Führung lässt sich wenig Präzises sagen. Festzuhalten ist, dass die politische Führung in der zweiten Hälfte des Jahres 1953 teilweise sehr schnell politisch auf Missstimmungen reagierte. Ein extremes Beispiel war, wie bereits erwähnt, das Thema Preissenkungen. Am 17. September hatte Ulbricht auf dem 16. ZK-Plenum für das Jahr 1954 generelle Preissenkungen angekündigt,223 was extrem schlecht ankam, weil die Bevölkerung eine solche Maßnahme zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt erhofft hatte. Die schlechte Stimmung spiegelt sich drastisch in den Berichten der Staatssicherheit wieder. Bereits Ende Oktober 1953 reagiert die DDR-Regierung mit einer weitgehenden Preissenkung für Güter des täglichen Bedarfs.224 Welchen Anteil die SfS-Berichterstattung dabei hatte, ist schwer zu sagen, weil diese Stimmungen natürlich auch auf den anderen Berichtssträngen des SED-Staates transportiert wurden.

Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass 1953 die Nichtreaktion der politisch Verantwortlichen auf die Berichterstattung in den Berichten selbst thematisiert wird. Im Informationsdienst Nr. 2024 vom 19. November 1953 heißt es zum Beispiel zum Thema »Gerüchte und negative Diskussionen« bei den Wismut-Kumpeln über die Zukunft der Wismut AG: »Es ist unverständlich: Seit Wochen wird darüber im Informationsdienst berichtet, doch bis jetzt ist noch keine offensive Aufklärungsarbeit unter den Kumpeln geleistet worden, um diese Diskussionen, die zuweilen zu einem Nachlassen der Arbeitsfreudigkeit und zu einer Senkung der Arbeitsproduktivität geführt haben, zu zerschlagen.«225 Ein solcher Ton kann vor dem Hintergrund der Berichterstattung der späteren Jahre als durchaus ungewöhnlich eingestuft werden, die Staatssicherheit hätte spätestens nach 1957 hierbei wahrscheinlich den Vorwurf riskiert, die Partei »kommandieren« zu wollen. Allerdings könnte das Selbstbewusstsein des SfS in diesem konkreten Fall auch dadurch bedingt gewesen sein, dass bei Wismut-Angelegenheiten die Interessen der »Freunde« tangiert waren; vielleicht gaben sie an dieser Stelle auch nur den Unmut der sowjetischen Berater wieder.

6. Druckauswahl und Formalia

Der Korpus der hier edierten Staatssicherheitsberichte des Jahres 1953 hätte – umgerechnet auf das Buchformat – einen Umfang von über 1 600 Seiten. Er findet sich vollständig auf der beiliegenden CD-ROM, in einer der elektronischen Volltextrecherche zugänglichen Form. Aus diesem Gesamtkorpus wurde für den Druck eine kleine Auswahl getroffen, die einen repräsentativen Querschnitt der Berichtsformen und -inhalte darstellt. Natürlich wurde auch darauf geachtet, inhaltlich besonders interessante Berichte in die Druckauswahl aufzunehmen.

Die MfS-Nummerierung der »Informationen« bzw. des »Informationsdienstes« weist vier Lücken auf, die darauf hinweisen könnten, dass einzelne Berichte nicht überliefert sind. In einem Fall deckt sich diese Lücke allerdings mit einem Sonntag,226 an denen in dieser Phase in der Regel gar kein Bericht gefertigt wurde. Es ist daher wahrscheinlich, dass in diesem Fall kein Dokument fehlt, sondern nur die Zählung gleichsam »weiterlief«. Ein Grund für diese Praxis ließ sich nicht ermitteln. Die anderen drei Leerstellen in der Nummerierung, die nicht auf Sonntage fallen,227 weisen dagegen wahrscheinlich tatsächlich auf Überlieferungslücken hin. In einem Fall, der Information Nr. 1053 vom 28. August 1953, ist die Existenz des Berichtes durch die Überlieferung des entsprechenden Vorblatts mit einem (partiellen) Verteiler belegt.228 Trotz intensiver Recherche konnten dieser und die anderen beiden Berichte in der einschlägigen Ablage bisher nicht ermittelt werden.

Undatierte Berichte wurden, wenn keine Informationen zum Datum der Ausfertigung anderweitig überliefert sind, anhand der jüngsten im Bericht vorkommenden Information datiert.

Durchgängig weisen die Originalberichte erhebliche orthographische, grammatikalische und stilistische Mängel auf. Dies gilt besonders für die häufig fehlerhafte Schreibweise von Personen- und Ortsnamen. Sind die Schreibfehler geringfügiger Natur, so wurden sie stillschweigend korrigiert. Weichen sie von der korrekten Schreibweise erheblich ab, wird dies in einer Fußnote kommentiert. In einigen Fällen weicht die Schreibung so stark ab, dass Personen, Orte und andere Begriffe nicht oder nicht mit letzter Sicherheit ermittelt werden konnten. In diesen Fällen wird in einer Kommentarfußnote in der Regel eine mögliche Lösung angeboten.

Die teilweise stark fehlerhafte und uneinheitliche Interpunktion wurde ebenfalls stillschweigend berichtigt bzw. vereinheitlicht. Ungewöhnliche Abkürzungen wurden stillschweigend in übliche umgewandelt oder aufgelöst. Kleinere Grammatikfehler, etwa falsche Endungen, wurden wie Orthographiefehler behandelt. Größere Grammatikfehler und stilistische Unebenheiten wurden aus Gründen der Quellenauthentizität unverändert ediert und, wenn sie erheblich sind, mit einem »sic!« in eckigen Klammern gekennzeichnet. Randvermerke werden in entsprechenden Kommentarfußnoten angezeigt. Das gilt auch für Randmarkierungen mit inhaltlicher Bedeutung. Die im Berichtsjahrgang 1953 ab September zahlreich vorkommenden Randmarkierungen mit eher technischer Bedeutung werden nur pauschal im Dokumentenapparat erwähnt.

Datenschutzrechtlich begründete Streichungen sind ebenfalls mit eckigen Klammern gekennzeichnet. Mit der eindeutigen Kennzeichnung von anonymisierten Personen (meistens durch Nummerierung) wird dabei ein möglichst unbeeinträchtigter Nachvollzug der Berichtsinhalte gewährleistet.

7. Schlussbetrachtung

Im Jahr 1953 durchlief die DDR eine tiefe Krise, die sich aus unterschiedlichen Krisen zusammensetzte: eine allgemeine Wirtschaftskrise, eine Versorgungskrise, eine Krise des politischen Systems, eine Krise der herrschenden SED und im Hintergrund nicht zuletzt auch eine Krise der sowjetischen Besatzungsmacht. Das Krisenszenario kulminierte im Juni mit dem Aufstand, war aber mit dessen Niederschlagung nicht beendet. Die zweite Hälfte des Jahres war vom verzweifelten Bemühen der Machthaber geprägt, das Krisengeschehen zu beenden oder zumindest zu mildern. Das bedeutete zu allererst, exponierte SED-Gegner auszuschalten, unzureichend »standhafte« Funktionäre auszusondern und SED-feindliche Äußerungen wieder aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Es bedeutete auch, die Bevölkerung durch Disziplinierungsmaßnahmen und Zugeständnisse ruhigzustellen, Produktion und Handel im Zeichen des »Neuen Kurses« neu zu ordnen und in der innerdeutschen Auseinandersetzung zu bestehen. All das erwies sich als schwierig angesichts objektiver Probleme, fortbestehender Widerstands- und Unzufriedenheitspotenziale sowie gegenläufiger westlicher Einflüsse. Trotzdem kam es im Laufe des zweiten Halbjahres zu einer relativen Konsolidierung der Verhältnisse, in der die Herrschaftsmechanismen des SED-Staates wieder besser griffen. Dieser wechselvolle und widersprüchliche Prozess wird von den Lageberichten der Staatssicherheit intensiv ausgeleuchtet, Herrschaftsalltag erscheint in vielfältiger und anschaulicher Form.

Die regelmäßige Berichterstattung der Staatssicherheit an die politische Führung, die bis Dezember 1989, also fast 37 Jahre lang, eine feste Einrichtung werden sollte, ist somit ein Kind des 17. Juni, und dieser Ursprung prägte sie noch lange, in einigen wesentlichen Aspekten bis zum ihrem Ende. Die Erfahrung, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung politisch eskalieren und zum Machtverlust führen konnte, bestimmte die Berichtsinhalte sowie das System der Informationserhebung und -verarbeitung. Das gilt vor allem für die Fünfzigerjahre und ganz besonders für die Zeit bis 1955.

Im Jahr 1953, unmittelbar nach dem Aufstand, schien die Situation eine tägliche und tagesaktuelle Berichterstattung an die Parteiführung über alle Entwicklungen zu erfordern, die für die Stabilität des Systems von Bedeutung sein konnten: Stimmungen, Gerüchte, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Versorgungsprobleme, westliche Einflüsse, gegnerische Aktivitäten, ja selbst der Ausbruch von Seuchen gehörten dazu. Das führte zu einem enormen Berichtsvolumen. In den sechs Monaten nach dem Aufstand produzierte die Staatssicherheit mehr Meldungen an die politische Führung als in vielen vollständigen späteren Berichtsjahrgängen.

Trotz unübersehbarer handwerklicher Schwächen und zwangsläufiger Redundanzen liefern die Berichte eine Fülle von Informationen, die historische Realität anschaulich werden lassen. Die im Vergleich zu später nur rudimentäre ideologische Überformung der Texte ist dabei ein großer Vorzug. Insbesondere die unbeholfene Authentizität der Stimmungsberichterstattung bietet gutes Material für die Rekonstruktion von Alltag jenseits der Rituale und Fiktionen des Regimes. Damit erweist sie sich als eine wichtige Quelle für die politische Sozialgeschichte der DDR.