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Tagesbericht

5. September 1953
Information Nr. 1060

Die Lage in den Industrie- und Verkehrsbetrieben

Starke Diskussionen werden noch in allen Bezirken über die Verhaftungen der Interzonenreisenden geführt.1 Im Kaliwerk »Thomas Müntzer« im Kreis Worbis/Erfurt werden die Genossen [Name 1] und [Name 2], welche nach Westdeutschland delegiert wurden, von einem großen Teil der Belegschaft als »Agenten und Saboteure« betrachtet.

In Diskussionen von Genossen ist verschiedentlich eine Unsicherheit zu diesen Verhaftungen zu bemerken. So äußerte z. B. der Genosse [Vorname Name 3], VEB IKA Sonneberg/Suhl: »Was soll man in Diskussionen sagen, es ist nicht bekannt, wie man sich verhalten soll, man soll endlich Farbe bekennen.«

In mehreren Betrieben verschiedener Bezirke besteht Unzufriedenheit über vorhandenen Rohstoff- und Materialmangel, so z. B. in der Schuhfabrik »Banner des Friedens« Weißenfels/Halle, wo durch Materialmangel ein Planrückstand von 82 000 Paar Schuhen und ein Vertragsrückstand von 119 000 Paar vorhanden ist. Im Kraftwerk Breitungen/Suhl besteht Mangel an Kohlen. Die Verkehrsbetriebe Oranienburg/Potsdam sind durch Fehlen von Fahrzeugen nicht in der Lage den Transport durchzuführen.

In verschiedenen Betrieben besteht Unzufriedenheit über ungerechte Prämienzahlung und in Lohnfragen (VEB Ernst-Thälmann-Kombinat Kaiseroda/Suhl, VEB Sekura Berlin).

Im Spezialglaswerk »Einheit« Weißwasser/Cottbus werden von ehemaligen SPD-Leuten (Kollegen [Name 4] und [Name 5]) feindliche Diskussionen geführt. In der Grube Finkenheerd Fürstenberg/Frankfurt sind besonders viele Umsiedler konzentriert. Die negativen Diskussionen werden hauptsächlich über die Oder-Neiße-Grenze geführt.

In den elektrischen Werkstätten der Farbenfabrik Wolfen/Halle wird das Gerücht verbreitet, dass die Entlassung der Provokateure unter der Intelligenz erst beginnt. Dadurch will man Unruhen unter der Intelligenz verbreiten.

Zwei Bauarbeiter der Stalinallee äußerten am 3.9.1953, dass alle Bauarbeiter am 5.9.1953 geschlossen nach Westberlin gehen wollen, um ihr Paket zu holen (Zeuge war der Lehrling [Name 6] der gleichen Brigade).

Die Kumpel der Blockstraße des SAG EHW Thale/Halle begrüßen die Freundschaftstat der SU2 mit noch nie erreichten Produktionsleistungen (eine Schicht erreicht 147,6 %).

In den Leuna-Werken wurde am 3.9.1953 ein Flugblatt von der SED-Kreisleitung über die Ereignisse des 17.6. herausgegeben, welches von der Mehrzahl der Beschäftigten begrüßt wird.

Im Mansfeld-Kombinat »Wilhelm Pieck« Eisleben und im »Otto-Brosowski-Schacht« Halle ist seit dem 17.6.1953, besonders in den Monaten Juli/August, ein Leistungsrückgang zu verzeichnen.

Unter den Kumpel der Wismut AG wird besonders in Diskussionen zur Bildung der Sowjetisch-Deutschen Gesellschaft3 Stellung genommen. Man fragt sich, ob die Vergünstigung wie bisher bestehen bleibt. Der größte Teil der Kumpel verhält sich abwartend.

Die Lage in der Landwirtschaft

Schwierigkeiten in der Sollablieferung halten weiterhin an. Verstärkt tritt in Erscheinung, dass sich Bauern weigern, den Rest an Getreide auf Soll zu erfüllen. Argumente und Diskussionen sind zahlreich und haben unterschiedlichen Charakter. Folgendes Beispiel erscheint besonders wichtig. Im Kreis Lübben/Cottbus wird von einer sogenannten »50 %-Bewegung« gesprochen, was bedeutete, dass die Bauern ihr Soll nur mit 50 % erfüllen werden. In Krams/Potsdam haben von 59 Bauern 50 ihr Getreide ausgedroschen, die Getreideablieferung beträgt aber nur 12 %. Dazu wird geäußert: »Wir fangen jetzt erst an.«

Das Ablieferungssoll wird allgemein als zu hoch angesehen, was für die Wühlarbeit der Großbauern, die durch feindliche Rundfunksendungen unterstützt wird, zum Vorteil ist.

Bei dem zzt. starken Kartoffelanfall muss dringend darauf hingewiesen werden, dass die VEAB in den Kreisen auf Abverfügung warten, da keine Möglichkeiten zur Lagerung vorhanden sind.

Bei einer Versammlung der MTS Zossen/Potsdam wurde gefordert, Diskussionsreden nicht protokollarisch festzuhalten, da man Verhaftungen fürchtet.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Immer stärker macht sich eine gewisse abwartende Haltung in der Bevölkerung bemerkbar. Dies ist zum überwiegenden Teil darauf zurückzuführen, dass die bereits bekannten Mängel in der Versorgung (Strom, Kohle usw.) sowie der Einfluss feindlicher Elemente und das Abhören feindlicher Sender Zweifel an der Durchführung des neuen Kurses der Partei und Regierung erzeugt haben. So wird unter anderem geäußert: »Unser Vertrauen hat die Regierung erst dann, wenn der neue Kurs – Erhöhung des Lebensstandards – verwirklicht wurde, oder der neue Kurs wurde nur propagiert aufgrund der Wahlen in Westdeutschland.«

In Diskussionen über die Festnahme von Interzonenreisenden wird verstärkt zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht um Interzonenreisende, sondern um Mitglieder der SED und FDJ handelt, die mit gefälschten Ausreisegenehmigungen nach Westdeutschland geschickt wurden, um die Wahl zu beeinflussen. Jeder der genannten Personen hatte angeblich 200 DM West und Agitationsmaterial im Besitz. Daraus ergeben sich negative Diskussionen wie z. B. »Da sieht man ja wohin das Geld geht« oder »Bei uns hätte man nicht anders gehandelt«. Von fortschrittlichen Kreisen wird über die unverantwortliche Organisation gesprochen und die Auswirkung in Betracht gezogen.

Diskussionen über die Paketprovokation treten im Verhältnis zur »1. Aktion« nicht so stark in Erscheinung.4 Es zeigt sich aber, dass bei der Abnahme der Bettelpakete es verschiedentlich zu harten Auseinandersetzungen kommt. Dies zeigt sich besonders in den Randgebieten Berlins, wo der größte Teil dieser Bettelpakete abgenommen wird. Wie bekannt wurde, stellen Bürgermeister ohne größere Schwierigkeiten Bescheinungen zum Erhalt der Fahrkarten aus oder Ärzte überweisen Patienten zu Spezialärzten nach Berlin.5

Aus Magdeburg wird bekannt, dass durch das Verhalten Angehöriger der sowjetischen Armee gegenüber Frauen und Mädchen, Missstimmung und negative Äußerungen hervorgerufen werden. So wurde von Magdeburgerforth und Umgebung vom DFD eine Protestresolution verfasst, in welcher Sicherheit zu jeder Tages- und Nachtzeit gefordert wird. Ähnliche Vorkommisse sind in Melzow/Neubrandenburg zu verzeichnen.

In Ballenstedt/Halle fand ein Ausspracheabend mit dem sowjetischen Kreiskommandanten statt, an welchem sich 120 Personen beteiligten. Von der Bevölkerung wurde gefordert, mehr solche Ausspracheabende durchzuführen.

Ereignisse von besonderer Bedeutung

Diskussionen über die Leipziger Messe sind in der Mehrzahl weiterhin positiv. Von westdeutschen Käufern wird bemängelt, dass die Lieferungen zum größten Teil erst ab 1954 erfolgen können. Andere wiederum hätten sich von der Messe mehr versprochen, so z. B. wurden bei Fischwaren aus Hamburg Verträge nur über einige Waggons abgeschlossen. Von Messebesuchern aus der DDR äußerten einige: »Was nützt uns der Fortschritt der Technik, wenn alle Maschinen ins Ausland gehen.«

Von der Schweinepest sind im Kreisgebiet Gransee/Potsdam 18 Gemeinden betroffen. Bisher sind hier 2 415 Schweine und 303 Ferkel erkrankt. 198 Schweine sind davon verendet und 786 wurde notgeschlachtet. Im VEG Löbnitz/Magdeburg, wo bisher 165 Schweine verendeten, wurde vom Ministerium für Land- und Forstwirtschaft die Anweisung gegeben, den gesamten Bestand von 6 000 Schweinen abzuschlachten.

Organisierte Feindtätigkeit

Flugblätter wurden in größeren Mengen in den Bezirken Frankfurt/Oder, Karl-Marx-Stadt, Halle, Gera, Schwerin und in Berlin verbreitet. Es handelt sich um Flugblätter der NTS,6 KgU7 und FDP.8

In Eisenbahnwaggons im Bahnhof Lauchhammer-West wurden 2 000 Flugblätter und im Bahnhof Berlin-Schöneweide ebenfalls 2 000 Flugblätter in Waggons gefunden.

500 Flugblätter der NTS waren auf der Autobahn Frankfurt/Oder–Berlin verstreut. Der Inhalt ist der Gleiche wie bereits berichtet. Die Flugblätter der FDP haben zum Inhalt: »Leipziger Messebesucher, jetzt ist das Dutzend voll, zwölf Mal rote Messe.«

Hetzbriefe der KgU und des Bundes aktiver Demokraten9 wurden durch Post, besonders an Funktionäre, geschickt. Auf dem Lande ruft man in diesen Briefen zum Austritt aus der LPG auf.

Durch fingierte Schreiben (Absender: Ministerium für Land- und Forstwirtschaft) versucht man bei den LPG Verwirrung anzurichten, indem man ihnen mitteilt, dass sie sofort Kredite bis zu 10 000 DM erhalten können.

In der Nacht vom 2. zum 3.9.1953 wurden in der Thälmann-Werft Brandenburg und in der BHG-Geschäftsstelle Lassahn Friedensecken10 zerstört. In der Nacht vom 3. zum 4.9.1953 wurde im Kreis Zwickau/Karl-Marx-Stadt in einen Schaukasten ein Hitler-Bild geklebt.

Verschiedentlich wurden an Waggons der Reichsbahn Losungen angebracht mit dem Inhalt: »Nieder mit der SED«, »Freie Wahlen«.

In Stotternheim und Waldigleben11/Erfurt wurde ein Gespräch geführt, dass am 6.9.1953 der »Tag F«12 mit Waffengewalt durchgeführt wird (wurde schon berichtet).

Am 3.9.1953, 20.00 Uhr, fand in Berlin-Charlottenburg eine Versammlung des »Komitees des 17. Juni« statt.13 Hier traten Provokateure auf, welche maßgeblich an der Organisierung des 17.6. beteiligt waren. Das Komitee stellte sich die Aufgabe, die Regierung der DDR mit Gewalt zu stürzen. In diesem Komitee sind die Streikleiter und Organisatoren zusammengefasst.

In der Nacht vom 1. zum 2.9.1953 wurde ein Traktor der MTS Saubach,14 [Bezirk] Halle, beschädigt. Außerdem warf man Sand in den Treibstofftank und legte zwei Gewehrpatronen zwischen Düse und Ventilfeder.

In einem devastierten Betrieb in Bad Wilsnack/Schwerin fehlen immer Teile an der Dreschmaschine, wenn der Drusch beginnen soll.

Der RIAS berichtet, dass die Arbeiter die Aufgabe haben, langsam zu arbeiten und schlechte Qualität in der Produktion zu liefern, um15 den Sowjets und der westlichen Welt zu beweisen, dass der Machtapparat der Zone locker sitzt.

Vermutlich organisierte feindliche Tätigkeit

In Leipzig wird das Gerücht verbreitet, dass der Gegner noch während der Messe Aktionen plant. In Siemens-Plania wird das Gerücht verbreitet, dass ab 1.1.1954 800 Mann entlassen werden. Jetzt soll man langsamer arbeiten, da nicht genügend Arbeit vorhanden ist (Berlin).

Am 1.9.1953 erfolgte in der Zinkschmelze VEB BMHW Berlin-Niederschöneweide während des Schmelzens von Zinkabfällen eine Explosion, vermutlich durch Sprengkörper. In der Zinkschmelze liegen, für jedermann zugänglich, 19 Granatzünder.

Am 2.9.1953 brach in der LPG Schönfelde, Frankfurt/Oder, in einer Scheune ein Brand aus (Schaden 8 000 DM).

Kritik und Vorschläge

Der stellvertretende Personalleiter eines RAW macht den Vorschlag, um den RIAS-Parolen entgegenzutreten, die Sendungen abzuhören, ein Flugblatt auszuarbeiten, welches diese Parolen widerlegt und täglich an die Belegschaft zu verteilen.

Stimmen aus Westdeutschland

Ein Schlosser aus dem Ruhrgebiet erklärte, dass ein großer Teil der Arbeiterschaft Westdeutschlands mit der Politik Adenauers nicht einverstanden ist und sich die Einheit Deutschlands wünscht.

Einschätzung der Situation

In der jetzt feststellbaren Stimmung zur Note der SU16 und zum Sowjetisch-Deutschen Kommuniqué17 ist keine Veränderung eingetreten.

Besonderes Interesse besteht für die Wahlen in Westdeutschland, deren Ausgang man mit Spannung erwartet, im Hinblick auf die sich daraus ergebenen Folgen für die weitere Entwicklung in Deutschland.

Die zahlreichen Diskussionen über die Verhaftungen der Interzonenreisenden gehen weiter. Da vielen die Tatsachen bekannt sind und der Gegner dies reichlich ausnutzt zur feindlichen Propaganda nahmen die negativen Meinungen zu. Von fortschrittlichen Kreisen wird gegen die Verhaftungen protestiert, unter verschiedenen Genossen herrscht eine gewisse Unsicherheit, da bekannt gewordene Tatsachen zum Teil in Widerspruch stehen zu unseren Pressemeldungen.

Aufgrund der vielen Mängel in der Versorgung und dem Rohstoff- und Materialmangel in Betrieben, in Verbindung mit der feindlichen Propaganda, verstärken sich die Zweifel am neuen Kurs und damit die abwartende Haltung großer Bevölkerungsteile. Die starke Feindtätigkeit hält weiter an und wirkt sich besonders auf die Ablieferung in der Landwirtschaft aus.

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