Tagesbericht
4. August 1953
Information Nr. 1031
[Faksimile des Postausgangsbuchs (externer Verteiler)]
Stimmung der Bevölkerung
Aufgrund der Fahrtbeschränkung (Anordnung des Ministers für Eisenbahnwesen) ist zu verzeichnen, dass der Verkehr auf der Reichsbahn wieder normal verläuft. Dies wirkt sich dem Anschein nach auch auf die Ausgabestellen der sogenannten »USA-Hilfsaktion«1 aus. So ist zu verzeichnen, dass in den letzten Tagen der Andrang wesentlich nachgelassen hat. Wie in Erfahrung gebracht wurde, sind die Verteilungsstellen für Bewohner der DDR vom 3. bis 4.8.1953 geschlossen. In den anderen Verteilungsstellen herrscht im Verhältnis nur ein geringer Zuspruch.
Demgegenüber war in den letzten Tagen zu verzeichnen, dass ein Teil der Bevölkerung seinen Personalausweis an Bekannte oder Verwandte, die im demokratischen Sektor Berlins oder den Randgebieten wohnhaft sind, schicken und so versuchen, die sogenannte »Amerika-Hilfe« zu erhalten. Vereinzelt werden Bettelbriefe von Bewohnern der DDR an Reuter oder Westberliner Verwaltungsstellen und das Rote Kreuz in Westberlin gesandt.
Wie festgestellt werden konnte, ist der größte Teil der Menschen, die aus der DDR die Pakete in Westberlin abholen, dermaßen verhetzt, dass eine sachliche Diskussion mit diesen nicht zustande kommt. Anders sieht es zum Teil bei Westberliner Erwerbslosen aus, die mehr und mehr die Hintergründe dieses amerikanischen Manövers erkennen. So herrschte z. B. am Arbeitsamt in der Sonnenallee, Bezirk Kreuzberg,2 große Empörung über die sogenannte »Ost-Hilfe« unter den Erwerbslosen.
Im Stempelamt Charlottenburg wurden drei Schalter zusammengelegt, da die Schalterangestellten für die sogenannte »Hilfsaktion« abgezogen wurden. Die dort anstehenden Menschen brachten erregt zum Ausdruck, dass sich die Erwerbslosen zusammenschließen sollten und die Ostberliner mit samt dem Bürgermeister Reuter rausschmeißen müssten. Ein Teil der Westberliner Bevölkerung nimmt offen gegen die laufende Propagandaaktion der Amerikaner Stellung. Auf den Stempelstellen Sonnenallee und Charlottenstraße gab es in den letzten Tagen viele erregte Diskussionen. Im Allgemeinen wird die Ansicht laut, dass die Paketaktion nur ein Propagandarummel für die Wahlen sei.
Wie bekannt wurde, plant das Ostbüro der SPD im Anschluss an die Lebensmittelaktion, eine Unterschriftensammlung und Probeabstimmung mit SPD-Kandidaten vorzunehmen. Vom Deutschen Geheimdienst werden Agenten in verschiedenen Ausgabestellen eingebaut mit dem Ziel, diese für3 Spionage auszunutzen.
Verstärkt werden vom Gegner Personen eingesetzt, die eine wüste Hetze gegen die DDR und Sowjetunion unter den auf ihre Pakete wartenden Personen aus der DDR treiben. Aber auch hier ist zu verzeichnen, dass sich der überwiegende Teil der dort anstehenden Personen aus der DDR auf Diskussionen nicht einlässt.
Am 2.8.1953 wurde bei allen Ausgabestellen rege über Fahrkartensperre, die Beschlagnahme von Lebensmitteln und Ausweisen anderer Personen diskutiert.4 Die meisten waren sehr bedrückt, andere schimpften auf die Regierung, sie solle besser für Fett sorgen, dann brauchten sie nicht nach Berlin zu fahren. Andere verlangten, die Arbeiter müssten wieder streiken, bis das Verbot aufgehoben ist. In den Reihen der dort Anstehenden löste eine Parole die andere ab. Es wurde unter anderem darüber gesprochen, dass eine Delegation der Leuna-Arbeiter in das Gebäude des RIAS gegangen ist und eine Protestaktion gegen das Verbot der Fahrkartenausgabe nach Berlin fordert oder dass die Leuna-Arbeiter, wenn sie keine Fahrkarten erhalten, nach Berlin laufen wollen.
Stupo5 und Westberliner Verbrecherorganisationen sorgen dafür, dass aufklärende Diskussionen nicht größere Ausmaße annehmen können. So wurde festgestellt, dass mehrere Angehörige der ehemaligen »Kampfgruppe Kreuzberg des BDJ« sich immer in der Nähe Westberliner Arbeitsloser aufhalten und diese bei Diskussionen versuchen sofort abzudrängen oder den dort Dienst habenden Stupo aufmerksam [zu] machen.
Aus dem VEB Plasta in Auma wird bekannt, dass in einer Unterhaltung das BGL-Mitglied [Name 1] den Vorschlag machte: »Wir müssten uns zusammentun, jeder 5,00 DM geben, die Personalausweise einsammeln und jemand[en] mit dem Auto nach Westberlin schicken, um die Pakete abzuholen.«
Im RAW Brandenburg-West (Kirchmöser) wurden am heutigen Tage um 4.30 Uhr in den Hallen 47, 50 und 60 sehr heftige Diskussionen über die Westpakete geführt. Man brachte zum Ausdruck, dass man den Arbeitern, die nur durchschnittlich 300 DM verdienen, die Pakete abgenommen hat und noch dazu durch die Partei. Man hätte verstehen können, wenn die Abnahme durch die VP erfolgt wäre. [Name 2] brachte sein Parteidokument ins Parteibüro mit der Begründung, dass man ihm heute Nacht das Paket, welches er für seine Tochter geholt habe, durch Parteigenossen abgenommen hat. Im Allgemeinen diskutiert man so, dass man das Vertrauen zur Partei restlos verloren hat. Wenn die Partei jetzt noch was will, soll sie sofort eine 50%ige Preissenkung in den HO-Lebensmitteln durchführen.
Agitationsgruppen von der Kreisleitung Brandenburg wurden von den Arbeitern mit folgenden Worten empfangen: »Jetzt kommen die Faulpelze, geht auch lieber an die Arbeit wie wir, was ihr uns erzählt, ist doch alles Schwindel.« In der Diskussion wurde geäußert, dass man sich mit den Agitationsgruppen unterhalten und aussprechen kann, was mit den Genossen aus dem Werk nicht möglich ist. In diesem Zusammenhang fordert man die sofortige Ablösung der Parteileitung des RAW, besonders des Genossen Heidenreich als 1. Sekretär.
Durch Stromabschaltungen in verschiedenen Bezirken der DDR kommt es zu Missstimmungen in der Bevölkerung, wobei zum Ausdruck gebracht wird, »dass man daran ersehen kann, wie weit die Regierungsbeschlüsse realisiert werden bzw. man diesen Glauben schenken kann«. Oder: »Wenn die Regierung nicht fähig ist, soll sie abtreten« und dgl. mehr.
Wie aus der Energieversorgung der Bezirke Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt bekannt wird, führte die Durchführung des Regierungsbeschlusses über die abschaltfreie Versorgung der Bevölkerung mit Elektroenergie zu schwerwiegenden Störungen. Durch die eingetretene hohe Stromentnahme fiel die Spannung mitunter so weit, dass es in wichtigen Industriezweigen zu Produktionsstillständen kam und außerdem ein sogenanntes »Motorensterben« einsetzte. So fielen am 22. und 23.7.1953 im Phänomen-Werk Zittau 22 Motoren aus. Im Oelsnitzer Steinkohlenrevier standen am 23.7.1953 der »Deutschland«- und »Martin-Hoop-Schacht«. Der VEB [von] Heyden, Radebeul, war nicht mehr in der Lage, Analysen seiner Produkte durchzuführen. Das Röntgen in den Dresdner Krankenhäusern konnte nur noch bedingt durchgeführt werden. Die Kühlanlagen der Nahrungsmittelindustrie, Kühlhäuser, Molkereien, Fleischereien usw. konnten nur noch mit Mühe aufrechterhalten werden. Dies alles entstand durch die schlechten Spannungsverhältnisse. Um dem weiteren Absinken der Spannung entgegenzutreten und einen Netzzusammenbruch zu vermeiden, mussten die Kraftwerke in vielen Fällen außerplanmäßig Abschaltungen vornehmen.
Von diesen Zuständen wurde das Staatssekretariat für Energie aus den Bezirken bereits mehrmals unterrichtet mit der Bitte um Abhilfe und Stellungnahme. Bis heute wurde noch keine Entscheidung dahingehend getroffen. Obwohl man sich im Klaren ist, dass eine Aufrechterhaltung der Energieversorgung nur mit Abschaltungen möglich ist, wurde vonseiten des Staatssekretariats für Energie nichts unternommen, um der Öffentlichkeit eine entsprechende Erklärung, die diese verlangt, zu geben.
Im Fernmeldeamt Halle wurden verschiedene Versammlungen durchgeführt, wo die dort Beschäftigten Forderungen und Wünsche äußerten. Zugesichert wurde, bis zum 15.7.1953 einen verbindlichen Bescheid zu geben. In den Ende Juli durchgeführten Versammlungen konnte man jedoch auf die gestellten Fragen keine klare Antwort geben. Bei einer Versammlung der AGL Technik am 22.7.1953 kam zum Ausdruck, dass bei Nichterfüllung ihrer Forderungen so gehandelt wird wie in den Großbetrieben Buna usw., welche durch Streik ihre Forderungen durchdrücken. In der Diskussion wurde beschlossen, die Zahlung der Gewerkschaftsbeiträge einzustellen, bevor man den Streik in Betracht zieht. Weiterhin wurde der Antrag gestellt, bis zum 10.8.1953 eine Belegschaftsversammlung für den ganzen Betrieb einzuberufen, wobei die Belegschaft erwartet, dass der Staatssekretär oder Minister des MfPF und der Kollege Macher vom Zentralvorstand6 anwesend sind und zu den Problemen Stellung nehmen.
Am 29.7.1953 fand im Post- und Fernmeldewesen in Stendal eine Belegschaftsversammlung statt. Während der Versammlung wurden folgende Forderungen gestellt:
- 1.
40%ige Senkung der HO-Preise,
- 2.
alle Gehälter in Gruppe I–IV erhöhen,
- 3.
50%ige Senkung der FDGB-Beiträge.
Weiterhin kam in dieser Versammlung zum Ausdruck, dass seit dem 17.6.1953 keine FDGB-Beiträge mehr gezahlt werden, da, wie zum Ausdruck gebracht wird, der FDGB keine Kampforganisation ist und am 17.6.1953 den Streik nicht organisiert, sondern unterdrückt hat. Außerdem wurde auch kein Beitrag mehr für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft gezahlt. Zu bemerken ist, dass der Referent Kollege Nowak vom Bezirksvorstand des FDGB Magdeburg zu schwach war und nicht die Fähigkeiten hatte, die Versammlung richtig zu leiten.