Lage in Berlin und in den Bezirken
22. Juni 1953
Situationsbericht über die Lage in den Bezirken der Republik und in Groß-Berlin am 22.6.1953, 4.00 Uhr [Meldung Nr. 20/53]
Am 21.6.1953 berichteten die Bezirke der Republik und Groß-Berlin keine wesentlichen Ereignisse. Es fanden weder Streiks noch Demonstrationen statt. Die Diskussionen unter der Bevölkerung über die Ereignisse am 17. und 18.6.1953 sind zurückhaltend. Es besteht eine gewisse Angst, offen über diese Fragen zu sprechen, weil einige Teile der Bevölkerung der Ansicht sind, dass man sie als faschistische Provokateure betrachten würde.
I. Zur Lage in der Reichsbahn
Nach den vorliegenden Meldungen scheinen die feindlichen Agenturen ihre Kräfte auf die Auslösung eines Streikes unter den Arbeitern und Angestellten der Reichsbahn zu konzentrieren. Damit wollen die feindlichen Kräfte einen entscheidenden Teil unserer Wirtschaft lahmlegen und alle anderen Wirtschafszweige in Mitleidenschaft ziehen. Die feindlichen Agenturen beabsichtigen wahrscheinlich, einen Streik bei der Reichsbahn zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Streikbewegung zu machen.
Hier einige Mitteilungen, die auf den Versuch zur Auslösung eines Streikes bei der Reichsbahn hinweisen. Der Bahnhofsvorstand Bad Brambach vom Bahnhof Adorf, Kreis Oelsnitz (Vogtland), hat einen Anruf erhalten, wobei ihm mitgeteilt wurde, dass an alle Bahnhofsvorsteher ein Telegramm mit der Unterschrift von Roman Chwalek1 gegangen sei. In diesem Telegramm wird aufgefordert, im Laufe der Nacht bzw. des kommenden Tages den gesamten Bahnverkehr einzustellen. Es handelt sich hier offensichtlich um eine Fälschung. Eine spätere Meldung besagt, dass sich in Adorf eine Streikbewegung bildet, die nach Hof marschieren will.
Eine andere Meldung aus Halle besagt, dass ein Gespräch durch den BASA-Apparat2 der Reichsbahn mit folgendem Inhalt gehört wurde: »Morgen 6.00 Uhr Besprechung BGL in der Kulturhalle Bahnhof Merseburg.« Es muss angenommen werden, dass dieses Gespräch die Verständigung bestimmter Leute bezweckt, die am 22.6.1953 Unruhe stiften wollen.
Durch einen Anruf des Werksleiters Rothe vom RAW Cottbus wurden die Organe der Staatssicherheit von einem Gespräch unterrichtet. Der Werkmeister [Name 1] war in der Wohnung von Rothe und erzählte diesem, dass er in einem Gespräch mit dem Kollegen [Name 2] vom BEW3 Magdeburg erfuhr, dass es am Dienstag wieder losgehe. Es fehlten nur noch die Waffen.
Ferner benachrichtigte der Genosse Stolze von der Kreisleitung der SED Cottbus die Politabteilung des Reichsbahnamtes, dass morgen in den Mittagsstunden damit zu rechnen ist, dass ein Sitzstreik unter dem Motto: »Ermordung der Rosenbergs«4 durchgeführt wird. Es handelt sich hierbei jedoch um die Beisetzung der Provokateure Göttling5 und Komplizen.
Ferner wurde berichtet, dass im Bahnhof Bad Schandau ein Telegramm vom Verkehrsministerium eingegangen sei, nach dem die Eisenbahner ihren eigenen Schutz und den Schutz der Eisenbahnstrecke übernehmen sollen. Es sei signalisiert worden, dass an den Bahnanlagen Sabotageakte durchgeführt werden sollen. Dort, wo die Gefahr der Sabotage besteht, sei es den einzelnen verantwortlichen Bahndienststellenleitern überlassen, den Verkehr zeitweise zu unterbrechen. Es wurde in Erfahrung gebracht, dass in Bad Schandau und Schöna die Dienststellenleiter der Reichsbahn sehr unzuverlässige Elemente sind. Die Dienststellenleiter beabsichtigen, die Strecke zwischen der Grenze und Bad Schandau zu sperren.
Ferner ging eine Meldung ein, dass heute Nacht faschistische Banden oder Fallschirmspringer entlang der S-Bahn Grünau–Königs Wusterhausen Störungen an Bahnkörpern verursachen wollen.
Auf dem Bahnhof Zossen wurde unter den Anwesenden wie folgt diskutiert: »Wenn bis Mittwoch von Berlin die Erschossenen nicht ausgeliefert sind, geht es wieder von vorn los.«
Durch den Präsidenten der RBD Greifswald wurde um 23.20 Uhr Folgendes mitgeteilt: »Auf dem Bahnhof Barth erfolgte um 20.45 Uhr ein Anruf – vermutlich aus Stralsund. Es wurde gefragt: ›Wird dort schon gestreikt?‹ Als die Frage gestellt wurde, wer dort spreche, wurde das Gespräch abgebrochen.«
Auf dem Bahnhof in Klein Bünzow erschienen gegen 21.00 Uhr drei Zivilisten und fragten die Eisenbahner, ob hier schon die Polizeistreife von Anklam durch sei. Als die Eisenbahner die Personen nach ihren Namen und ihrer Herkunft fragten, ergriffen sie die Flucht.
Aus der Stadt Markneukirchen (Vogtland) kam die Meldung, dass für den 22.6.1953 ein Streik der Eisenbahner geplant sei. Es sind alle Maßnahmen zur Sicherung der Objekte der Reichsbahn durch das Ministerium für Staatssicherheit getroffen worden. Alle Versuche, einen Streik bei der Eisenbahn auszulösen, werden im Keime erstickt werden.
Es liegen Anzeichen vor, dass die feindlichen Agenturen versuchen, unter dem Deckmantel der Rosenbergs eine Aktion zum Gedenken der bei dem Putsch getöteten Provokateure in Berlin zu organisieren. Vereinzelt gibt es Meldungen, dass in der Zeit vom 22. zum 23.6.1953 versucht werden soll, die Kirchenglocken zu läuten, die Sirenen heulen zu lassen und die Pfeifen der Lokomotiven zu öffnen. Außerdem sollen Fahnen mit Trauerflor gehisst und auf Halbmast gesetzt werden.
II. Zur Lage in den Bezirken
[Bezirk Potsdam]
In der Nacht vom 20. zum 21.6.1953 wurde der Parteisekretär der Gummifabrik Brieselang, Kreis Nauen, von den dortigen beschäftigten Arbeitern [Vorname Name 3] und [Vorname Name 4] tätlich angegriffen und erheblich verletzt.
Von Teltow wird gemeldet, dass dort im VEB Dralowid und [VEB] Zählerapparatebau6 eine kritische Stimmung zu verzeichnen sei. Die Grenzposten melden, dass sich an einigen Orten die Tätigkeit der Stupos7 und des Zolldienstes von Westberlin verstärkten, so z. B. in Heinersdorf und Großziethen.
In Hennigsdorf kursiert das Gerücht, dass die Stahlwerker sowie die Arbeiter des LEW am 22.6.1953 wieder streiken wollten. Durch die Sicherheitsorgane wurden vorbeugende Maßnahmen getroffen.
Im Allgemeinen war es im Bezirk ruhig.
Bezirk Gera
In Jena scheinen feindliche Kräfte verstärkt Brandstiftungen zu organisieren.
In der volkseigenen Spinnerei des Ortes Zwabitz8 bei Kahla brach ein Brand aus. Diese Spinnerei hat eine Belegschaftszahl von 150 Mann.
In der Kreisdienststelle des MfS Jena wurde von der Wache ein Brandsatz gefunden. Es handelt sich hierbei um eine Glasampulle von 8 cm Länge, 1 cm Durchmesser mit einem dunklen Inhalt. Es war eine 12 cm lange Zündschnur angebracht. Der Zustand des Brandsatzes ließ darauf schließen, dass er erst frisch gelegt worden ist.
Vom VEB Zeiss in Jena wird gemeldet, dass von dort eine Delegation nach Berlin gesandt worden sei, die vom MfS inhaftiert sei. Da diese Delegation nicht zurückgekehrt ist, beabsichtigt man angeblich, am Montag, dem 22.6.1953, 8.00 Uhr, in den Sitzstreik zu treten.
Bezirk Magdeburg
Von hier wurde gemeldet, dass am 21.6.1953, 24.00 Uhr, die Arbeit eingestellt werden soll (im Kraftwerk Harbke9). Es wurden sofort Maßnahmen zur Verhinderung eines Streiks getroffen.
Am 21.6.1953 wurden gegen 17.00 Uhr in Halberstadt durch die Grenzpolizei-Bereitschaft Halberstadt zwei amerikanische Offiziere im Pkw festgenommen, die sich angeblich verfahren hatten.
Im Bezirk Magdeburg herrscht sonst im Allgemeinen Ruhe.
Bezirk Frankfurt/Oder
Abgesehen von den Bauarbeitern, die im Eisenhüttenkombinat streiken, gibt es dort keine negativen Ereignisse.
Am 21.6.1953 wurde ein amerikanischer Wagen im Kreis Beeskow in der Stadt Friedland festgestellt. Es wurden entsprechende Maßnahmen getroffen.
Ein Mitglied der SED aus [Groß] Neuendorf10 berichtete dem Kommando der Grenzpolizei in [Groß] Neuendorf, dass er in seinem Briefkasten ein Flugblatt gefunden habe, in dem für den 22.6.1953 zum Generalstreik aufgerufen wird.
Bezirk Erfurt
Aus dem Bezirk Erfurt wird ebenfalls gemeldet, dass keinerlei Streiks und Demonstrationen mehr stattfinden und dass das Leben äußerlich ruhig verläuft.
9.37 Uhr wurde gemeldet, dass ein amerikanisches Flugzeug außerhalb des Korridors bei Langensalza in der Flugrichtung Süd-West Aschara11–Gotha festgestellt wurde. Das Flugzeug kurvt im Gebiet Erfurt–Langensalza–Gotha.
In Teistungen äußerte sich der katholische Pfarrer, dass, wenn man den Gottesdienst verbieten würde, es auch in Eichsfeld losgehen würde.
Gegen 2.30 Uhr wurde gemeldet, dass 23.30 Uhr drei oder vier Leuchtkugeln in Richtung Stadtilm, Kreis Arnstadt, gesichtet wurden.
Gegen 1.20 Uhr wurde eine grüne Leuchtkugel in der Nähe des Wasserwerkes Liebenstein, Lütschetalsperre, Kreis Arnstadt, bemerkt.
Gegen 1.26 Uhr wurde eine rote Leuchtkugel in Richtung Unterwellenborn, Kreis Saalfeld, bemerkt sowie 1.45 Uhr eine grüne Leuchtkugel an der Hörselbrücke bei Deubachshof,12 Kreis Eisenach. Es konnte jedoch noch nichts Näheres ermittelt werden.
Bezirk Karl-Marx-Stadt
Im Bezirk Karl-Marx-Stadt wurde in der Zeit vom 20. bis 21.6.1953 nur wenig feindliche Tätigkeit festgestellt. Erst in den Abendstunden des 21.6.1953 fand in Zwickau um 22.45 Uhr bis 23.00 Uhr eine Ansammlung von 30 bis 40 Personen statt, die darüber diskutierten, dass man in Berlin schon mehrere Personen erschossen hätte. In wenigen Minuten erhöhte sich die Zahl auf ca. 150 Personen. Diese Leute randalierten und schlossen den Posten der VP ein. Diese randalierenden Personen wollten die Wache der Trapo stürmen. Um 0.30 Uhr wurde durch die sowjetische Kommandantur eingegriffen und 30 Provokateure festgenommen. Es handelt sich hierbei um Bergarbeiter der Wismut AG.13
Am 20.6.1953 wurde festgestellt, dass im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft eine Telefonleitung zerrissen wurde, die an der Kehrseite des Fußbodens gegenüber der Tür des Büchereiraumes befestigt war. Die Täter konnten bisher noch nicht ermittelt werden.
Bezirk Rostock
Aus dem Bezirk Rostock wird berichtet, dass auf dem Lande einige Unklarheiten bestehen. Auf der MTS [Klein] Kussewitz entstanden aufgrund der gegenwärtigen politischen Situation Zerwürfnisse zwischen der Leitung der MTS und der Politabteilung.
Im MTS-Bezirk Roggentin zeigen sich auf der LPG »Nix«14 Auflösungserscheinungen.
In der Gemeinde [Groß] Potrems forderten die LPG und einzelne Bauern die Aufhebung des Ablieferungssolls und des Anbauplanes. Aus dem MTS-Bezirk Fahrenholz15 wurde gemeldet, dass 30 Mitglieder der LPG Wilsen16 seit zwei Tagen ihre Arbeit schleppend durchführen, weil sie der Auffassung sind, dass die Großbauern ihre Betriebe doch wieder zurückbekommen.
Aus allen anderen Bezirken liegen keine wesentlichen Meldungen vor. Überall war eine gewisse Ruhe eingetreten. Aus den Berichten geht hervor, dass die entscheidende Aufgabe jetzt darin besteht, besonders die Reichsbahn zu sichern. Es ist aber durchaus möglich, dass auch in anderen Zweigen unserer Wirtschaft der Versuch unternommen wird, erneut eine Streikbewegung auszulösen. Der Gegner hat bestimmte Schwächen bei uns erkannt und versucht, dieselben auszunützen. Die Stimmung unter der Bevölkerung ist in der überwältigenden Mehrheit noch schwankend. Daher ist es notwendig, dass die Partei- und Massenorganisationen ihre ganze Aktivität entfalten, um den Teil der Bevölkerung, die [sic!] noch schwankt, zu helfen das Vertrauen zur Politik unserer Partei und Regierung wiederzugewinnen.
[III.] Zur Lage bei der Reichsbahn
Am 22.6.1953, 9.00 Uhr, wird bei der Reichsbahn folgende Lage gemeldet. Im Bereich sämtlicher Ämter der Reichsbahn wird voll gearbeitet. Der Zugverkehr ist regelmäßig. Lediglich im Bahnbetriebswagenwerk Falkenberg haben heute Morgen die Arbeiter bei Schichtwechsel die Arbeit nicht wieder aufgenommen. In diesem Betrieb wurde während der gesamten Periode die Arbeit nicht niedergelegt. Aufgrund dessen, dass heute Morgen in dem Betrieb sowjetische Panzer standen, legten die Arbeiter die Arbeit nieder. Die sofortige Agitation des Kommandeurs der sowjetischen Panzereinheit bei den Arbeitern des Betriebes und die der Politabteilung führten zum Erfolg. Die Arbeiter nahmen die Arbeit wieder auf.