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Tagesbericht

9. September 1953
Information Nr. 1063

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Die Lage in Industrie und Verkehr

Nahezu alle Probleme sind von der Diskussion über das Ergebnis der Bundestagswahlen1 in den Hintergrund gedrängt worden. Die Meinungen und Argumente sind mannigfaltig. Große Teile der Arbeiterschaft sind enttäuscht vom Ausgang der Wahlen.

Ein Angehöriger der Wismut AG aus Annaberg: »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, dass die Mehrheit bei der Wahl die CDU erhalten hat. Ich habe bestimmt angenommen, dass die Arbeiterparteien die Mehrheit erhalten.« Die Werkstattarbeiter der MTS Wangenheim/Erfurt glaubten, dass aufgrund der Kriegspolitik Adenauers, der hohen Steuern und des rigorosen Verhaltens der Lehr-Polizei2 die Wahl hätte anders ausgehen müssen. Sehr verbreitet ist die Meinung, wie sie z. B. ein Wismut-Kumpel zum Ausdruck bringt, der da sagt, man hätte meinen sollen, dass die Kommunisten drüben die Oberhand bekommen, wenn man nach den Berichten unserer Zeitungen urteilen wolle. Was in unseren Blättern geschrieben würde, wäre alles Schwindel.

Fortgeschrittenere Teile der Arbeiterschaft erkennen bereits einige der objektiven und subjektiven Ursachen, die zum Wahlsieg Adenauers geführt haben. Arbeiter im Braunkohlenwerk »Jonny Scheer«, Bezirk Cottbus, diskutieren, dass die Wahl hätte so ausfallen müssen, weil es aufgrund der dort bestehenden Wahlordnung und des Wahlterrors nicht anders möglich gewesen wäre. Ein Angestellter im Elektrostahlgusswerk Leipzig sieht in der Fehlentscheidung der westdeutschen Bevölkerung ein Versagen der Aufklärung. Ein Arbeiter vom Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« meint, man dürfe nicht die bewussten Lügen vergessen, die man in Westdeutschland über unsere Republik verbreitet hat. Ein Angestellter der Ausbau-Union Stalinstadt ist der Meinung, dass der Rummel mit den Amipaketen3 der Adenauer-Koalition viele Stimmen eingebracht habe.

Häufig treten aber Meinungen auf, die eine einseitige oder auch falsche Beurteilung der Ursachen des schlechten Wahlergebnisses erkennen lassen. Ein Grubenarbeiter aus dem Kaliwerk Bleicherode/Erfurt: »Ein Zeichen, dass Adenauer doch nicht so unbeliebt ist, wie man ihn hier in der Presse und im Rundfunk dargestellt hat.« Im Energiebezirk Süd Sonneberg/Suhl wird folgende Meinung vertreten: »Jetzt sehen die Genossen, wie es im Westen wirklich ist. Die breite Masse ist mit Adenauer einverstanden, sonst hätte sie ihn nicht gewählt. Also geht es den Menschen dort gut. Wie sieht es bei uns aus? Es wird viel versprochen, aber nichts getan. Wo bleibt die Preissenkung für Lebensmittel und wichtige Gebrauchsgüter.«

Gegnerische Elemente nehmen das Wahlergebnis mit Befriedigung auf. Ein parteiloser Arbeiter im Kaliwerk »Thomas Müntzer« Erfurt sagt: »So wie die KPD-Leute im Westen abtreten mussten, wird es auch hier im Osten aussehen, wenn einmal eine freie Wahl stattfinden wird.« Ein Arbeiter aus dem Schamottwerk Thonberg/Dresden brachte zum Ausdruck, die Wahl in Westdeutschland sei so verlaufen, wie es jeder erhofft habe. Die Stimmenmehrheit der CDU sei der Beweis, dass die Adenauerpolitik die richtige wäre. Unsere Regierung habe Angst, freie Wahlen durchzuführen.

Vereinzelt ziehen fortschrittliche Arbeiter bereits Schlussfolgerungen, wie ein Mitglied unserer Partei aus dem Fischkombinat Saßnitz: »Jetzt, wo Adenauer Westdeutschland in einen Militärstaat verwandelt, müssen wir noch wachsamer als bisher sein, um einem evtl. Angriff Adenauers auf die DDR entgegentreten zu können.«

b) Handel und Versorgung

Im Bezirk Cottbus wird Missstimmung über die schlechte Brennstoffversorgung zum Ausdruck gebracht. Die gelieferte Braunkohle ist so schlecht, dass ein großer Teil unbrauchbar ist. Im Bezirk Neubrandenburg wird von der Landbevölkerung darüber Klage geführt, dass die Belieferung mit Arbeitskleidung unzureichend ist. Im Kreis Neustrelitz/Neubrandenburg beschwert sich die Bevölkerung über die sehr schlechte Qualität der Margarine, welche nach einigen Tagen bereits ungenießbar wird. In Ilmenau/Suhl will ein Teil der Bevölkerung aus der Konsumgenossenschaft austreten, da man statt der angegebenen 3 % Rückvergütung nur 1,2 % zahlen will.

c) Landwirtschaft

Berichte von Diskussionen über die Wahlergebnisse der Landbevölkerung liegen nur in geringem Maße vor. So äußerten verschiedene Bauern aus Plothen/Gera: »Die Wahl ist schlecht ausgefallen und bedeutet für die Einheit Deutschlands eine Gefahr.«

15 Bauern aus Bollberg/Gera brachten zum Ausdruck, dass bei der Wahl die Kirche ihre Hand mit im Spiele hatte und des bedauerlich sei, dass man nicht von 1933 gelernt habe. »20 Jahre ist es her und wieder ist die Pleite da.« Ein Bauer aus Mattausen4/Leipzig erklärte: »Die Regierung der DDR ist nicht ganz unschuldig am Wahlergebnis, die vor dem 17.6.1953 einsetzende Republikflucht der Bauern hat im Wesentlichen dazu beigetragen.«

In einigen Kreisen des Bezirkes Cottbus macht sich bemerkbar, dass die Bauern in der Ablieferung zurückhaltender werden. Es wird oft geäußert, dass bald die Einheit Deutschlands komme und so auch eine andere Währung. So forderte ein Bauer der Gemeinde Sabrodt/Cottbus5 die Bauern auf, nicht mehr abzuliefern.

Die Forderung der Bauern nach genügend Dünger und Brennstoff sowie Saat für Zwischenfruchtanbau wird weiterhin erhoben.

In der LPG Berbisdorf/Dresden will die Leitung nicht mehr nach Arbeitseinheiten bezahlen, sondern den Stundenlohn einführen.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Die Diskussionen über die Ergebnisse der Bundestagswahl beherrschen fast ausschließlich die Bevölkerung. Gegenüber den Diskussionen in den Betrieben sind bis jetzt kaum andere Argumente festzustellen. Kollegen der DHZ Lebensmittel Güstrow/Schwerin erklärten: »Nun ist es aus mit der Einigung Deutschlands auf friedlichem Wege. Wir werden uns in der nächsten Zeit auf die Verteidigung gefasst machen müssen.« Ein Einwohner aus Bennewitz/Suhl sagte: »Adenauer sei die richtige Staatsmacht, man sieht einen wesentlichen Aufstieg in der Versorgung. Vom neuen Kurs der Regierung bei uns sei jedoch nichts zu sehen. Die Regierung soll sich etwas damit beeilen, um das Vertrauen zu gewinnen.« Eine Krankenschwester vom Krankenhaus Altstadt/Magdeburg, Mitglied der LDP, äußerte: »Nun haben endlich die roten Schweine drüben eins auf den Deckel bekommen.«

Über die Verhaftungen der Interzonenreisenden6 diskutiert man im Kreis Sternberg/Schwerin unter der Bevölkerung, dass die großen Fehler in der Organisation an Dummheit grenzen. Die Genossen und FDJ-ler wurden in der Nacht geweckt, sodass die ganze Nachbarschaft aufmerksam wurde, und wurden auch ohne eine gründliche Belehrung weggeschickt.

Über die Entlassungen von Paketabholern7 in den Betrieben äußerten sich einige Bewohner von Wittenberge/Schwerin: »Jetzt trifft das zu, was vor einem halben Jahre gesprochen wurde. Erst hat man die Bauern fortgejagt und jetzt kommen die Arbeiter an die Reihe, nur weil sie sich ein paar Pakete geholt haben. Die höheren Stellen sollten etwas mehr Vertrauen zu uns Arbeitern haben und nicht gleich einen Arbeiter, der sich [ein] Paket geholt hat, als Agent oder Saboteur hinstellen.«

Stimmen aus Westberlin und Westdeutschland

Arbeiter aus der AEG Brunnenstraße sagten: »Das ist der größte Wahlbetrug, der jemals in Deutschland stattgefunden hat.« In Straßendiskussionen werden die verschiedensten und gegensätzlichsten Meinungen laut. Die einen warnen vor einem neuen Krieg, andere blicken stolz auf die künftige neue Wehrmacht, wieder andere antworten denen, die das Abrutschen der SPD bedauern, das geschehe der SPD ganz recht, denn sie habe ja nur eine Scheinpolitik betrieben. In Kreisen der Stummpolizisten8 entstehen Angstgefühle vor einer neuen Auseinandersetzung, bei der sie »als erste nach vorn müssten«.

Bemerkenswert sind die Ausführungen des Kaufmanns Fischer aus Cuxhaven, Vorsitzender der Interessengemeinschaft für Ost-West-Handel9 und Aussteller auf der Leipziger Messe: »Ich hoffte bis zum letzten Moment, dass Adenauer bei den Wahlen nicht durchkäme und die SPD die stärkste Partei werden würde und in Verbindung mit der BHE das Zünglein an der Waage darstellen würde. Durch den Sieg der Rechtsparteien ist die Frage der Einheit Deutschlands gefährdet. Für die westdeutsche Fischindustrie ist [sic!] der Ost-Westhandel und ein einiges Deutschland lebenswichtig. Die westdeutsche Fischindustrie ist beim Abschluss von Verträgen schlecht weggekommen. Ich habe dieses einem Reporter der ›Volksstimme‹ auch gesagt, der aber leider das Gegenteil in der Zeitung berichtete. Es macht fernerhin keinen guten Eindruck für die DDR, wenn Sachbearbeiter aus dem innerdeutschen Handel10 bzw. aus der Orlopp-Dienststelle11 ihre ganze Arbeit dazu ausnützen, um persönliche Vorteile zu erlangen, d. h. gespickt zu werden. Es ist leider Tatsache, dass ein westdeutscher Unternehmer, wenn er einen Vertrag mit der DDR abschließen will, sich durch Liebesgaben bei den Sachbearbeitern dieser Dienststelle beliebt machen muss, um Aufträge zu erhalten. Ich muss feststellen, dass die Frage des innerdeutschen Handels zu sehr von der Rentabilität aus gesehen wird und die nationalen Gesichtspunkte nicht genügend berücksichtigt werden, denn gerade durch Vergebung von Aufträgen an Westdeutschland wird der Kreis der Verständigungsbasis erweitert und hilft mit, die Frage der Einheit Deutschlands erstrangig in den Vordergrund zu stellen.«

Feindtätigkeit

a) organisiert

Verstärkte Feindtätigkeit besteht in den Bezirken Schwerin (4 000 Stück Flugblätter), Potsdam (2 500 Stück), Neubrandenburg (1 150 Stück) und Dresden (750 Stück) durch verbreiten von Flugblättern der NTS12 (Inhalt: Sturz der Regierung der SU und DDR) und KgU13 (Inhalt: Widerstand der Arbeiter gegen Regierung, Austritt aus LPG und über 17.6.). Vereinzelte Flugblätter wurden fast in allen Bezirken festgestellt.

In der Siedlung Raschau/Karl-Marx-Stadt der Wismut AG wurde an einem Haus eine Losung angebracht, welche die Kumpel für einen neuen »Tag X«14 am 18.10.1953 aufrief. Es kommt darin zum Ausdruck, dass dies mit voller Unterstützung des Westens geschehe. Es würde der größte Generalstreik werden.

Am 5.9.1953 wurde ein Sowjetsoldat in Oberschlema/Karl-Marx-Stadt durch Alkohol vergiftet (vermutlich Methylalkohol). Der Sowjetsoldat wird wahrscheinlich erblinden. Der gleiche Fall mit gleicher Wirkung wiederholte sich am 7.9.1953.

b) vermutlich organisiert

Brände auf dem Lande sind weiterhin verstärkt vorhanden:

  • in Staffelde/Frankfurt verbrannten vier Getreidemieten (2 000 dz), ein Dreschkasten und Anhänger (Schaden: 65 000 DM),

  • am 5.9.1953 in Grünlichtenberg/Karl-Marx-Stadt auf den Feldern der LPG »Fortschritt« 5 000–6 000 Ztr. Stroh,

  • am 6.9.1953 in Neuburg/Schwerin ein Stall der VdgB (BHG),

  • am 6.9.1953 in Krakow/Schwerin eine Getreidemiete der Stadtverwaltung.

Am 3.9.1953 wurden in Schüptitz/Gera unter einer Holzverschalung 2½ kg Sprengstoff gefunden. Der Sprengstoff wurde im Diabas-Werk, wo er noch nie verwendet wurde, gefunden.

Einschätzung der Situation

In fast allen Kreisen wird vorwiegend über das Wahlergebnis diskutiert. Der größte Teil der Bevölkerung ist enttäuscht, denn viele hatten eine Niederlage Adenauers erwartet. Dies zeigt, dass die Bevölkerung ungenügend über die Verhältnisse in Westdeutschland informiert war und den Einfluss der fortschrittlichen Kräfte nicht richtig eingeschätzt hat. Von großen Teilen der Bevölkerung wird das Wahlergebnis als Fehlentscheidung bewertet. Vielfach tritt die Sorge um die Zukunft in den Vordergrund, da man der Meinung ist, dass sich die Kriegsgefahr verstärkt hat, dass die Lage schwieriger geworden ist und die Einheit Deutschlands in weite Ferne gerückt wurde. Viele Genossen sind in gedrückter Stimmung, oft fehlt das Vertrauen zur eigenen Stärke. In den Betrieben, wo die Partei eine gute Aufklärungsarbeit entwickelt, ist die Einschätzung richtig und die richtigen Schlussfolgerungen werden gezogen.

Ein Teil der Bevölkerung, besonders bürgerliche Kreise, aber auch viele Arbeiter, äußern ihre Zufriedenheit über das Wahlergebnis. Durch die Verbreitung feindlicher Argumente verstärkt sich die Niedergeschlagenheit eines Teils der Bevölkerung. Das Adenauer-System wird verherrlicht, Fehler und Mängel bei uns zur Hetze gegen Partei und Regierung ausgenutzt. Feindliche Elemente nützen die Lage restlos aus, um die Bevölkerung zu verwirren. Es ist deshalb jetzt besonders erforderlich, die Aufklärung der Bevölkerung zu verstärken, um die Depression zu beseitigen.

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