Lage in Berlin und in den Bezirken
[Ohne Datum]
Zusammenfassender Bericht über die Ereignisse am 18.6.1953 in der Zeit von 12.00 Uhr bis 19.30 Uhr in Groß-Berlin und in der Republik [Meldung Nr. 6/53]
I. Zur Lage in Berlin
In Berlin wurde die Ordnung fast völlig wiederhergestellt. Nur in wenigen Betrieben, bei unbedeutender Teilnahme der Arbeiter, sind noch vereinzelte Streiks zu verzeichnen. Die Mehrheit der Arbeiter gehen [sic!] wieder ihrer Beschäftigung nach. Es kam zu keinerlei Demonstrationen. Zahlreiche Arbeiter sind bemüht, ihre Arbeitsplätze unter keinen Umständen zu verlieren. Da die Verkehrsmittel sie nicht rechtzeitig zur Arbeit bringen konnten, riefen sie die Werksleitung an, entschuldigten sich und teilten mit, dass sie, sobald die Möglichkeit besteht, im Betrieb erscheinen werden. Vor einem Betrieb kamen die Arbeiter in zwei Taxen vorgefahren, um pünktlich die Arbeitsplätze einzunehmen.
Um 14.47 Uhr hatte die Großtischlerei Adlershof, Berliner Technisches Büro sowie IKA die Arbeit noch nicht wieder aufgenommen. Nach einer Mitteilung der SED-Kreisleitung Pankow soll eine Motorradgruppe zum Werk Bergmann-Borsig gefahren sein, um dort den Streik auszurufen.
Beim Schichtwechsel im Fortschrittwerk in der Möllendorffstraße traten in der Belegschaft einige Unruhen auf. Angehörige der Sowjetarmee gaben einige Warnschüsse ab. Daraufhin nahm ein Teil der Arbeiter die Arbeit wieder auf. Ein anderer Teil entfernte sich vom Werk.
Im EAW Rummelsburg, einem Zweigbetrieb des EAW »J. W. Stalin«, bildete sich eine neue Streikleitung. 90 Arbeiter haben um 15.00 Uhr den Betrieb verlassen. Sie forderten die Senkung der HO-Preise. Einige Unruhen sind im Zentralviehhof noch zu verzeichnen. Die Maurer arbeiten hier noch nicht. Es wurde eine Schlägerei inszeniert.
Um 18.20 Uhr rotteten sich in der Dimitroffstraße, Schönhauser Allee, Eberswalder Straße ca. 20 bis 30 Jugendliche zusammen.
Die westlichen Agenturen versuchen, mit Agitationsmaterial die Streiks aufrechtzuerhalten. Um 17.15 Uhr wurde gemeldet, dass laufend Flugblätter in den demokratischen Sektor von Berlin aus den Westsektor eingeschossen wurden.
Von 12.00 Uhr bis 19.30 Uhr ging ein Bericht vom RFT Treptow ein, dass um 12.00 Uhr von 1097 Betriebsangehörigen 435 Arbeiter und 108 Verwaltungsangestellte im Betrieb anwesend waren. Die Verwaltungsangestellten waren vollzählig erschienen. Aus anderen Betrieben, außer denen der Reichsbahn, sind keinerlei Meldungen eingegangen.
In den Berliner Reichsbahnbetrieben sind noch immer leichte Störungen zu verzeichnen. Es handelt sich hierbei insbesondere um Baubetriebe, die an den Objekten der Reichsbahn tätig sind. So wurde um 11.20 Uhr gemeldet, dass am Nord-West-Ring, Hohenschöpping, die Arbeiter die Arbeit noch nicht wieder aufgenommen haben. Es handelt sich hierbei um die Baufirmen Bau-Union Brandenburg-Spree, Reichsbahn und Naumburg. Sie führten zu dieser Zeit Versammlungen durch, in denen die Forderungen, wie z. B. Freilassung der Gefangenen über drei Jahre Freiheitsentzug,1 aufgestellt wurden.
Auch um 13.45 Uhr hatten die Bauarbeiter am Nord-West-Ring ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Es wurde eine Delegation gewählt, die von einer Baustelle zur anderen geht und als illegale Streikleitung betrachtet werden kann. Instrukteure der Politabteilung der Reichsbahn Berlin waren auf der Baustelle. Die Abteilung XIII2 überprüft diese Angelegenheit und stellt die Namen der Delegationsmitglieder fest. Sonst wurde von einer Reihe Bahnhöfen mitgeteilt, dass die Kollegen der Reichsbahn zur Arbeit gingen.
Auf dem Gelände des VEB Holz, Quitzowstraße,3 in Hohenschönhausen wurden zwölf Hetzschriften gefunden mit der Überschrift: »Die SED ist Pleite.«
Bemerkenswert ist, dass die Stummpolizei4 nach Westberlin verschleppte Volkspolizisten unserer Volkspolizei wieder übergaben. Eine solche Übergabe erfolgte um 15.40 Uhr am Brandenburger Tor, wo die Stummpolizei vier Personen an die Volkspolizei übergab. Es handelt sich hier um drei Volkspolizeiangehörige und eine Lehrerin, die bei der Demonstration mit in den Westsektor gezogen wurden. Um 17.00 Uhr wurde am KP Brandenburger Tor ein VP-Meister von der Stummpolizei an die Volkspolizei übergeben. Anscheinend wollen sich dadurch die Westberliner Behörden den Mantel der Unschuldigkeit für ihr provokatorisches Verhalten umhängen. Sie wollen nicht, dass die Massen erkennen, dass die wirklichen Drahtzieher dieser Provokationen im demokratischen Sektor von Berlin in Westberlin sitzen.
II. Zur Lage in der Republik
Bezirk Cottbus
Auch von Cottbus gingen uns aus den Betrieben keine Meldungen zu. Lediglich vom RAW wurde gemeldet, dass dieses um 11.20 Uhr die Arbeit eingestellt hat. Den streikenden Arbeitern vom RAW Cottbus schlossen sich die Arbeiter der Bau-Union Cottbus an, die am Bahnbau eingesetzt waren. Um 13.00 Uhr wurde gemeldet, dass das RAW Cottbus in den Morgenstunden durch sowjetische Truppen besetzt wurde. 150 Personen wurden zunächst festgenommen und nach einer Belehrung wieder freigelassen. Da die Arbeiter des RAW sich aber nicht zur Wiederaufnahme der Arbeit bereit erklärten, wurde das RAW vollständig geräumt. Die Arbeiter haben sich dann vor dem Eingang des RAW versammelt und forderten hier die Freilassung der Streikleiter. Gegen 10.00 Uhr haben jedoch bereits 10 % der Arbeiter die Arbeit wieder aufgenommen. Um 13.45 Uhr hatten bereits zwei Drittel der Arbeiter der Frühschicht ihre Arbeit aufgenommen. Zu einem Streik kam es auch in der Bahnmeisterei und im Bauzug Lübben, der jedoch um 12.00 Uhr durch die Wiederaufnahme der Arbeit durch die Arbeiter beendet wurde.
Bezirk Halle
Nach den vorliegenden Meldungen geht auch im Bezirk Halle die Streikbewegung zurück. In den größten Betrieben der Republik, dem Leunawerk »Walter Ulbricht« und den Buna-Werken, wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Lediglich kleinere Gruppen streiken noch.
In Eisleben dagegen sind die Arbeiter des Mansfeld-Kombinates »Wilhelm Pieck« zu einem erheblichen Teil nicht in die Gruben eingefahren. Lediglich 20 % der Arbeiter schlossen sich dem Streik nicht an. Die Provokateure setzen Losungen in Umlauf und beschimpfen Mitglieder des Politbüros und der Regierung.
Im RAW Halle wird gestreikt. Die Belegschaft beabsichtigt, eine neue BGL zu wählen. Die Personenbahnhöfe haben sich noch nicht angeschlossen, jedoch besteht eine gespannte Lage. Die Starkstrommeisterei arbeitet nicht. Im Reichsbahnamt kursieren folgende Parolen: »Die Sowjetarmee greift in die Regierungsgesetze ein. In Polen und in der ČSR herrschen dieselben Zustände wie bei uns. Wann beschließt die Regierung endlich Maßnahmen zur Preissenkung und zur Erhöhung der Renten um mindestens 40 %.«
Sämtliche Reichsbahndienststellen des Bahnhofes Wittenberg und der Waggonfabrik Dessau nahmen die Arbeit mit dem heutigen Schichtwechsel bzw. Schichtbeginn wieder auf. Im RAW Dessau ruhte um 13.00 Uhr die Arbeit noch. In den Räumen des RAW wurden zu dieser Zeit Versammlungen der Streikenden durchgeführt. Im Stellwerk Muldenstein wird ebenfalls gestreikt. Die Streikenden fordern neue Tariflöhne und die Beseitigung der Bilder von führenden Persönlichkeiten der Deutschen Demokratischen Republik.
Auf der Strecke von Wittenberg nach Bitterfeld wurden am 17.6.1953, gegen 21.00 Uhr, handgeschriebene Hetzschriften gegen die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und gegen die SED gefunden.
Andere Anzeichen von Unruhen oder Demonstrationen sind nicht vorhanden.
Bezirk Leipzig
Im RAW Delitzsch forderte die Belegschaft Freilassung eines von der Kommandantur festgenommenen Arbeiters.
Bezirk Potsdam
Nach einer Meldung um 14.00 Uhr befanden sich die Arbeiter des Stahlwerkes Hennigsdorf noch immer im Streik. Sie saßen vor dem Betrieb und wollten wieder eine Demonstration beginnen. Diese Demonstration versuchten sie unter der Losung »Aufhebung des Ausnahmezustandes und Freilassung der Festgenommenen« durchzuführen. Die eingesetzte Grenzpolizei, die vor dem Werk Aufstellung nahm, verhinderte diese Demonstration. Ein Aufklärungswagen forderte die Arbeiter zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit auf. Kurze Zeit später wurde gemeldet, dass ein Teil der Arbeiter bereits diesem Rufe gefolgt ist. Es befanden sich jedoch Gruppen von Personen im Werk, die die Arbeiter an der Wiederaufnahme der Arbeit hinderten. Durch den Betriebsschutz wurde versucht, dieselben auf die Straße hinauszutreiben, um sie dann auseinanderjagen zu können. Im LEW Hennigsdorf haben die Arbeiter die Arbeit wieder aufgenommen.
In Falkensee streiken der Metallverarbeitungsbetrieb und die Chemischen Werke. Im Geräte-Werk Falkensee wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Auch in Potsdam beteiligten sich insbesondere die Arbeiter des RAW am Streik. Um 10.00 Uhr legten 80 Mann die Arbeit nieder. Um 13.15 Uhr wurde bereits gemeldet, dass alle Arbeiter des RAW Potsdam streiken. Um 13.45 Uhr wurde mitgeteilt, dass nur 80 Mann wegen der Normen streiken. Offensichtlich stimmt die Meldung um 13.15 Uhr nicht. Um 1.30 Uhr wurde im RAW Potsdam wieder vollständig gearbeitet. Ebenso nahmen die Arbeiter des RAW Kirchmöser ihre Arbeit wieder auf. Hier hatten 2 500 Beschäftigte wegen Herabsetzung der Normen und der Forderung nach Freilassung von Verhafteten gestreikt.
Die Bauarbeiter der Bahnmeisterei Großbeeren5 wollten die Arbeit aufnehmen, wurden jedoch durch die Arbeiter von Ludwigsfelde daran gehindert. Im Bauabschnitt Birkenwerder–Hennigsdorf der Reichsbahn streikte hauptsächlich die Privatfirma Schweißer. Die Arbeiter stellten hier die Forderungen nach freien Wahlen, Erhöhung der Renten, Aufhebung des Ausnahmezustandes und Einheit Deutschlands. Im Bw Bohnsdorf wurde in einer Kurzversammlung beschlossen, die von der Regierung wieder um 10 % gesenkten Normen beizubehalten.
Im Übrigen scheint sich auch in Potsdam die Lage beruhigt zu haben. Die Streikbewegung bricht völlig zusammen.
Bezirk Gera
Im Bezirk Gera scheint ebenfalls eine Beruhigung eingetreten zu sein. Lediglich in der Stadt Saalfeld gibt es Zusammenrottungen von ca. 50 Bauarbeitern aus der Maxhütte Unterwellenborn. Die in der Maxhütte beschäftigten Bauarbeiter streiken und fordern die Freilassung der von der Volkspolizei festgenommenen Provokateure. Die Arbeiter der Maxhütte streiken nicht. Ihre Stimmung ist gut. Sie treten gegen die Streikenden auf und versuchen, diese zu veranlassen, die Arbeit wieder aufzunehmen.
Bezirk Magdeburg
Aus dem Bezirk Magdeburg sind ebenfalls nur wenige Meldungen eingetroffen. Lediglich die Mitteilung, dass in Halberstadt im RAW die Arbeit seit 8.00 Uhr ruht, die Arbeiter jedoch um 10.30 Uhr die Arbeit wieder aufgenommen haben. Sie beabsichtigen, eine Delegation zu wählen, die ein Schreiben an den Ministerpräsidenten senden sollte mit der Forderung um Aufhebung des Ausnahmezustandes für Berlin und Rücktritt der Regierung.
Bezirk Erfurt
Im Waggonbau LOWA wurde um 12.00 Uhr die Arbeit wieder aufgenommen. In der Firma Pels6 in Erfurt hatte sich die Lage beruhigt, fing jedoch wieder an zu gären. Die Arbeiter stellen dabei die Forderung nach Abzug der Volkspolizei und der sowjetischen Truppen.7
Bezirk Karl-Marx-Stadt »W«8
Die Arbeit in den Schächten und Objekten verläuft völlig normal. Die Kumpel im Objekt 37 verfassten eine Protestresolution gegen die Streikenden. Sie verpflichteten sich, ihre Wachsamkeit zu verstärken und die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu unterstützen. Um 12.00 Uhr versammelten sich in Gera am Markt wieder Menschen. Eine Kolonne Bergarbeiter war unterwegs von Pößneck nach Neustadt.
Bezirk Dresden
In Dresden gibt es noch einige Unruhen. Neue Ansammlungen wurden auf dem Flugplatz Bremenhain, in den Werken Stahlbau Niesky, LOWA Niesky, dem Dachziegelwerk Kodersdorf und anderen kleineren Betrieben festgestellt, in denen gestreikt wurde. In Ruetschen,9 Kreis Niesky, bestehen bewaffnete Banden, gegen die die KVP mit Waffengewalt zur Liquidierung vorgeht.
In Görlitz arbeiten folgende Betriebe noch nicht: LOWA, EKM (Gießereiarbeiter und Kesselschmiede sollen anfangen), VEB Wolltuch, KEMA und Feinoptik.
In Arnsdorf sollte um 11.00 Uhr ein Streik von der BHG, den Granitwerken und Großbauern durchgeführt werden. Nach Arnsdorf wurde ein Kommando [der] KVP geschickt.
In Gröditz ist die Situation völlig verändert. Die Arbeiter ziehen sich allmählich ins Werk zurück, obwohl sie noch nicht vollständig die Arbeit aufgenommen haben. Im Stahlwerk Riesa wird in drei Betrieben noch nicht gearbeitet. In Dresden hat das VEM »Turbine« mit 700 Mann Belegschaft die Arbeit niedergelegt. Das RAW Schlauroth hat um 10.00 Uhr die Arbeit wieder aufgenommen. In Löbau wurden Flugblätter mit einem Aufruf zu Demonstrationen gefunden.
Bezirk Frankfurt/Oder
Um 13.15 Uhr wurde gemeldet, dass in Stalinstadt die Bauarbeiter streiken. Sie wollen 75 % Fahrpreisermäßigung für Arbeiterrückfahrkarten. Im Reichsbahnausbesserungswerk wurde von 6.00 bis 9.30 Uhr die Arbeit niedergelegt, weil Angehörige der Kreiskommandantur des Gebietes das RAW betreten haben. Nach Diskussionen gingen die Arbeiter ihrer Beschäftigung wieder nach.