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Tagesbericht

20. November 1953
Informationsdienst Nr. 2025 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Über die Zerschlagung der feindlichen Agentenzentralen1 wird in den Betrieben, in denen Versammlungen mit Vertretern der Staatssicherheit durchgeführt wurden, offen und positiv diskutiert. Von solchen Versammlungen berichten die Bezirke Potsdam, Frankfurt/Oder, Magdeburg, Leipzig, Dresden und die Verwaltung Karl-Marx-Stadt »W«.2 Bis auf einige Ausnahmen im Bezirk Frankfurt/Oder sind alle Versammlungen erfolgreich verlaufen.

Übereinstimmend bringen die Arbeiter zum Ausdruck, dass die Reden der Vertreter der Staatssicherheit eine wertvolle Aufklärung über die Tätigkeit des Klassenfeindes und zugleich Anregung sind, um die Wachsamkeit in den Betrieben zu verbessern. In gleichem Maße, wie die Arbeiter wünschen, solche Versammlungen öfter durchzuführen, drücken sie Verwunderung darüber aus, dass nicht schon viel früher solche Versammlungen durchgeführt worden sind.

In einer sehr gut besuchten Versammlung im Ernst-Thälmann-Werk Magdeburg sprach in der Diskussion ein Ingenieur, er sagte u. a.: »Der Prozess gegen Geßler,3 der bei uns gearbeitet hat, lehrt uns, dass es notwendig ist, die Wachsamkeit zu erhöhen. Wir haben deshalb unsere Aggregate in persönlichen Schutz genommen, um sie gegen jeden Anschlag des Feindes zu schützen.«

Ein Arbeiter im Eisenhüttenkombinat West Calbe/Magdeburg sagte in der Diskussion: »Wir begrüßen es, dass die Vertreter der Staatssicherheit in die Betriebe kommen und zu den Arbeitern über die Methoden der feindlichen Agenturen sprechen. Wir lernen daraus, wie wir unseren Betrieb noch besser schützen können.«

Im VEB Heinrich Rau Wildau wurde eine Versammlung durchgeführt mit einer Teilnahme und einer Aufmerksamkeit, wie sie seit Langem nicht zu verzeichnen war.

Im IFA Phänomenwerk Zittau/Dresden sagte ein Arbeiter in der Diskussion: »Das ist sehr richtig, dass man über die Tätigkeit der Agenten und Saboteure einmal etwas aus dem Munde eines Funktionärs von der Staatssicherheit hört. Das hättet ihr schon früher machen können, da hätten die Kollegen schon früher erkannt, welche Elemente am 17. Juni am Werke waren.«

Im Bezirk Magdeburg wurden in allen Versammlungen Entschließungen einstimmig angenommen, in denen die Arbeiter den Angehörigen der Staatssicherheit danken und sich selbst verpflichten, gemeinsam mit den Organen der Staatssicherheit die Wachsamkeit zu erhöhen.

Im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« nahmen an bisher zwei durchgeführten Versammlungen insgesamt nur 150 Arbeiter teil. Diese völlig unzureichende Teilnahme ist auf ungenügende Vorbereitung zurückzuführen. Ähnlich sieht es im Kranbau Eberswalde aus.

Über Produktionsschwierigkeiten mit den mannigfaltigsten Ursachen – oft schlechte Planung durch zentrale Stellen – werden neue Beispiele bekannt. Das Kraftwerk Gispersleben/Erfurt erhält seit mehreren Tagen von einer anderen Grube Kohle, die derartig viel Schlacken abwirft, sodass die Öfen nach je 500 Arbeitsstunden gereinigt werden müssen, bei der Kohle die sonst geliefert wurde, wurde erst nach 2 000 Stunden gereinigt. Jetzt entsteht durch die schlechte Kohle ein beträchtlicher Produktionsausfall. Das Ministerium für Schwerindustrie hat entsprechende Hinweise und Hilferufe der Betriebsleitung bisher nicht beantwortet.

Im Kalischacht »Thomas Müntzer« in Worbis/Erfurt ist die Aufrechterhaltung der Produktion ernsthaft gefährdet, weil wichtige Ersatzteile für Schrapper4 und andere Geräte fehlen. Der Lieferbetrieb, ABUS Nordhausen, kann aber nicht liefern, weil er wiederum von anderen Betrieben nicht mit den notwendigen Materialien beliefert wird.

Wie die Initiative der Werktätigen gehemmt wird, zeigt ein Beispiel aus Leipzig. Im Fachbuchverlag verpflichtete sich das Lektorat Textil–Bekleidung–Leder bis zum 31.5.1954 außerplanmäßig zwei sowjetische Arbeitsanleitungen druckreif zu machen und fordern die Produktionsabteilungen auf, die Herstellung zu übernehmen. Der Vertreter des Verlagsleiters wandte dagegen ein, er wisse nicht, ob dafür Papier zur Verfügung stehe und lehnte die Veröffentlichung dieser Verpflichtung ab.

Handel und Versorgung

Mängel in der Kartoffelversorgung bestehen in den Bezirken Potsdam, Cottbus, Halle und in Berlin. Das Fehlen von Kartoffeln greift bereits von den Einzelverbrauchern auf Großverbraucher über. So mussten ab 17.11.1953 im LEW Hennigsdorf die Werksküchen geschlossen werden, da keine Kartoffeln vorhanden sind. Für Groß-Berlin haben die Kreise Neuruppin 52 %, Gransee 37 % und Angermünde 69,1 % der zu liefernden Kartoffeln geliefert.

Fehlende bzw. unregelmäßige Belieferung von Lebensmitteln, besonders Butter und Margarine in den Bezirken Rostock und Schwerin, Fleisch und Fisch im Bezirk Halle, wurde bekannt. Winterbekleidung fehlt besonders in den Bezirken Halle und Neubrandenburg. In Neubrandenburg fehlt es in der Hauptsache an Damenmänteln und Kinderbekleidung.

Schlechte Arbeitsweise des Ministeriums für Lebensmittelindustrie zeigt folgendes Beispiel: Die VEB Thüringer Öl- und Fettwerke Gotha müssen in Kürze die Produktion von Rohöl für die Margarinefabrikation einstellen, wenn keine Abverfügung erfolgt oder zusätzlicher Lagerraum zugewiesen wird. Die Margarinewerke Gera erhielten durch die Fettwerke Magdeburg Pflanzenöl vom Ministerium für Lebensmittelindustrie zugeteilt, obwohl dieses Öl in Gotha bestellt war. Dies steht im Widerspruch zum Vertragssystem und macht außerdem einen größeren Transportkostenaufwand notwendig.

Verlust von Zigaretten wurde aus dem Konsumlager Gransee/Potsdam gemeldet. Hier gingen der Versorgung 99 127 Stück Zigaretten (Saba, Ramses, Juno) durch unsachgemäße Lagerung (verschimmelt) verloren.

Landwirtschaft

Zum Monat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft gingen 40 werktätige Bauern aus Cammin/Neubrandenburg Verpflichtungen ein, landwirtschaftliche Produkte dem freien Aufkauf zur Verfügung zu stellen (84,83 dz Schweinefleisch, 442 kg Rindfleisch, 456 kg Raps und 100 kg Erbsen). Damit wollen sie ihre Verbundenheit zur SU zum Ausdruck bringen.

Schwierigkeiten bei der Ablieferung von Kartoffeln bestehen in den Bezirken Potsdam, Karl-Marx-Stadt und Halle. Während man als Hauptgrund schlechte Ernte angibt, tritt bei einigen Bauern, besonders bei Großbauern, eine bewusste Verweigerung zutage. Im Bezirk Potsdam geht man in mehreren Fällen bereits soweit, verstecke Kartoffelmieten anzulegen. In Webau/Halle fehlen 200 Ztr. Kartoffeln im Ablieferungssoll, die von den Bauern nicht mehr abgeliefert werden können, da keine Speisekartoffeln vorhanden sind, was durch eine Überprüfung auch festgestellt wurde.

Ein Bauer aus Hohenmölsen/Halle: »Wenn ihr von mir etwas haben wollt, so müsst ihr es euch selbst holen, aber dann könnt ihr auch gleich den ganzen Betrieb mitnehmen, denn die paar Kartoffeln, die ich noch habe, langen kaum fürs Vieh.« Ein Großbauer aus Königshain/Karl-Marx-Stadt: »Ich liefere dann ab, wenn ich Zeit habe.«

Im Wald der Gemeinde Gülpe/Potsdam wurde eine Kartoffelmiete gefunden, wo sich jedoch kein Besitzer meldete. Eine Großbäuerin aus Kerzlin/Potsdam gab eine eidesstattliche Erklärung ab, dass sie keine Kartoffeln mehr habe und nichts beliefern kann. Bei einer Kontrolle wurde aber bei ihr eine versteckte Kartoffelmiete mit 250 dz gefunden.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Die Erklärung des Genossen Molotow auf der Pressekonferenz5 begrüßt ein Teil der Bevölkerung, ein anderer Teil sieht in dieser Note keine Vorwärtsentwicklung in der Frage der Einheit Deutschlands. Im Allgemeinen diskutiert man über die Erklärung wenig.

Rentnerin aus Pasewalk/Neubrandenburg: »Wenn die Westmächte der letzten Note der SU und den Ausführungen Molotows folgen würden, könnten wir bald in Deutschland alle zusammenleben.«

In verschiedenen Kreisgebieten wie Rathenow, Neuruppin/Potsdam, diskutiert man in negativer Form darüber, dass mehrere Häuser für die sowjetische Armee geräumt werden sollen. Man bringt dabei zum Ausdruck, dass man einerseits Noten wechselt und den Abzug der Besatzungstruppen fordert, andererseits aber neue Wohnungen für Besatzungstruppen freimacht.

Über die Weihnachtszuwendungen6 wird unter den Arbeitern und Angestellten derjenigen Betriebe und Verwaltungen, die diese Vergünstigungen nicht erhalten, negativ diskutiert. Teilweise droht man mit Einstellung der Bezahlung der FDGB-Beiträge. Angestellter vom Rat der Stadt Stalinstadt: »Es ist schlecht, dass nur die Arbeiter und Angestellten der volkseigenen Betriebe das Weihnachtsgeld bekommen und wir keins.«

Angestellter der Deutschen Notenbank Penig/Karl-Marx-Stadt: »Wenn wir die Vergünstigungen nicht bekommen, sind wir nicht mehr gewillt, FDGB-Beiträge zu zahlen. Auch wir haben unseren Anteil an der Planerfüllung. Es hat sich doch in den kritischen Junitagen bewiesen, dass die Kollegen des Staatsapparates der Regierung die Treue gehalten haben.«

Über die Aufhebung der Interzonenpässe in Westdeutschland7 wird von der Bevölkerung in den Bezirken Suhl, Erfurt und Gera im Allgemeinen negativ diskutiert. Man bringt dabei zum Ausdruck, unsere Regierung verhindere die Einheit Deutschlands.

Einwohner von Gotha: »Jetzt braucht man in Westdeutschland keine Interzonenpässe mehr, da die westdeutsche Regierung keinen Wert mehr darauf legt, desgleichen auch keine Aufenthaltsgenehmigung. Jetzt liegt es nur noch an uns, ob wir die Spaltung Deutschlands beseitigen oder nicht.«

Zur Stromabschaltung wird besonders stark in dem Bezirk Karl-Marx-Stadt Stellung genommen, da in einigen Orten seit einiger Zeit die Stromabschaltungen wieder zugenommen haben. 2. Sekretär der BPO des Horch-Werkes Zwickau: »So schlimm mit der Stromsperre wie in den letzten Tagen war es bei mir zu Hause noch nie. Ich komme nicht mehr dazu, zu Hause zu studieren.«

Schlosser vom Horch-Werk Zwickau: »Es gibt jetzt in sehr großen Mengen und in jeder Auswahl Radios zu kaufen, ebenso Glühlampen in jeder Stärke, aber die Stromabschaltungen werden immer häufiger. Was nützen dem Arbeiter auch die Radios und Glühlampen, wenn er abends nach Hause kommt und im Finstern sitzt.« Einwohner aus Wechselburg/Karl-Marx-Stadt: »DDR bedeutet Deutschlands dunkelster Raum.«

Über schlechte Wohnverhältnisse wird im Kreis Stollberg/Karl-Marx-Stadt sehr negativ diskutiert. Für 1954 wurden 36 Wohnungsneubauten vorgesehen. Demgegenüber stehen jedoch 1 500 Wohnungssuchende.

Oberleutnant der KVP, wohnhaft in Stollberg: »Meine Tochter ist aufgrund der katastrophalen Wohnverhältnisse in Stollberg in der vergangenen Woche mit einer Lungenentzündung in das Krankenhaus gekommen. Ich weiß nicht mehr weiter. Meine Frau ist schwanger und ich habe Tbc, es ist am besten, ich jage mir eine Kugel durch den Kopf, damit ich dieses Elend nicht mehr sehe.«

Organisierte Feindtätigkeit

Flugblatttätigkeit in geringerem Ausmaße in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Rostock und in Berlin stärker in Halle, Potsdam, Frankfurt/Oder, Dresden. Im Bezirk Gera haben die »Zeugen Jehovas«8 ihre Tätigkeit aktiviert.

Bezirk Suhl: Es ist festgestellt worden, dass der Westberliner Senat Fragebogen an Personen, die im 2. Weltkrieg in Westberlin ausgebombt waren und jetzt in der DDR oder im demokratischen Sektor von Berlin wohnen, verschickt. Diese sollen ausgefüllt zurückgebracht werden, um 800 Westmark empfangen zu können.

Stimmen aus Westberlin

Die mit viel Geschrei angekündigte Ausgabe von Butter aus der sogenannten »Ernst-Reuter-Spende« an alte Leute aus dem demokratischen Sektor von Berlin, die am 16.11.1953 beginnen sollte, wurde am gleichen Tage aus uns unbekannten Gründen verschoben. Stumm-Polizisten versuchten, die alten Leute, die sich Butter holen wollten, auf den S-Bahnhöfen zur sofortigen Rückfahrt zu bewegen. Der Stimmung unter den »Butterabholern« nach zu urteilen, haben anscheinend doch viele die wahren Absichten dieser »Aktion« erkannt. Sie schimpften auf den RIAS und die »Reuterspende«.

Einschätzung der Situation

Gegenüber dem Vortage haben sich keine Veränderungen der Lage ergeben.

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