Tagesbericht
14. September 1953
Information Nr. 1067
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
a) Industrie und Verkehr
Die Diskussion über das Ergebnis der Bundestagswahlen1 flaut weiter ab. Allerdings muss festgestellt werden, dass sich die negativen Stimmen mehren. Dabei stehen folgende Hauptargumente im Vordergrund: Unsere Presse hat über die Zustände in Westdeutschland nicht die Wahrheit gesagt; im Westen sei der Lebensstandard höher als in der DDR; Ablehnung des missglückten Agitatoreneinsatzes für den Wahlkampf;2 wenn bei uns eine Wahl käme, würde das Ergebnis genauso ausfallen wie im Westen (Berichte aus allen Bezirken).
Nicht wenige Arbeiter, die mit Interzonenpass in Westdeutschland waren, diskutieren negativ. Charakteristisch dafür ist folgendes Beispiel. Ein Arbeiter aus dem VEB Porzellanwerk Neuhaus-Schierschnitz/Suhl sagte: »Ich kam am Montag nach der Wahl zurück. Was soll ich zum Wahlergebnis sagen? Denen geht es doch gut. Die Leute im Westen sagen, wenn die Verhältnisse so blieben wie jetzt, wäre alles in Ordnung. Die wollen es gar nicht anders haben.«
Genossen beschweren sich, dass die Presse ihnen nicht genügend Argumente in die Hand gebe, sie könnten nicht immer erfolgreich diskutieren. Hier ist besonders die Bezirkspresse gemeint. In einer Besprechung mit Parteisekretären aus Betrieben in Dresden sagte z. B. ein Genosse: »Wir kriegen Pfeffer von den Arbeitern, wenn wir durch den Betrieb gehen. Wir wissen nicht richtig zu diskutieren, weil wir das Wahlgesetz nicht richtig kennen. Die Presse hinkt überall hinterher, besonders die ›Sächsische Zeitung‹.3 Warum wird nicht in der Presse geschrieben, wie die Wahl in Westdeutschland vor sich gegangen ist, damit man den Wahlbetrug richtig entlarven kann. Die ›Sächsische Zeitung‹ geht stillschweigend darüber hinweg.«
In der Grube »Franz Mehring« Senftenberg/Cottbus schickt die Parteiorganisation in alle Abteilungen Agitatoren. Die Arbeiter lassen sich aber auf keine Diskussion ein und schweigen. Ähnlich wird auch aus anderen Bezirken berichtet. Es ist anzunehmen, dass sich hier RIAS-Parolen auswirken. In der Maschinenabteilung des Zementwerkes Rüdersdorf/Frankfurt haben es gegnerische Elemente verstanden, die Arbeiter von den Parteimitgliedern zu isolieren. Von 110 Beschäftigten sind zehn Mitglieder der Partei.
Ca. 40 Arbeiter des Bahnhofs Seddin/Potsdam beabsichtigten, im Zug mitfahrende Volkspolizisten tätlich anzugreifen, um Paketkontrollen zu verhindern.4 Ausschreitungen konnten vereitelt werden.
Mehrere Jungarbeiter der Bau-Union Spree, Baustelle ABUS Wildau, kündigten wegen angeblich zu geringer Lohnzahlung. Es wird angenommen, dass sie in Westberlin arbeiten wollen.
Aus allen Betrieben wird mangelhafte FDGB-Beitragszahlung gemeldet. Beispiel: Im Bezirk Cottbus ist bei der IG Metall die Beitragszahlung im Kreis Finsterwalde um 60 % gesunken, im Kreis Forst um 50 %, Senftenberg 40 %, Harzberg 35 %, Weißwasser 30 %.
Im VEB Wirkmaschinenbau Karl-Marx-Stadt wirkt sich die RIAS-Parole »Langsamarbeiten« aus.
b) Handel und Versorgung
Durch entgegengesetzte Anweisungen (Minister Wach5 ordnet an, dass die Wismut direkt beim Hersteller kaufen soll, Minister Selbmann6 dagegen, dass über die DHZ gekauft werden soll) soll der Einkauf von Textilien für die Wismut gefährdet sein, da auf der Leipziger Messe keine Lieferverträge abgeschlossen werden konnten.
Eine größere Warenstauung an Fisch- und Fleischkonserven ist in Dresden zu verzeichnen. Minister Wach antwortete auf den Vorschlag der dortigen Handelsfunktionäre, den Preis für diese gestauten Waren zu senken, da sie sonst verderben, dies sei ein Argument des Klassengegners.
In Neustrelitz/Neubrandenburg wird heftig kritisiert, dass sich die Margarine in HO und Konsum oft in einem ungenießbaren Zustand befindet (grüne Farbe und Schimmelpilz). Im Kreis Sangerhausen/Halle ist ein Mangel an Frischfleisch zu verzeichnen. Mangel in der Versorgung mit Arbeitskleidung und Kohle tritt in allen Bezirken in Erscheinung.
Ein Solinger Aussteller von der Leipziger Messe bringt zum Ausdruck, dass sich westdeutsche Aussteller über Angestellte unserer Handelsorgane wegen ihrer unzureichenden Fachkenntnisse lustig gemacht haben.
c) Landwirtschaft
Diskussionen über die Wahlen in Westdeutschland werden nur noch vereinzelt geführt. Änderungen in der Argumentation sind nicht in Erscheinung getreten. Nach wie vor bestehen in der Landwirtschaft Schwierigkeiten in der Sollablieferung. So wird aus Cottbus und Dresden bekannt, dass die Großbauern nur schleppend abliefern. In den Gemeinden Striegnitz und Raußlitz7/Dresden gibt es Großbauern, die überhaupt noch nicht abgeliefert haben. In der Altmark/Magdeburg versucht man die mangelnde Sollablieferung damit zu begründen, die Ernte sei schlecht und bei restloser Ablieferung sei die Futtergrundlage nicht gesichert. Gleiche Argumente werden im MTS-Bereich Pouch/Halle und im Kreis Zossen/Potsdam gebraucht, wo die Großbauern eine Sollherabsetzung von 50 % fordern.
Im Kreis Belzig/Potsdam bieten die Bauern der Regierung für jeden von ihnen nicht abgelieferten Ztr. Getreide 40,00 DM. Andererseits wurde jedoch festgestellt, dass Bauern Getreide für 60,00 DM pro Ztr. an Kleinviehhalter verkaufen.
In einer Versammlung in Flöha/Karl-Marx-Stadt legte ein Meisterbauer (Mitglied der LDP) eine Resolution vor, wonach Funktionäre im Staatsapparat aus der Abteilung Landwirtschaft abtreten sollen.
In der LPG Teichwolframsdorf/Gera verfaulten ein Morgen Roggen und zwei Morgen Hafer auf dem Feld.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Allgemein wird ein Rückgang in der Diskussion über die Wahlen festgestellt. In den nur noch gering geführten Gesprächen ist eine Änderung in der Argumentation nicht zu verzeichnen. Stärker wird zzt. über wirtschaftliche Fragen diskutiert. So steht z. B. das Verlangen nach einer Verbesserung der Lebenslage durch Senkung der HO-Preise im Vordergrund. In diesem Zusammenhang werden oft Zweifel an der Durchführung des neuen Kurses der Partei und Regierung geäußert.
Die mangelhafte Versorgung mit Strom und Kohle ist nach wie vor Anlass zu negativen Diskussionen. Oft tritt in Erscheinung, dass Interzonenreisende nach ihrem Besuch in Westdeutschland die dortigen Lebensverhältnisse verherrlichen. Dies wirkt sich negativ auf die Stimmung der Bevölkerung aus.
An der Großkundgebung anlässlich des »Tages der Widerstandskämpfer gegen Faschismus« am 12.9.1953 in Karl-Marx-Stadt beteiligten sich 25 000 bis 30 000 Personen (steht in keinem Verhältnis zur Einwohnerzahl). Ca. 3 000 Personen verließen vorzeitig den Kundgebungsplatz.
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblatttätigkeit vereinzelt in den Bezirken Rostock, Karl-Marx-Stadt und in Berlin, stärker in den Bezirken Cottbus, Frankfurt, Potsdam, Gera.
Einem Bericht aus Potsdam zufolge sind vom Ostbüro der FDP8 300 000 gefälschte Exemplare der Zeitschrift »Neue Zeit«9 von Westberlin nach der DDR eingeschleust worden; weitere sollen folgen.
In Senftenberg wurde ein Volkspolizist von vier Jugendlichen überfallen und misshandelt. Auf dem Bahnhofsvorplatz in Fredersdorf, [Kreis] Strausberg, [Bezirk] Frankfurt, rotteten sich am Abend des 11.9.1953 ca. 100 »Halbstarke« zusammen, beschimpften die Volkspolizisten, die dort Paketkontrollen durchführten, und schlugen die Scheibe eines Postenhauses ein. Beim Eintreffen des Schnellkommandos löste sich die Horde auf. Werktätige erklärten sich in anschließenden Diskussionen mit den Volkspolizisten solidarisch.
Stimmen aus Westberlin
Einige West-BVG-Angestellte unterhielten sich in der U-Bahn. Dabei brachten sie zum Ausdruck, die SPD hätte mehr Chancen gehabt, wenn Westberlin mit gewählt hätte, dann wäre aber auch die Stellung zum Osten noch aggressiver geworden. Die SPD sei aber bereits auf dem besten Wege, eine rein bürgerliche Partei zu werden und schwimme im gleichen Fahrwasser wie die CDU.
Auf dem Arbeitsamt in der Charlottenstraße sagte eine Frau: »Dass Adenauer ran gekommen ist, bedeutet, dass es wieder heißt, man muss im Besitz des richtigen Parteibuches sein, um Arbeit zu bekommen. Es ist ja jetzt schon so, aber das kommt noch schlimmer. Den Pensionären und Beamten wird man noch mehr in den Rachen schmeißen. Es ist nur ein Glück, dass er uns wenigstens nicht dem Osten ausliefert. Darauf können wir uns verlassen, aber sonst?«
Einschätzung der Situation
Der Anteil der negativen Stimmen zu der jetzt nicht mehr so umfangreich geführten Diskussion über das Wahlergebnis in Westdeutschland hat sich erhöht. Diese wurde ermöglicht durch die nicht rechtzeitige und ungenügende Aufklärung. In bürgerlichen Kreisen verstärkt sich im Zusammenhang mit dem Wahlergebnis die feindliche Stimmung (CDU und LDP).
Von Genossen und fortschrittlichen Kreisen der Bevölkerung wird unsere Parteipresse und der Rundfunk immer mehr kritisiert, weil die Informationen über Westdeutschland vor der Wahl ungenügend gewesen sind, nicht immer reale Tatsachen berichtet werden, den Genossen zu wenig Argumente gegeben werden, um den feindlichen Diskussionen entgegenzutreten.
Die vielen falschen Meinungen und die abwartende Haltung der Bevölkerung zum neuen Kurs haben ihre Ursache nicht nur in den weiter anhaltenden Mängeln in der Versorgung und der ungenügenden Aufklärung, sondern hier zeigen sich sehr deutlich, genau wie zum Wahlergebnis, bei großen Teilen der Bevölkerung wachsende feindliche Einflüsse. Der wachsende Einfluss der gegnerischen Propaganda zeigt sich besonders in einer ganzen Reihe Betriebe in der aggressiven Haltung gegen Staatsorgane bei Kontrollen nach Provokationspaketen und auch in solchen Stimmungen wie z. B. im Bezirk Halle, wo man auf »neue Aktionen« und politische Veränderungen wartet.
Anlage (o. D.) zur Information Nr. 1067
[Feindliche Schriften]
Verstärkt tritt in Erscheinung, dass der Gegner an Personen, die in der DDR wohnhaft sind, Briefe mit hetzerischem Inhalt verschickt. Zur besseren Übersicht werden nachfolgend einige Beispiele aufgeführt:
Schreiben der »Widerstandsbewegung Mecklenburg«,10 die an Bewohner der DDR gesandt werden, enthalten neben einer Hetze und Drohung die Aufforderung »Arbeite langsam«, gleichzeitig wird zur Schädlingstätigkeit aufgefordert.
Vom »Völkischen Bund«11 wird ein vervielfältigtes Schreiben an Personen in die DDR verschickt, in welchem neben einer wüsten Hetze zur Schädlingstätigkeit aufgefordert wird, so z. B. Sand in Schmierbüchsen der Maschinen streuen, Draht über die Telefondrähte werfen oder diese mit Bindfaden zusammenziehen, Signaldrähte der Eisenbahn auseinanderknüpfen, Sand in die Schmierbüchsen der Waggons werfen, Transformatoren unbrauchbar machen, in Benzin Zucker werfen, Wicklungen und Kabel mit Salz und Schwefelsäure begießen, langsam und verkehrt arbeiten.
Durch fingierte Rundschreiben (Zentralvorstand IG Gesundheitswesen) an Ärzte wird versucht, die Parole des Gegners »Krankmeldungen« zu unterstützen.
Von der »KgU«12 werden in Briefen verschiedene Hetzschriften an Personen in die DDR verschickt, so z. B. »Warum muss das Volk hungern«, »Der 17. Juni, die erste Kraftprobe des Volkes«, »F nach dem Aufstand«.13 Alle Hetzschriften enthalten eine wüste Hetze gegen die DDR, wobei unter anderem aufgefordert wird: »Die Unerschütterlichkeit zu wahren, Verbesserung der Lebenshaltung fordern, keine Demonstrationen aber passive Resistenz, Hilfe den Angehörigen politischer Gefangener« und dgl. mehr. In einer Hetzschrift »Die Rolle der Versicherung in der Finanzpolitik in der DDR« wird aufgefordert, Gelder, wie Aufbausparen, Lebensversicherung und dgl. zu kündigen, um den Staat auf finanzpolitischem Gebiet zu schädigen. In einem vervielfältigten Schreiben an Funktionäre der Partei, des SfS, VP und dgl. wird mit einer kommenden Verantwortung gedroht, was mit der Aufforderung »Bildung einer Notgemeinschaft gegen Terror und Diktatur« verbunden wird.
Von der »SED-Opposition« wird der »Kaderbrief für die Sozialisten in der DDR« an Genossen in der DDR verschickt.14 Inhalt: Trotzkistische Hetze gegen die Partei und SU.
In einem Brief »Freie Junge Welt«15 an Jugendheime der FDJ wird der Heimleiter aufgefordert, gegen das kollektive Zusammenleben, Morgenappell, Flaggenparade und dgl. zu arbeiten. In der Anlage befindet sich ein Flugblatt, in welchem Hetze gegen die Schulung der FDJ, gegen den Zentralrat und die SED getrieben wird.
Mit welch raffinierten Mitteln der Gegner versucht, Hetze gegen unsere Regierung zu treiben, zeigt nachfolgendes Beispiel: In einem fingierten Schreiben (Ministerium der Finanzen) an eine HO-Gaststätte in Zwickau wird hervorgehoben, »dass es nicht zu vertreten ist, dass ein Staatsfunktionär in zwei Tagen eine Zeche von 3 620 DM macht, die aus Staatsgeldern beglichen wird. Der beteiligte Herr Ministerpräsident erhält neben einem Sondergehalt von 33 000 DM eine Aufwandsentschädigung von 30 000 DM« und dgl. mehr. Dieses Schreiben befindet sich aber in einem Briefumschlag (Ministerium der Finanzen) an eine Privatfirma in Zwickau.
Wie in Erfahrung gebracht werden konnte, wurden beim RIAS 1 000 Schreiben fertiggestellt, die in den nächsten Tagen an Personen in die DDR verschickt werden sollen. In diesen Schreiben wird unter Ausnutzung der Vorkommnisse am 17.6.1953 aufgefordert, den RIAS zu besuchen. Ziel dieser sogenannten Aktion ist die Werbung von Agenten. Für Adressen von Fachleuten aus der Feinmechanik, Hochfrequenztechnik, Blei- und Kupferindustrie wird 1,00 DM (West) geboten.