Lage in Berlin
[Ohne Datum]
Situationsbericht über die Lage in Groß-Berlin bis 22.6.1953, 4.00 Uhr [Meldung Nr. 19/53]
Die Lage in den Betrieben hinsichtlich der Wiederaufnahme der Arbeit durch die Belegschaften ist zurzeit unverändert.
Bisher fehlten die Arbeiter aus Westberlin und diejenigen, die einen weiten Anmarschweg zur Arbeitsstelle zurückzulegen haben. Einem Bericht des Parteisekretärs Augsburg von der Stalinallee, Baustelle A-Süd, B-Süd und A-Nord, zufolge, nehmen die Kollegen eine abwartende Haltung ein. Sie bringen zum Ausdruck, dass sie erst abwarten wollen, inwieweit die Regierung die Verbesserung der Lebenslage der Werktätigen vorantreibt. Sie vertreten die Meinung, dass man nicht zuviel für Propaganda zahlen sollte, sondern dass die Funktionäre zu den Baubuden kommen sollten und mit ihnen Fühlung [auf]nehmen. Sie sprechen sich dahingehend aus, dass durch die Anwesenheit der russischen Panzer ihre Arbeitsmoral nicht gehoben würde. Am 20.6. nachmittags fand im Kulturhaus der Bauarbeiter in der Stalinallee eine Kundgebung statt, auf welcher der Genosse Hans Jendretzky1 sprach und an welcher ca. 400 Bauarbeiter teilnahmen. Die Kundgebung ist normal verlaufen.
Im Betrieb Siemens-Plania wurde an die Tür mit Blockschrift geschrieben (Innentür): »Wir wollen die Freilassung der Gefangenen vom 17.6.53.« Die Schrift wurde vom Leiter des Betriebsschutzes entfernt.
Von der Kreisdienststelle in Köpenick wird Folgendes gemeldet: Am 20.6.1953, um 21.45 Uhr, gab der Genosse Kreischer von der FDGB-Geschäftsstelle in der Edisonstraße gegenüber [dem] HF-Werk an die Parteiorganisation der KWO die Mitteilung, dass am 22.6.1953 aus Protest gegen die Vorfälle am 17.6. in den Schwerpunktbetrieben ein Sitzstreik durchgeführt wird.
Im RAW Berlin kamen die Arbeiter am 19.6. zum Frühdienst und gingen sofort an ihre Arbeit. Es traten keine Zwischenfälle ein. Im Werk wurden ca. 300 Flugblätter gefunden.
Das öffentliche Leben in den einzelnen Bezirken des demokratischen Sektors von Berlin verlief reibungslos und ohne wesentliche Störungen. Es traten jedoch immer wieder Personen auf, die provokatorische Reden führten und die VP belästigten. In den meisten Fällen wurden die Provokateure durch die Sicherheitsorgane festgenommen. Zu2 vereinzelten Zwischenfällen kam es dadurch, dass Personen den Befehl des Militärkommandanten des sowjetischen Sektors von Berlin am 17.6.1953 nicht einhielten. Am 21.6.1953, 2.45 Uhr, wurden am Kontrollpunkt 64 und 68 von der KVP wegen zwei[er] verdächtiger Personen vier bis fünf Schüsse abgegeben.
Von der Einsatzgruppe Abschnitt C wird gemeldet, dass gegen 0.20 Uhr am Stützpunkt 5 mehrere amerikanische Jeeps erschienen. Unsere Posten wurden durch Scheinwerfer angestrahlt. Eine Verstärkung unserer Posten ist erfolgt.
Vom Operativstab des VP-Präsidiums wird Folgendes mitgeteilt: Im Inspektionsbereich Mitte wurden in der Zeit von 0.30 Uhr bis 4.00 Uhr des 21.6.1953 129 Wohnungen auf verdächtige Personen überprüft. Hierbei sind 58 Personen zwangsgestellt und den zuständigen VP-Revieren zugeführt [worden]. Unter den Zwangsgestellten befanden sich 20 Westberliner, die sich nicht gemeldet hatten.
Aus mehreren Bezirken des demokratischen Sektors von Berlin wird gemeldet, dass große Mengen Flugblätter in russischer und deutscher Sprache gefunden wurden, die vermutlich durch Ballons abgeworfen worden sind. Am 20.6., gegen 1.50 Uhr, wurden in Weißensee ca. 300 Flugblätter gefunden.
Von einem Funkwagen wurde am 20.6.1953, gegen 12.50 Uhr, beobachtet, dass an der Brunnenstraße im französischen Sektor größere Zusammenfassungen von Stumm-3 und Militärpolizei vorgenommen wurden.
Über die BV Potsdam wird von der Kreisdienststelle in Nauen am 20.6., 23.40 Uhr, folgende Durchsage gegeben: »Heute Abend fand in Berlin-Spandau eine Versammlung statt, die den Zweck hatte, eine Großkundgebung für Sonntag, den 21.6.1953, vorzubereiten.« Aus Kreisen der Stummpolizei und SPD wird verlautbar, dass die Großkundgebung unter Teilnahme aller Flüchtlinge aller Lager stattfinden soll.
Auf der Tagesordnung stehen folgende Punkte:
- 1.
Schaffung eines Denkmals der Freiheit,
- 2.
Beseitigung des sowjetischen Ehrenmales in Berlin-Tiergarten,
- 3.
Geldsammlung für die Hinterbliebenen des 17. und 18. Juni
Die Großkundgebung soll so durchgeführt werden, dass die Flüchtlinge gegen die Genossen der SED und die fortschrittlichen Kollegen des FDGB tätlich vorgehen. Des Weiteren sollen auch Wohnungsplünderungen stattfinden.
Nach einer Mitteilung des Operativstabes des PdVP ist in der Zeit vom 21. bis 23.6.1953 durch die Kirche ein Trauergeläut vorgesehen. Betriebssirenen und die Dampfpfeifen der Lokomotiven der Reichsbahn sollen gleichzeitig in Betrieb gesetzt werden. Außerdem sollen Fahnen mit Trauerflor gehisst werden. Diese Maßnahmen sollen dem Gedenken der Rosenbergs4 gewidmet sein und bedeuten vonseiten des Gegners nichts Weiteres als eine neue Provokation.
Die Stimmung unter den eingesetzten VP-Bereitschaften in den einzelnen Abschnitten ist gut. Der Stand der verletzten VP-Angehörigen am 21.6.1953 zeigt folgendes Bild: 199 Leichtverletzte, 64 Schwerverletzte.