Stimmung zu den Ereignissen vom 17. und 18. Juni
20. Juni 1953
Stimmungsbericht über die Ereignisse am 17.6. und 18.6.1953 [Meldung Nr. 14/53]
Im Allgemeinen ist eine Beruhigung unter der Bevölkerung festzustellen. Jedoch verhalten sich Teile der Bevölkerung noch sehr abwartend in ihrer Meinung zu den Ereignissen am 17. und 18.6. und auch in ihrer Stellung gegenüber der Regierung. Es verbreitet sich aber immer mehr die Auffassung, dass die faschistische Provokation am 17. und 18.6.1953 das Werk westlicher Elemente gewesen ist und die Arbeiter nichts damit zu tun haben wollen. Die Werktätigen distanzieren sich von den Schlägermethoden, die in diesen Tagen angewandt wurden.
Die Mitglieder der SED und die Parteilosen, die im ADN beschäftigt sind, suchten im Rahmen der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands die Familien ihres Patenbezirkes auf, um sich mit ihnen über die Ereignisse des 17. und 18.6. in Berlin zu unterhalten. Die Kollegen sprachen mit den Familien in elf Häusern in der Kastanienallee und der Zionskirchstraße. Die Bewohner dieses Viertels sind ausgesprochen werktätige Menschen. Übereinstimmend sagten alle Männer und Frauen aus, dass sie die Ausschreitungen und Exzesse der Westberliner Rowdys verurteilen.
Ein Berliner Arbeiter erklärt: »Ich bin Arbeiter und habe deshalb die feste Überzeugung, dass kein Arbeiter eine rote Fahne verbrennt. Hier handelt es sich offensichtlich um Westberliner Agenten, die Unruhen in der Bevölkerung stiften wollten. Gerade jetzt, wo die Verhandlungen über die Deutschlandfrage vor der Tür stehen, versuchen die Faschisten, ihre Pläne, die Anzettelung eines Krieges, in die Tat umzusetzen.«
So äußerte sich z. B. [Vorname Name 1], ca. 45 Jahre alt, wohnhaft in Plauen, [Straße]: »Es ist schon richtig, was die sowjetische Besatzungsmacht getan hat, und die Arbeiter sind selbst schuld, dass es so weit gekommen ist, denn wenn man Demonstrationen macht, dann schlägt man nichts kaputt und zerstört keine Einrichtungen. Jetzt müssen sie den Mist, den sie verbockt haben, eben auch verantworten.«
Es gibt aber auch zahlreiche Meldungen über negative Äußerungen von Teilen der Bevölkerung zu den Ereignissen am 17. und 18.6.1953. Hier äußert man, dass die Arbeiter richtig gehandelt haben, wenn sie Streiks und Demonstrationen durchgeführt und damit Unruhen geschaffen haben. Es wird dabei geäußert, dass die Regierung Fehler gemacht habe und deshalb abtreten müsse. Dies ist bekanntlich die Losung der westlichen Agenturen, die in den Tagen des Aufruhrs verbreitet worden ist. Diese Losung wird auch heute noch in Gesprächen angewandt.
Der Transportarbeiter [Name 2], der parteilos ist, sagte in seiner Abteilung des I-Werkes1 Plauen: »Wenn wir kleine Fehler gemacht haben, die gar keinen großen Schaden aufweisen, wurde man zur Sau gemacht und von einer Kommission nach der anderen durchgemüllert, da hieß es Sabotage. Ich bin der Meinung, wenn die Regierung Fehler macht, wo ein ganzes Volk darunter leiden muss, so ist sie unfähig, ein Volk zu führen und deshalb muss sie weg.«
Der Amtsrichter Rudolf Renner, wohnhaft in Auerbach, [Straße Nr.], der Mitglied der LDPD ist, sagte: »Die Regierung müsste einsehen, dass sie nicht mehr tragbar ist. Wenn die Regierung von der Roten Armee gehalten wird, so ist es wohl unsere Regierung, aber nicht der Wille des Volkes. Es müsste eine Regierung kommen, die vom Volk gewählt wird.«
Der beim Rat der Stadt Aue beschäftigte [Vorname Name 3], wohnhaft in Aue, [Straße], ca. 30 Jahre alt und Mitglied der SED, erklärte: »Unsere VP hat in Berlin auf unsere Arbeiter geschossen. Das ist äußerst beschämend, dass die roten Fahnen von den Baustellen heruntergeholt wurden, ist nur allzu verständlich. Wenn unsere Regierung derartige Fehler gemacht hat, die solche Nachteile mit sich brachten, so muss sie abtreten.«
Auch [Vorname Name 4], ca. 40 Jahre alt, beschäftigt beim Kreisrat Aue, Werbeabteilung, wohnhaft in Aue, [Straße Nr.], erklärte: »Die Regierung, die Fehler machte, muss abtreten, da doch die Möglichkeit besteht, dass sich die Fehler wiederholen. Ich bin der Meinung, dass Walter Ulbricht von der Bildfläche verschwinden muss.«
Da diese Meinung bei verschiedenen Teilen der Bevölkerung eine gewisse Einheitlichkeit zeigt, ist anzunehmen, dass es sich hierbei um Meinungen handelt, die von westlichen Agenturen in die Bevölkerung hineingetragen wurden.
Über die Maßnahmen der Besatzungsmacht in den verschiedensten Gebieten der Republik und in Groß-Berlin gibt es die verschiedensten Auffassungen. Die uns vorliegenden Stimmungsberichte zeigen, dass ein sehr großer Teil der Bevölkerung mit diesen Maßnahmen der Besatzungsmacht einverstanden ist, weil dadurch ein größeres Blutvergießen verhindert wurde und die Ruhe und Ordnung am schnellsten wieder hergestellt wird, sodass bald wieder völlig normale Verhältnisse herrschen werden.
Der im Messgerätewerk Zwönitz als Verkaufssachbearbeiter beschäftigte [Name 5], wohnhaft in Jahnsdorf, parteilos, sagte: »Ich will nicht feststellen, ob die Provokateure aus Westberlin stammen oder ob es sich um irgendwelche Elemente aus Ostberlin handelt. Die darauf erfolgte Verhängung des Ausnahmezustandes kann nur anerkannt werden, da dadurch die Möglichkeit geschaffen wird, wieder Ruhe und Ordnung eintreten zu lassen.«
Im Horch-Werk Zwickau beantragten 37, zum Teil jüngere Kollegen als Antwort auf den Versuch von Provokateuren, im Betrieb einen Sitzstreik zu organisieren, ihre Aufnahme als Kandidaten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
Der Transportarbeiter [Name 6] aus Karl-Marx-Stadt erklärt, dass er froh ist, dass die Provokationen zurückgeschlagen wurden; denn diese Feinde wollen den Krieg, den wir 1939 bis 1945 erlebt haben und nicht noch einmal erleben wollen. »Aller Wahrscheinlichkeit nach müssen unsere Staatsorgane gut gearbeitet haben, da sie in kurzer Zeit dies bereinigt haben, und wir hoffen, dass bald der Ausnahmezustand aufgehoben wird.«
Es gibt aber eine Reihe negativer Auffassungen über die Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht.
Die Arbeiterin [Vorname Name 7], wohnhaft in Werder, tätig im RAW Potsdam, äußerte, dass sie es komisch findet, dass der Russe eingegriffen hat, wo es sich doch bei der ganzen Sache um eine rein deutsche Angelegenheit handelt. Dabei bemerkt sie: »Die Russen wollen nun unsere Freunde sein.«
In der Neptun-Werft diskutierte eine Gruppe von 20 Personen folgendermaßen: »Die Russen sollen vom Tor verschwinden, mit diesen haben wir nichts abzumachen. Das ist jetzt unsere Angelegenheit. Wenn VP dort hingestellt wird, werden wir auch wieder arbeiten.«
Der Dreherlehrling [Name 8] aus dem Schwermaschinenbau »7. Oktober« in Magdeburg sagte Folgendes: »Die Russen sind alles feige Hunde. Sie fahren mit Panzern und Geschützen gegen wehrlose Menschen, und das nennt sich dann noch deutsch-sowjetische Freundschaft.«
Bedauerlicherweise haben auch Mitglieder der SED eine schwankende bzw. feindliche Haltung gegenüber der Politik der Partei und der Regierung in diesen kritischen Tagen eingenommen.
Der Kreisschulrat Werner Krußk2 aus Schwarzenberg, 38 Jahre alt, Mitglied unserer Partei, erklärte: »So konnte es nicht mehr weitergehen. Man konnte sich doch gar nicht getrauen, einen falschen Zungenschlag zu machen. Sofort musste man bei der Kreisleitung erscheinen. Es muss sich vieles ändern, um normale Verhältnisse wieder zu bekommen.«
In Flecken Zechlin, Kreis Neuruppin, äußerte sich der Genosse [Name 9] zu fortschrittlichen Genossen, dass er mit ihnen nichts mehr zu tun haben will, da ja keine Arbeiterregierung mehr existiere.
Der Arbeiter [Name 10] von der Derutra Rostock, Mitglied unserer Partei, diskutierte folgendermaßen: »Hunderte von Menschen sind hingemordet worden. Es ist bedauerlich, dass unsere Regierung keine Mitteilung davon macht. Es ist ein gutes Zeichen, dass sich die Menschen überall zur Wehr setzen, nicht nur in Berlin, sondern auch in Rostock. Es ist beschämend und ich bin traurig, dass bei uns in der Derutra alles so ruhig ist.«
Aus den Stimmungsberichten geht hervor, dass in der Bevölkerung das Gerücht kursiert, dass der Präsident unserer Republik, Genosse Wilhelm Pieck, schon längere Zeit nicht mehr am Leben sei.3 So erklärte der Parteilose, [Vorname Name 11], ca. 30 Jahre alt, wohnhaft in Tannenberg, Angestellter, Folgendes: »Der Untergang der Deutschen Demokratischen Republik hat begonnen. In Kürze wird von unserer Regierung keiner mehr da sein. Ein acht Jahre geknechtetes Volk will seine Freiheit wieder. Wilhelm Pieck ist schon etliche Tage tot nach Meldung von Radio London.«
Über die Verhaftungen der Streikleitungen und Provokateure fand unter den Werktätigen keine allzu starke Diskussion statt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass eine gewisse Furcht herrscht, dass jene, die gegen die Verhaftung dieser Aufrührer diskutieren, ebenfalls als Provokateure betrachtet werden. Deshalb umgeht man die Frage möglichst stillschweigend.
Es ist dringend erforderlich, dass die Agitationsarbeit in den Betrieben und Häusern mit den Werktätigen verstärkt wird. Diese Agitationsarbeit muss dazu führen, dass vor den Werktätigen die Drahtzieher dieser faschistischen Provokationen entlarvt und die Maßnahmen der Regierung erläutert werden. Unter den Werktätigen wurde geäußert, dass sie besonders am 17.6.1953 auf ein Flugblatt des Politbüros der SED gewartet haben oder dass ein Mitglied des Politbüros zu den Fragen Stellung genommen hätte, um hier zugleich die feindlichen Provokateure zu entlarven und die Kampfaufgaben zu stellen. Ebenfalls bemängelte man, dass die Parteileitungen ungenügend den Kampf gegen die Feinde zentral geführt haben.