Lage in Berlin und in den Bezirken
[Ohne Datum]
Zusammenfassender Bericht über die Lage in Groß-Berlin und in der DDR in der Zeit vom 19.6.1953, 14.00 Uhr, bis 20.6.1953, 10.30 Uhr [Meldung Nr. 16/53]
I. Groß-Berlin
Die Lage in den Betrieben im demokratischen Sektor von Groß-Berlin hat sich in den Nachmittagsstunden des 19. Juni nicht wesentlich verändert. Im Durchschnitt arbeiten die Betriebe zu 75–80 %. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich die Lage in den Betrieben weiterhin stabilisiert und die Zahl der Arbeiter, die ihre Arbeit aufnehmen, sich am 20.6. erhöht (im Augenblick liegen die Angaben noch nicht vor, wie hoch die Arbeitsaufnahme am 20.6. ist).
Der Bezirk Köpenick meldet eine 90%ige Arbeitsaufnahme (Meldung vom 19.6.). Der Bezirk Treptow meldet, dass in den 39 Betrieben des Bezirkes zu 90 % gearbeitet wird. Der Bezirk Lichtenberg meldet, dass in den Betrieben eine durchschnittliche 90%ige Arbeitsaufnahme zu verzeichnen ist. Z. B. arbeitet das Kraftwerk Klingenberg zu 95 %. Der Deutsche Kraftverkehr arbeitet zu 90 %. Der Bezirk Mitte meldet, dass in den Betrieben zu 70 % die Arbeit aufgenommen ist. Alle Betriebe im Bezirk Pankow arbeiten vollzählig. Wie eine Meldung vom 20.6. besagt, arbeitet die Belegschaft von Bergmann-Borsig zu 98 %.
Es gibt nur noch wenige Betriebe, in denen eine verhältnismäßig geringe Zahl von Arbeitern die Arbeit wieder aufnahmen [sic!]. Z. B. arbeitet die Baustelle Staatsoper am 19.6. zu 30 %, die Medizinische Gerätefabrik Chausseestraße arbeitet zu 60 %.
Besondere Unruhen oder sonstige Zwischenfälle in den Betrieben waren nicht zu verzeichnen. In einzelnen Betrieben wird jedoch versucht, durch gegnerische Arbeit erneut Unruhe zu stiften. Z. B. hat im Chemischen Werk Grünau die Gewerkschaftsleitung eine Resolution verfasst, die besagt, dass die Rädelsführer nicht bestraft werden sollen, da sonst die Arbeit niedergelegt wird.
Im Betrieb Medizinische Gerätefabrik, Bezirk Mitte, wurde am 19.6. der Haupträdelsführer festgenommen. Der Parteisekretär, der von der Festnahme erfahren hatte, erschien sofort beim VP-Revier und wollte gegen die Festnahme protestieren. Er begründete es damit, dass die Festnahme des Rädelsführers zu erneuter Arbeitsniederlegung führen könnte.
Im DEFA-Kopierwerk im Bezirk Köpenick gingen fünf DEFA-Angehörige bei der Festnahme eines Provokateurs tätlich gegen VP-Angehörige vor und forderten die Kollegen der Kodak zu Demonstrationen auf.
Im EAW J. W. Stalin wurden durch eine Frau im Betrieb Unterschriften für die Freilassung der verhafteten Kollegen und Bezahlung der Streiktage gesammelt. Im gleichen Betrieb wurde gegen 14.00 Uhr (19.6.) bemerkt, dass ein Belegschaftsmitglied von Abteilung zu Abteilung ging und versucht hat, die Arbeiter erneut zum Streik zu bewegen. Des Weiteren erhielten wir aus diesem Betrieb die Meldung, dass ein weibliches Belegschaftsmitglied in ihrer Wohnung westliche Agenten verbirgt.
Zwei Jugendliche, die im VEB Ausbau beschäftigt sind und sich aktiv an den Provokationen beteiligt haben, sind am 19.6. von Baustelle zu Baustelle gefahren und haben die Arbeiter zum Streik aufgefordert.
Im Augenblick ist zu bemerken, dass die offene gegnerische Arbeit ziemlich nachgelassen hat, abgesehen von vereinzelten kleineren Vorkommnissen.
Wie eine Meldung vom 19.6.1953 besagt, sind Studenten der Technischen Hochschule sowie Studenten medizinischer Fakultäten aus Westberlin mit dem Auftrag in den Demokratischen Sektor gekommen, neue Unruhen zu schüren und die Aktion des Gegners zu unterstützen. Weiterhin wurde beobachtet, dass am 19.6., gegen 18.00 Uhr, hinter dem ehemaligen Gestapogebäude1 sich eine Gruppe von ca. 150 Personen bildete.
Zur weiteren Festigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit wurden von den Sicherheitsorganen die notwendigen Maßnahmen durchgeführt. Eine Anzahl von Personen wurde wegen provokatorischen Verhaltens und tätlicher Angriffe gegen einzelne Bürger des Demokratischen Sektors von Groß-Berlin festgenommen. Weiterhin wurde eine Reihe von Personen aufgeklärt, die sich besonders aktiv an den Provokationen am 17.6. beteiligten. Die Stimmung und Einsatzfreudigkeit der Angehörigen der Sicherheitsorgane ist trotz der großen Anforderungen weiterhin gut. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die Lage in den letzten 24 Stunden von Stunde zu Stunde stabilisierte. Auch an den Sektorengrenzen gab es keine besonderen Vorkommnisse.
[II. Bezirke]
Aus der überwiegenden Anzahl der Bezirke liegen seit dem 19.6., 14.00 Uhr, keine Berichte mehr vor. Daraus ist zu entnehmen, dass sich die Lage in diesen Bezirken wieder normalisiert hat. In einigen Bezirken gibt es noch Anzeichen der Streikbewegung. Jedoch handelt es sich hierbei nur noch um kleine Gruppen. Demonstrationen wurden von keinem der Bezirke gemeldet.
Bezirk Gera
Aus dem Bezirk Gera liegt nur ein Bericht vor. In diesem wird mitgeteilt, dass in dem VEB Geraer Woll- und Seidenweberei am Morgen des 18.6.1953 600 Arbeiter die Arbeit niedergelegt haben. In einer Resolution fordern sie u. a.:
- 1.
freie Wahlen,
- 2.
Entlassung der politischen Gefangenen von 1945 an,
- 3.
sofortige Verbesserung der Lebenslage der politischen Gefangenen bis zur Entlassung,
- 4.
Entlassung der Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion,
- 5.
Auflösung der HO,
- 6.
Beseitigung des Ausnahmezustandes,
- 7.
Rücktritt der Regierung,
- 8.
Abzug der Besatzungsmächte,
- 9.
Beseitigung der Zonengrenzen.
Ein sowjetischer General der Heeresgruppe sprach zur Belegschaft, die nach der Ansprache um 13.00 Uhr die Arbeit wieder aufnahm. Der Betrieb wurde vorher von drei Zügen der VP und KVP umstellt. Ebenso standen einige Lastwagen sowjetischer Soldaten vor dem Betrieb.
Bezirk Karl-Marx-Stadt
Aus den uns vorliegenden Berichten geht hervor, dass keinerlei Streiks und Demonstrationen im Bezirk Karl-Marx-Stadt mehr stattgefunden haben. Jedoch ist eine verstärkte Vertreibung von Hetzschriften und Flugblättern zu verzeichnen. Z. B. wurde am 18.6.1953 in Reichenbach in der Gemeinde Brunn in mehreren öffentlichen Gebäuden eine Anzahl Hetzschriften gefunden. Der Inhalt der Hetzschriften und Flugblätter entsprach den üblichen Losungen. Weiter wurden Hetzschriften und Flugblätter in den Kreisen Hainichen, im IFA-Kfz-Werk Horch in Zwickau sowie im Kreisgebiet Freiberg gefunden.
Weiter wird berichtet, dass am 18.6. in dem AIGA2 Auerbach in der Abteilung Mischerei eine Belegschaftsversammlung stattfand. Aus der Versammlung erhob sich die Forderung, den anwesenden Mitarbeiter der Volkspolizei, Abteilung K,3 aus dem Betrieb zu entfernen. Mehrere Personen fanden sich unter der Losung: »Nieder mit der VP« zusammen und entfernten diesen Mitarbeiter.
Auch aus Glauchau wird berichtet, dass am 18.6.1953, gegen 19.45 Uhr, ein fliegender Ballon gesichtet wurde. Das Suchen nach dem Ballon an seiner Niedergangsstelle war vergebens. Es wurden lediglich einige verbrannte Papierfetzen und zwei Drahtstreifen gefunden. Es wird vermutet, dass solche Ballons an leicht entzündbaren Stellen Brände verursachen sollen.
Erst am 19.6. wird berichtet, dass am 16.6. in Berlin bei dem Staatssekretär Schlinder,4 Ministerium für Verkehr und Straßenwesen,5 eine Besprechung der Betriebsleiter der VVB Kraftverkehr stattfand. Dabei wurde folgende Anweisung gegeben: Alles vorhandene Benzin ist sofort frei zu verkaufen und zwar an private Kraftfahrzeughalter, vornehmlich aber an Betriebsangehörige, Preis pro Liter: 0,70 DM. Als Begründung wurde angegeben, dass genügend Benzin vorhanden wäre und die Reservelager bis zum 30.6.1953 entleert werden müssen, um den neu anrollenden Benzinkontingenten Platz zu machen, da die Benzinwerke sonst wegen Absatzschwierigkeiten in Stockung geraten könnten. Der Leiter der VVB Kraftverkehr Karl-Marx-Stadt gab am 17.6.1953 diese Anweisung an alle Objekte der VVB Kraftverkehr im Bezirk Karl-Marx-Stadt heraus. Im VVB Kraftverkehr Zwickau wurden bis 19.6., 11.30 Uhr, bereits mehrere Hundert Liter Benzin entsprechend dieser Anweisung verkauft.
Am 19.6.1953, 13.20 Uhr, wurde in Stollberg auf der alten Oelsnitzer Straße auf einem Baumstumpf eine aufgestellte Hitlerbüste gefunden. Ermittlungen sind bisher erfolglos. An der Tür eines Seminarraumes der Sonderschule des ZK in Hartmannsdorf wurde am 18.6. ein eingeritztes Hakenkreuz festgestellt. Da das Objekt gut gesichert ist und für fremde Personen nicht zugänglich, wird als Täter ein Beschäftigter der Schule bzw. ein Lehrgangsteilnehmer vermutet. Die angestellten Ermittlungen verliefen bisher ergebnislos.
Bezirk Halle
Aus dem Bezirk Halle liegt nur ein Bericht vor. Daraus ist zu schließen, dass Demonstrationen und Streiks nicht mehr stattfinden. Im Bezirk herrscht Ruhe.
In der Nacht vom 18. zum 19.6.1953 sprangen im Kreisgebiet Sangerhausen aus unbekannten Flugzeugen sechs Fallschirmspringer ab.6 Einer wurde festgenommen und bei der Kommandantur eingeliefert. Dieser Fallschirmspringer ist deutscher Nationalität und war bei der Festnahme im Besitz von Waffen. Die übrigen fünf Fallschirmspringer konnten bisher nicht ermittelt werden.
Bezirk Dresden
Aus den wenigen aus Dresden vorliegenden Berichten geht hervor, dass keine Demonstrationen und Streiks mehr stattfinden. Im Allgemeinen herrscht im Bezirk wieder Ruhe.
Am 20.6.1953, gegen 0.45 Uhr, wurde ein Volkspolizist von drei Personen mit einer Bierflasche niedergeschlagen. Diese Tat wurde von den drei Personen während der Kontrolle ihrer Personalausweise durch den Volkspolizisten vollbracht. Die drei Personen wurden festgenommen.
Wie uns erst jetzt bekannt wird, wurde am 18.6. im Sachsenwerk Niedersedlitz eine Resolution verfasst, an der sich folgende Betriebe beteiligen: Sachsenwerk Niedersedlitz, ABUS Niedersedlitz, Plattenwerk Niedersedlitz, Glühlampenwerk Dresden, KMB Leipzig, Konstruktionsabteilung Niedersedlitz. In dieser Resolution wurden die üblichen Forderungen gestellt. Durch die Bezirksleitung der Partei in Dresden wurde mitgeteilt, dass an der Anfertigung dieser Resolution ein Vertreter des Bezirksvorstandes der IG Metall, Kluge,7 und ein Vertreter des Zentralvorstandes der IG Metall, Schulz,8 beteiligt waren. Schulz ist am 18.6. um 18.00 Uhr nach Berlin abgereist. Kluge wurde sofort in Haft genommen.9
In der Großgarnspinnerei Löbau wurden in der Nacht vom 18. zum 19.6. 20 Flugblätter mit dem Text: »Generalstreik am 19. Juni«, die mit der Hand geschrieben worden waren, gefunden.
Bezirks Potsdam
Im Bezirk Potsdam wurde in allen Betrieben die Arbeit wieder aufgenommen. Lediglich die Einsatzstelle Vogelsang der Bau-Union Potsdam arbeitet noch nicht vollständig. Eine völlige Aufklärung konnte noch nicht erfolgen, da es sich hierbei um ein sowjetisches Objekt handelt. Bisher ist bekannt, dass von 850 Beschäftigten ca. 60 arbeiten. Es hat eine Säuberungsaktion der Freunde stattgefunden.
Aus Brandenburg wird gemeldet, dass von ca. 3 000 Arbeitern der Bau-Union ca. 10 % ihre Arbeit nicht angetreten haben. Es wird angenommen, dass diese Arbeiter aufgrund [von] Verkehrsschwierigkeiten nicht an ihre Baustellen kommen konnten. Es handelt sich hierbei vorwiegend um Berliner.
In der Gemeinde Schulzendorf, Kreis Krossen,10 fand am 18.6.1953 in den Abendstunden eine Versammlung statt, in der eine Resolution von ca. 30 Personen verfasst wurde. Diese Resolution enthielt Forderungen nach Herabsetzung des Getreidesolls, Wahl von wirklichen Interessenvertretern der Bauernschaft in der VdgB und klare Richtlinien über die Rückkehr geflüchteter Bauern.
Es gelang nach eingehenden Ermittlungen, die Mörder des Arbeiterfunktionärs Hagedorn auf Rathenow festzunehmen und zu überführen. Es handelt sich um zwei junge Rowdys von 18 Jahren. Beide haben gestanden, dass sie den Genossen Hagedorn grausam misshandelt haben, sodass er an diesen Misshandlungen verstarb.11
Bezirk Magdeburg
Im Bezirk Magdeburg wurde bis zum gestrigen Abend in einigen Betrieben noch gestreikt. In der Stadt Magdeburg wurde überall die Arbeit aufgenommen.
Im Elektromotorenwerk Wernigerode wird bis jetzt noch gestreikt. Nur 8 % der Beschäftigten haben bisher die Arbeit wieder aufgenommen. Die Streikleitung wurde verhaftet.12 Im Postamt Wernigerode und im RAW wurde die Arbeit heute Morgen wieder aufgenommen. Die Streikleitungen wurden verhaftet.
Aus Ilsenburg wird berichtet, dass das Kupferblechwalzwerk und das VEB Radkraftwerk heute Morgen die Arbeit wieder aufgenommen haben. Alle Streikleitungen, insgesamt 25 Personen, wurden verhaftet. Aus Staßfurt wird berichtet, dass alle Betriebe die Arbeit wieder aufgenommen haben. Die Lage ist normal.
Der Kreisbaubetrieb Halberstadt (ca. 200 Mann Belegschaft) hat die Arbeit bisher noch nicht wieder aufgenommen. Die Streikleitung wurde festgenommen. Weiterhin wird aus Halberstadt berichtet: Am Nachmittag des 19.6.1953, zwischen 15.00 Uhr und 19.30 Uhr, begab sich eine Delegation der streikenden Betriebe zum Vorsitzenden des Rates des Kreises (insgesamt 50 Personen). Dieser Delegation gehörten u. a. die Streikleitungen folgender Betriebe an: EKM Schwermaschinenbau,13 VEB Kreisbaubetrieb, Metallbaubetrieb und einige kleinere Betriebe. Diese Delegation forderte vom Vorsitzenden des Rates:
- 1.
Aufhebung des Ausnahmezustandes, sofortiges Verschwinden der sowjetischen Truppen und Freilassung der politischen Gefangenen,
- 2.
die üblichen bekannten Forderungen des RIAS.
Sie erhielten vom Vorsitzenden des Rates als Antwort, dass er das nicht allein entscheiden könne. Sie müssten noch einmal zusammenkommen. Daraufhin wurde vom Vorsitzenden des Rates der Militärkommandant der Stadt informiert. Dieser erklärte die Forderungen für unannehmbar und bezeichnete den Streik als Aufruhr. Der Vorsitzende des Rates des Kreises gab diese Antwort an die Delegation der streikenden Betriebe weiter. Ein bei dieser Verhandlung anwesender Genosse der Bezirksleitung der Partei berichtete, dass der Vorsitzende des Rates zum Ausdruck gebracht hat, dass er mit den Forderungen der Streikenden einverstanden wäre. 47 Angehörige dieser Delegation wurden in der Nacht vom 19.6. zum 20.6.1953 verhaftet. Am Morgen des 20.6.1953 wurde auch der Vorsitzende des Kreisrates festgenommen. Am 20.6.1953 früh nahmen alle Betriebe mit Ausnahme des Kreisbaubetriebes die Arbeit wieder auf.14