Lagebericht und Bilanz zum 17. Juni (1)
19. Juni 1953
Information Nr. 1 [Meldung Nr. 12/53]
I. Politische Lage
Der demokratische Sektor Berlins erreicht wieder den normalen Zustand. In den Betrieben wird wieder voll gearbeitet bis auf einen Teil der Arbeiter, die im Westsektor wohnen. Ab heute ist die Partei in den Betrieben wieder aktiv geworden und führt Betriebsversammlungen durch. In einigen Betrieben wurde durch die Diskussionsredner der Partei nicht der Arbeitsprozess gefördert, sondern die Arbeiter von der Arbeit abgehalten. Z. B. fasste eine Parteibetriebsgruppe den Beschluss die Saboteure nicht mehr im Betrieb zuzulassen, ohne die Belegschaft für diesen Beschluss zu mobilisieren.
Die Stimmung der Arbeiter ist zum Teil zurückhaltend. Die Partei wird von einem großen Teil der Belegschaft in diesen Betrieben nicht anerkannt. Ein Teil der Arbeiter, die aufgrund berechtigter wirtschaftlicher Forderungen glaubten mitstreiken zu müssen, äußerten: »Niemals wären wir mitgegangen, wenn wir gewusst hätten, dass sich ein solches Banditentum entwickeln würde.«
Stimmungen aus den Kreisen der Bevölkerung
Stimmungen und Verhalten der Bevölkerung, die nicht an den Ausschreitungen teilnahm:
Ein großer Teil der Bevölkerung verhielt sich passiv. Konzentrierte Maßnahmen vonseiten der Partei und der Jugend wurden nicht sichtbar. Der positive Teil der Bevölkerung blieb passiv, weil er die wirtschaftlichen Maßnahmen der Regierung nicht guthieß. Ein anderer Teil der Bevölkerung, der auch die wirtschaftlichen Maßnahmen nicht guthieß, hat das Verhalten dieser Streikenden verurteilt.
Das Eingreifen der Besatzungsmacht wurde von einem großen Teil der friedliebenden Bevölkerung begrüßt. Ein Teil lehnte den Einsatz der sowjetischen Besatzungstruppen und die Verhängung des Ausnahmezustandes ab.
Unter den Bauarbeitern ist die Stimmung noch schlecht. Es arbeitet nur ein Teil.
Große Diskussion löst jetzt die Frage aus: »Werden die Tage bezahlt oder nicht?«
Im Allgemeinen ist die vorherrschende Meinung, dass es gut ist, dass wieder Ruhe und Ordnung herrscht.
II. Zahl der Verluste auf beiden Seiten
Ohne Veränderung.1
III. Zahl der Verhafteten von Anfang des Streiks
Verhaftungen durch MfS, einschließlich Berliner Verwaltung und VP, aus demokratischem Sektor Berlins: 1 406, aus Westberlin: 260, insgesamt: 1 666.
Darunter befinden sich zwei komplette Streikleitungen und fünf, die die Funktion einer solchen ausübten.
Verhaftet wurden die Streikkomitees von:
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KWO Köpenick,
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Bergmann-Borsig,
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RFT Treptow,
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KW Karl Liebknecht,
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VEB Ausbau,
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KWO Oberspree,
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VEB »7. Oktober«.
Insgesamt 37 Personen plus vier besondere Rädelsführer.
IV. Was wurde bei den Vernehmungen festgestellt?
a) Konnten Angaben über die Leitung der Streikbewegung festgestellt werden?
Ausgangspunkt war der Industriebau, Bauabschnitt Krankenhaus Friedrichshain. Dort beschloss die BGL den Streik für Montag.2
Es wurde durch die Vernehmungen festgestellt, dass die Mitglieder der Gewerkschaftsleitung in den Betrieben zum großen Teil die Organisatoren waren oder mitmachten. Bisher einzelne Vernehmungen zeigen die Möglichkeit, dass die Organisatoren sogar in der höchsten Spitze der Gewerkschaftsleitung sitzen müssen.
Die Verbindung zum Ostbüro der SPD3 und zur NGO4 ist durch die Vernehmungen noch nicht erbracht worden. Die Beteiligung der imperialistischen Geheimdienste ist festgestellt worden.
b) Was verursachte die Teilnahme an der Demonstration?
- 1.
Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage. Unzufriedenheit über viele Maßnahmen der Regierung.
- 2.
Bewusste Gegnerschaft gegen die DDR unter weitgehender Ausnutzung der berechtigten Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung.
- 3.
Banditen, Provokateure und Agenten, offene bezahlte Feinde.
V. Lage in der DDR
Im Allgemeinen normal. Einzelne Schwierigkeiten gibt es noch in den Bezirken Magdeburg und Halle.
Festgestellt werden muss, dass in der DDR besonders die Bauarbeiter der Bau-Unionen auch heute noch zu streiken versuchen und der geringste Teil von ihnen arbeitet. Das trifft zu für die Bezirke Cottbus, Neustrelitz, Karl-Marx-Stadt in Freiberg und Frankfurt/Oder.