Tagesbericht
24. November 1953
Informationsdienst Nr. 2029 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Diskussionen über die Entlarvung der Agentengruppen in der DDR1 stehen noch in einer großen Anzahl der Betrieb im Mittelpunkt. Oftmals werden erst durch die Versammlungen, wo Vertreter des SfS sprachen, und durch die Veröffentlichungen in der Presse von den Arbeitern die Zusammenhänge und die Hintergründe der Spionageorganisationen erkannt und von ihnen darauf die notwendig richtigen Schlussfolgerungen gezogen.
Ein parteiloser Arbeiter des Karl-Marx-Werkes Zwickau sagte zu den Ausführungen eines Vertreters des SfS im Betrieb: »Die Agenten und Spione der westdeutschen Agenturen müssen in der DDR die strengste Strafe erhalten.«
Ein anderer parteiloser Arbeiter aus Ueckermünde/Neubrandenburg: »Durch die Veröffentlichungen in der Presse bekommt man Vertrauen zu unseren Sicherheitsorganen. Man hätte das jedoch schon viel eher machen müssen.«
Über die Aufhebung der Interzonenpässe2 werden heute nur vereinzelte, jedoch überwiegend positive Stimmen bekannt. So sagte ein Arbeiter des Porzellanwerkes Neuhaus in Schierschnitz/Suhl: »Ich begrüße diese Maßnahme und sehe darin eine weitere Erleichterung auf dem Wege der Verständigung.« Einige andere Kollegen des gleichen Betriebs sind der Meinung, dass man den früheren Kontrollpunkt Sonneberg-Hönbach3 wieder eröffnen müsste, da man sonst große Umwege fahren muss, wenn man beispielsweise Verwandte in der Nähe von Coburg besuchen will.
Anlässlich des Monats der deutsch-sowjetischen Freundschaft verpflichtete sich die Jugendbrigade des VEB Ernst-Thälmann-Werk I Suhl, ihre Leistungen um 25 % zu steigern. Die Frauenbrigade »Anna Seghers« des gleichen Betriebes erhöhte ihre Norm freiwillig um 33 %.
Wegen Waggonmangel ist es der Dachziegelfabrik in Gudersdorf/Frankfurt/Oder4 nicht möglich, die erforderlichen Dachziegel für die Bauten in der LPG Tantow/Kreis Angermünde und für weitere 28 Bauten im Bezirk Frankfurt/Oder zu liefern. Daraufhin mussten die Bauten vorläufig eingestellt werden.
Über die Umbildung der Wismut AG in eine Deutsch-Sowjetische Gesellschaft5 werden weiterhin in größerem Umfange unter den Wismut-Kumpel Diskussionen geführt. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass trotz mehrmaliger Hinweise in den täglichen Informationen noch keine Veränderung in der Diskussion unter den Kumpel eingetreten ist und weiterhin die verschiedensten Gerüchte im Umlauf sind. In Diskussionen wird teilweise ein Unwillen zur Arbeit zum Ausdruck gebracht, da man durch die Umstellung mit größeren Entlassungen und materiellen Verschlechterungen rechnet. So sagen z. B. mehrere Kumpel aus dem Objekt Oberschlema: »Warum sollen wir uns die letzten paar Monate noch anstrengen, wir werden ja sowieso entlassen.«
In diesem Zusammenhang werden ähnliche Diskussionen auch im Leuna-Werk »Walter Ulbricht« geführt, wo man ebenfalls annimmt, dass bei der Übernahme des Werkes in Volkseigentum zahlreiche Entlassungen vorgenommen werden, besonders bei solchen Kolleginnen, deren Ehemänner ebenfalls im Arbeitsverhältnis stehen.
Ein Mangel an Hochdruckkesselrohren ist trotz mehrfacher Versprechungen der Hauptverwaltung Kohle Berlin im VEB Braunkohlenwerk Nachterstedt, [Kreis] Aschersleben, weiterhin vorhanden. Die Berohrung der Kessel ist gegenwärtig so schlecht, dass in Kürze mit dem Ausfall der Kessel zu rechnen ist, was ernste Mängel in der Energieversorgung dort nach sich zieht.
Durch Fahrlässigkeit des Fördermaschinisten im Kaliwerk »Glückauf« Sonderhausen/Erfurt stürzten am 21.11.1953 zwei leere Förderwagen in den Schachtsumpf.6 Dadurch wird die Förderung voraussichtlich bis 26.11.1953 unterbrochen.
Handel und Versorgung
In Handel und Versorgung machen sich immer wieder die bereits bekannten Mängel bemerkbar. So fehlen z. B. saisongerechte Lieferungen an Textilien (Winterbekleidung) in den Bezirken Neubrandenburg und Halle, Geschirr und Kochtöpfe sowie Würfelzucker im Bezirk Dresden, Frischfisch in Halle, HO-Butter im Bezirk Cottbus, Rosinen, Mandeln und dgl. im Bezirk Karl-Marx-Stadt, Pfeffer und Därme für Hausschlachtungen in ländlichen Kreisen des Bezirkes Erfurt, Margarine in Frankfurt/Oder, Eier in fast allen Bezirken und auch in Berlin. Im Kreis Hohenmölsen/Halle wurden Fischkonserven von 2,10 DM auf 2,60 DM erhöht. Negativ wirkt sich auch die Versorgung mit Einkellerungskartoffeln bei dem Teil der Bevölkerung aus, die diese noch nicht erhalten haben.
Landwirtschaft
Wie aus Potsdam berichtet wird, macht die Kartoffelerfassung weiterhin Schwierigkeiten. Festgestellt worden ist, dass durch die Arbeitsweise der Erfasser die Bauern sich noch sturer stellen und die Stimmung der Landbevölkerung immer schlechter wird. Mehrmals ist es schon vorgekommen, dass die Erfasser vorgefundene Kartoffeln, auch wenn sie nicht versteckt waren, zwangserfasst haben. Diese Methoden wandten einige Erfasser u. a. im Kreis Nauen, Pritzwalk und Wittstock an.
Aus Erfurt wird berichtet, dass in Bauernversammlungen, d. h. in den anschließenden Diskussionen, sehr oft die »freie Wirtschaft« von Groß- und Mittelbauern gefordert wird. Dies tritt besonders in den Gemeinden Weißensee, Tunzenhausen,7 Leubingen und Günstedt in Erscheinung.
Ersatzteile fehlen in einigen MTS des Kreises Merseburg/Halle. So werden z. B. besonders Pflugscharen, Achsen, Furchenräder und Vorschneider zum Ziehen der Winterfurche dringend benötigt.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Der Beschluss über die Gewährung einer Weihnachtszuwendung8 hat unter den Angestellten der staatlichen Verwaltungen und Institutionen negative Diskussionen ausgelöst. Bis auf wenige Ausnahmen wird zum Ausdruck gebracht, dass auch sie als Arbeiter und Angestellte staatlicher Institutionen stets ihren Verpflichtungen nachgekommen sind, deshalb nicht verstehen können, dass sie bei der Weihnachtszuwendung nicht bedacht werden. Verschiedentlich richtet sich diese Stimmung gegen den FDGB (Beitragszahlung). Die Angestellten der Kreissparkasse Magdeburg brachten z. B. in einer Versammlung zum Ausdruck, falls sie keine Weihnachtszuwendung erhalten, solange keine FDGB-Beiträge zu bezahlen, bis das Geld wieder herauskommt.
In einer Gewerkschaftsversammlung des Krankenhauses Hohenmölsen/Halle wurde eine Resolution verfasst, die an die Regierung weitergeleitet wurde. BGL-Mitglieder der Stadtverwaltung Zwickau/Karl-Marx-Stadt, die den Auftrag erhielten, die Kollegen über die Weihnachtszuwendung aufzuklären, äußerten, dass sie nicht aufklären könnten, da sie selbst einer Aufklärung bedürfen.
Über die Aufhebung der Interzonenpässe wurden nur sehr wenige Meinungsäußerungen bekannt, die fast ausschließlich positiv sind. Ein Fleischermeister aus Hohenstein-Ernstthal: »Dies ist ein Zeichen, dass unsere Regierung zur Frage der Einheit Deutschlands steht.«
Eine Hausfrau aus Demmin/Neubrandenburg: »Es ist ein großer Erfolg für uns, dass die Interzonenpässe wegfallen. Ein Hindernis ist noch zu überwinden, wenn Personen von hier nach Westdeutschland fahren, müssen sie Westgeld haben.«
Die im Bezirk Cottbus zum Monat der deutsch-sowjetischen Freundschaft durchgeführten Veranstaltungen fanden in der Mehrzahl große Zustimmung bei der Bevölkerung. 2 340 Mitglieder konnten bisher im Bezirk für die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft geworben werden.
Im Kreis Pritzwalk/Potsdam wird erregt darüber diskutiert, dass in den letzten Tagen Weihnachtspakete mit Lebensmitteln, wie Geflügel und dgl., von den Kontrollämtern zurückgesandt wurden. Bei den Paketen handelt es sich um Sendungen nach Westdeutschland.
Ein Kaufmann aus Putlitz/Potsdam: »Ist das der neue Kurs, dass ich meiner Tochter keine Gans mehr schicken darf, bis jetzt konnte ich das jedes Jahr, und jetzt geht es uns doch nicht schlechter.«
Negativ wirkt sich die Wohnraumnot im Bezirk Cottbus (Stadt) aus. Nach amtlichen Angaben fehlen 8 000 Wohnungen.
Organisierte Feindtätigkeit
Verstärkte Verbreitung von Flugblättern wird aus den Bezirken Neubrandenburg, Gera, Frankfurt/Oder, Dresden und Cottbus gemeldet, vereinzelt aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Erfurt, Halle und Potsdam. In der Mehrzahl der Flugblätter handelt es sich um solche der NTS,9 KgU10 und vereinzelt Ostbüro der SPD.11 In Gera wurden größere Mengen Flugblätter mit der Aufschrift »Heraus aus den LPGs« sichergestellt.
In der Gemeinde Libbenichen/Frankfurt/Oder äußerte der dortige Pfarrer während des Konfirmandenunterrichts: »Wenn die Jugendlichen einer Pioniergruppe angehören oder an der Volkstanzgruppe teilnehmen, dann sollen sie sich auch von diesen konfirmieren lassen, von mir werden sie jedenfalls nicht konfirmiert.«
In einer Sendung des RIAS werden die FDJ-ler in den Interessengemeinschaften aufgefordert, keine FDJ-»Funktionäre«, die »unter dem Einfluss des Zentralrates stehen«, zu wählen. Die Jugend soll solche Funktionäre wählen, die »ihre Interessen« vertreten. Ratschläge dazu erteilt die Redaktion der »Freien jungen Welt«12 Berlin-Charlottenburg.
Von der sogenannten »Butterspende« für die Bewohner des demokratischen Sektors machten am Vormittag des 23.11.1953 bereits ca. 3 000 Personen Gebrauch.13 Unter ihnen befanden sich viele jüngere Leute, die mit Vollmachten und Geburtsurkunden des Empfangsberechtigten diese sogenannten »Butterpakete« erhielten. Es ist geplant, insgesamt 420 000 Halbpfund-Butterpackungen auszugeben.
Vermutlich organisiert Feindtätigkeit
Am 22.11.1953 brannte eine Scheune eines landwirtschaftlichen Kreisbetriebes in Sternberg/Schwerin nieder. Sachschaden beträgt ca. 25 000 DM. Es handelt sich vermutlich um Brandstiftung.
Einschätzung der Situation
Nach bisher vorliegenden Informationen wird die Aufhebung der Interzonenpässe bis auf wenige Ausnahmen von der Bevölkerung begrüßt. Ein ernstes Problem ist weiterhin die schlechte Stimmung vieler Angestellter und zum Teil auch Arbeiter in öffentlichen Verwaltungen und Institutionen über die Weihnachtszuwendung. Der Gegner nutzt die Unzufriedenheit aus, um Aktionen besonders gegen den FDGB zu organisieren. Die verhältnismäßig positive Stimmung der werktätigen Bevölkerung zur Politik unserer Regierung wird immer wieder untergraben durch die fortdauernden Mängel in Handel und Versorgung. Die teilweise schlechte Stimmung unter den Bauern in einigen Kreisen ist das Ergebnis der Wühltätigkeit feindlicher Elemente und des RIAS, oft aber auch der mangelnden Aufklärung, besonders im Zusammenhang mit der Erfassung der Sollrückstände.