Tagesbericht
19. September 1953
Information Nr. 1072
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
a) Industrie und Verkehr
Die Stimmung in den Betrieben wird zzt. von innerbetrieblichen Problemen, Fragen der Versorgung und politischen Tagesproblemen bestimmt. Von positiv verlaufenen Parteiversammlungen zur Auswertung der 15. ZK-Tagung im Karl-Marx-Werk berichtet Magdeburg. Im gleichen Betrieb wird die Forderung auf Angleichung des Lohntarifs an den des Schwermaschinenbaues verstärkt erhoben. Nicht zuletzt berufen sich die Arbeiter dabei auf Versprechungen des Ministers Ziller1 in dieser Linie. Es besteht die Gefahr, dass bei weiterem Hinauszögern dieser Frage die besten Fachkräfte den Betrieb verlassen und dadurch die Planerfüllung gefährdet wird.
Im Walzwerk Kirchmöser, im Schlepperwerk Brandenburg und im Stahlbau Brandenburg arbeiten Instrukteurbrigaden der Bezirksleitung der SED Potsdam. Durch gute Agitation werden in der Schuhfabrik Luckenwalde/Potsdam die Gewerkschaftsbeiträge wieder bezahlt. Aus gleichem Grunde holen viele Genossen aus den VEB Nachterstedt und Königsaue/Halle ihre Parteidokumente wieder ab, die sie nach dem 17. Juni aus Verärgerung und Verhetzung bei der Parteileitung abgegeben hatten.
Im Kalk- und Zementwerk Rüdersdorf/Frankfurt stimmten 70 % der Belegschaft gegen die Entlassung von Provokateuren. Dort wird außerdem das Gerücht verbreitet, alle diejenigen, die am 17. Juni inhaftiert worden waren und wieder freigelassen wurden, würden wieder verhaftet werden. Daraufhin haben sich bereits einige von ihnen nach Westberlin abgesetzt. Im Zelluloid-Werk Eilenburg/Leipzig stimmte die Mehrheit der Arbeiter der Entlassung eines Provokateurs zu, wandte sich aber gegen Überspitzungen bei den Anschuldigungen, die nicht alle bewiesen werden konnten.
Im TRO »Karl Liebknecht« löst die Entlassung eines Ingenieurs heftige Empörung unter der gesamten Belegschaft aus, weil einige provokatorische Handlungen, derer er durch den Betriebsfunk öffentlich beschuldigt wurde, nicht nachgewiesen werden konnten. In Diskussionen im Werk wurden Vergleiche mit der Judenverfolgung im »Dritten Reich« gezogen.
Durch gute Vorbereitungsarbeit der Parteiorganisation erklärten sich nahezu alle Arbeiter im Stahlwerk Riesa mit einer künftigen ständigen Sonntagsschicht (von 22.00 bis 6.00 Uhr) einverstanden, trotzdem negative Elemente dagegen sprachen und dabei glaubten, sie hätten alle Arbeiter hinter sich.
Im VEB Guss, Brand-Erbisdorf/Karl-Marx-Stadt, ist die politische Aktivität der Arbeiter sehr mangelhaft, und zum neuen Kurs haben sie kein Vertrauen, weil die Hausbrandversorgung ungenügend ist. In der Warmpresserei des gleichen Werkes ist die Schichtleistung nach dem 17. Juni bis um die Hälfte gesunken.
Im Rahmen vieler unzufriedener Diskussionen über die Stromabschaltungen wurde im Kaliwerk »Glückauf« Sondershausen/Erfurt gesagt: »Warum gibt man für die einfachen Menschen nicht wenigstens eine Erklärung dafür ab?« Im ABUS Maschinenbau und im IFA Schlepperwerk, beide Nordhausen/Erfurt, beklagen sich die Arbeiter über die mangelhafte Qualität des gelieferten Rohmaterials, dessen Ausschuss ungewöhnlich hoch ist. Dazu muss bemerkt werden, dass solche Beschwerden ständig in vielen Betrieben geführt werden. Übereinstimmend wird in einigen Betrieben diskutiert, dass die diesjährige Kartoffelernte gut und deshalb die pro Kopf zugedachte Menge von 140 kg zu gering sei.
Feindliche Elemente im Schreibmaschinenwerk Dresden diskutieren besonders nach der Wahl in Westdeutschland über einen bevorstehenden »Tag F«.2 Sie haben einen verhältnismäßig großen Anhang.
Angehörige der technischen Intelligenz in der Warnow-Werft Warnemünde beklagen sich, dass sie zu wenig Gehalt bekämen. Sie ziehen dabei Vergleiche, nach denen sie als Konstrukteure 700 bis 900 DM Brutto erhielten, Brigadiere dagegen 1000 bis 1 300 DM. Im Kraftwerk Breitungen/Suhl verlangen die Arbeiter Bezahlung von Überstunden. Auf »Abbummeln« legen sie keinen Wert; sie wollen mehr Geld, um besser leben zu können. Gleiche Erscheinungen sind auch aus anderen Betrieben bekannt. Im Kaliwerk »Ernst Thälmann« in Merkers, [Kreis] Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, bezahlen von 180 Genossen 20 % keine Parteibeiträge mehr. Grund: Verärgerung über das Prämiensystem. Weit größere Schwierigkeiten treten in der Kassierung von Beiträgen der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft auf. In vier Betrieben in Ilmenau/Suhl z. B. werden überhaupt keine Beiträge mehr bezahlt.
Bei den Bauarbeitern der Stalinallee herrscht größtenteils noch immer eine Zurückhaltung in politischen Diskussionen. Wenn Genossen oder Agitatoren auftreten, gehen Diskutierende meist auseinander. Von 1 000 Gewerkschaftsmitgliedern haben 670 seit drei Monaten keine Beiträge bezahlt. In einigen Brigaden war es nicht möglich, Gewerkschaftsorganisatoren wählen zu lassen. Auf Block 40 haben allerdings 45 Kollegen ihre Beitragsrückstände beglichen. Die Planrückstände, die durch die Juniereignisse verursacht wurden, sind auf den Baustellen G Nord, G Süd und auf Block 40 bis auf zwei Tage wieder aufgeholt worden. Die Fluktuation, die nach dem 17. Juni einsetzte, hat nachgelassen. Ein Teil der abgewanderten Bauarbeiter ist wieder zurückgekehrt.
b) Handel und Versorgung
In Oelsnitz/Karl-Marx-Stadt ist die Kartoffelversorgung mangelhaft. Durch Hamstereinkäufe entstehen auch zeitweilig in anderen Bezirken Schwierigkeiten in der Versorgung mit Kartoffeln. Wie Erfurt berichtet, bestehen im Kreis Sömmerda Schwierigkeiten in der Annahme der Kartoffeln durch die VEAB, da diese keine Waggons zur Verfügung hat. Missstimmung entsteht unter den Bauern, da diese mit den Kartoffeln wieder nach Hause fahren müssen.
Schwierigkeiten in der Fleischversorgung bestehen teilweise im Bezirk Karl-Marx-Stadt. So wurde vom Kreisrat in Aue die Anweisung gegeben, sofort den Fleischverkauf auf HO-Basis zu sperren. In Dermsdorf und Frohndorf/Erfurt sind mehrere Schweine bis zu 3 Ztr. vorhanden, die nach Aussagen der Bauern von der VEAB nicht erfasst und abgeholt werden.
Aus Gera, Halle und Rostock wird berichtet, dass ranzige Butter angeliefert wurde. Im Bezirk Cottbus kann die Nachfrage nach Einmachgläsern nicht befriedigt werden. In Luckenwalde/Potsdam fehlt Marmelade.
c) Landwirtschaft
Änderungen gegenüber dem Vortage sind in der Diskussion nicht zu verzeichnen. Im Vordergrund der Diskussionen stehen noch immer wirtschaftliche Fragen.
Aus der LPG Kauern/Gera sind einige Bauern ausgetreten, die ihr mitgebrachtes Land zurückverlangen und sich weigern, das ihnen zugewiesene Land anzunehmen bzw. zu bestellen. In der LPG Meuselbach und Fambach/Suhl sind für die Schweine keine Futterkartoffeln vorhanden, obwohl ein Mastvertrag besteht.
Im Bezirk Cottbus sind bisher 1 000 Selbstverpflichtungen abgegeben worden, das Kartoffelsoll vorfristig zu erfüllen. Im Kreis Seehausen/Magdeburg liegt die Sollablieferung (Getreide) bei 57 %, davon in vier Gemeinden unter 40 %. In Groß Garz z. B. haben 35 Bauern noch nichts abgeliefert, obwohl der Drusch beendet ist. Durch individuelle Aussprache mit den Bauern in Höwisch, Klöden3 und Genzien/Magdeburg wurde erreicht, dass diese sich verpflichteten, bis zum 20.9.1953 ihr Getreidesoll 100%ig zu erfüllen. Aus dem Kreis Liebenwerda/Cottbus wird berichtet, dass in einigen Gemeinden die 50 %-Bewegung vorhanden ist.4 Im MTS-Bereich Mylau, Kreis Reichenbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ist unter den Bauern Unzufriedenheit, da die MTS den abgeschlossenen Verträgen nicht nachkommt.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Gegenstand der Diskussion sind noch immer wirtschaftliche Fragen wie Stromsperren, ungenügende Kohlenversorgung und dgl. Zum größten Teil wird gefragt, ob dies der neue Kurs der Partei und Regierung ist. Negative Diskussionen werden erzeugt durch die Belieferung der Bezirke mit ranziger Butter. Teilweise erkennt man wesentliche Verbesserungen, die größere Auswahl in den Geschäften und dgl. an, setzt aber die zu hohen Preise der Waren, besonders in der HO, dem gegenüber. Diskussionen über HO-Preissenkung sind in allen Bezirken am stärksten zu verzeichnen. Im Bezirk Suhl werden Stimmen laut, dass aufgrund der guten Ernte eine größere Zuteilung an Winterkartoffeln angebracht wäre.
Negative Diskussionen werden auch vereinzelt über die Rückvergütung der Konsumgenossenschaft geführt. In Schleiz/Gera wurde in einer Mitgliederversammlung der Konsumgenossenschaft vorgeschlagen, die Rückvergütung von 3 % auf 1,2 % herabzusetzen. Die Mitglieder verlangten Weiterzahlung der 3 % und fragten, ob so der neue Kurs durch den Konsum verwirklicht werden soll.
Organisierte Feindtätigkeit
Vereinzelte Flugblatttätigkeit in den Bezirken Gera, Rostock, Potsdam, Karl-Marx-Stadt, stärker in Schwerin, Frankfurt/Oder, Cottbus. In unserer Information Nr. 1070 vom 17.9.1953 berichteten wir von Flugblattabwürfen durch Flugzeuge im Bezirk Magdeburg. Hierzu werden weitere Einzelheiten bekannt: Augenzeugen (Bürgermeister, Leiter des Wohnungsamtes und der Pflanzenschutzbeauftragte von Tangerhütte) beobachteten in den Vormittagsstunden des 16.9.1953 ein viermotoriges Flugzeug unbekannter Nationalität in ca. 1 200 m Höhe in ost-westlicher Richtung fliegend, aus dem Flugblätter abgeworfen wurden. Bisher wurden 6 000 Stück in den Kreisen Seehausen, Gardelegen, Tangerhütte, Burg, Haldensleben, Stendal und Genthin gefunden. Es handelt sich um Flugblätter der NTS,5 in denen gegen die Regierungen der SU und der DDR gehetzt wird.
In Gera wurden gefälschte Kohlenbezugsscheine festgestellt. In der LPG Dederstedt/Halle wurden in der Häckselmaschine ein Messer, in der Haferpanse6 eine Benzinflasche und in der Dreschmaschine eine Schaufel gefunden. Am 17.9.1953 wurde im VEB Schamottwerk Rietschen/Cottbus ein Diversionsakt auf den Sprengstoffbunker versucht. Täter wurden flüchtig. Schaden ist nicht entstanden.
Einschätzung der Situation
Die Lage ist unverändert geblieben. Die abwartende Haltung zu den Maßnahmen unserer Regierung besteht weiter. Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen betriebliche Fragen, die Lebenshaltung und die Mängel in der Versorgung. Diese Fragen werden oft im Zusammenhang mit dem neuen Kurs erörtert. Dabei hält die Unzufriedenheit über die Brennstoffversorgung weiter an und nimmt im Bezirk Cottbus zu.
Es zeigen sich wieder durch gute Parteiarbeit und teilweise auch durch die Regierungsmaßnahmen zum neuen Kurs einige Erfolge in den Betrieben z. B. in den Bezirken Halle, Dresden und Potsdam. Dort, wo die Partei keine besondere Aktivität entfaltet und die Arbeiter nicht aufgeklärt werden, zeigt sich jedoch, dass feindlich beeinflusste Stimmungen zunehmen.