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Tagesbericht

26. November 1953
Informationsdienst Nr. 2031 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Über die Verordnung zur Abschaffung der Interzonenpässe in der DDR1 wird auch heute nur von einem verhältnismäßig kleinen Teil der Arbeiter diskutiert. Die bekannt gewordenen Stimmen haben, bis auf wenige Ausnahmen, einen positiven Inhalt.

Ein parteiloser Arbeiter aus Cottbus: »Was möglich war in der Frage der Interzonenpässe, hat unsere Regierung getan. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass der Tag nicht mehr fern sein wird, wo auch die Aufenthaltsgenehmigung2 der Vergangenheit angehört und wir das Wort ›Bundesrepublik‹ aus dem Wörterbuch streichen können. Bis dahin müssen wir aber wachsamer denn je sein, damit die Feinde der Republik rechtzeitig unschädlich gemacht werden können.«

Ein Kumpel des Wismut-Objektes Oberschlema: »Die Erleichterung im Interzonenverkehr ist wieder ein Schritt vorwärts, aber nun müsste auch die Einreise in das Sperrgebiet der Wismut erleichtert werden.«3

Ein parteiloser Ingenieur der Neptun-Werft Rostock: »Durch den Fortfall der Interzonenpässe hat sich in der Praxis nichts geändert. Eine Kontrolle wird ja doch durch die Abgabe der Personalausweise ausgeübt. Für mich ist die Angelegenheit erst klar, wenn man ohne jede Kontrolle fahren kann. Unsere Regierung ärgert sich sicher darüber, dass ihnen der Westen zuvorgekommen ist und sie nun nicht anders konnten.«

Auch über den neuen Brief der Regierung der DDR4 an die Bonner Regierung wird nur vereinzelt diskutiert. Ein Arbeiter des VEB Schreibmaschinenwerkes Dresden: »Ich erkenne die Bemühungen unserer Regierung an, die Vorschläge werden aber durch die Bonner Regierung bestimmt wieder abgelehnt, weil sie nicht im Interesse der Monopolkapitalisten liegen. Es wäre zu wünschen, dass der bestehende Zustand der Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland abgeändert und alles für die Erhaltung des Friedens getan wird.«

Über die Entlarvung der Agentengruppen in der DDR,5 wozu im Stahlwerk Silbitz/Gera eine Versammlung stattfand, äußerten sich sämtliche Kollegen der Abteilung Formerei positiv darüber. Der Meister dieser Abteilung bringt diese Meinung mit den Worten zum Ausdruck: »Solche Aussprachen vonseiten der Staatsorgane sind erstmalig im Betrieb und sehr interessant und dienen als Erziehung in den Betrieben. Die feindlichen Elemente schneller zu entlarven und diese den Staatsorganen zur Bestrafung zuzuführen, das ist mit unsere Aufgabe.«

Anlässlich des Monats der deutsch-sowjetischen Freundschaft wurden z. B. im VEB Simson6 Suhl 107 neue Mitglieder für die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft geworben. Aus dem gleichen Anlass verpflichtete sich die Belegschaft des Werkes, noch im Jahre 1953 zusätzlich 300 Motorräder, 4 500 Fahrräder und 200 Jagdgewehre fertigzustellen. Der VEB WEMA Rochlitz/Karl-Marx-Stadt erfüllte am 23.11.1953 den Jahresplan vorfristig mit 100,8 %. Ebenfalls wurde die Verpflichtung des VEB Emaillierwerkes7 Prettin/Cottbus über die Fertigung von 100 000 Wassereimern vorfristig erfüllt.

Verschiedentlich treten Produktionsschwierigkeiten, die teilweise durch Materialmangel, besonders jedoch durch Waggonmangel, verursacht werden, in Erscheinung. Im VEB Plüschweberei Kloster Zinna/Potsdam treten z. B. Produktionsschwierigkeiten auf, da der Betrieb ungenügend mit Zellwollgarnen (Art. 40/1 und 50/2) beliefert wird.

Durch mangelhafte Qualität der Kohle aus der Kohlengrube Mücheln, die an die Kraftwerke Erfurt und Gispersleben geliefert wurde, wurden vom Oktober 1953 bis zum jetzigen Zeitpunkt 21 Mio. kW weniger Strom in beiden Werken erzeugt. Durch diese Kohle erhöhte sich der Ascheanfall von 10 auf 19 %. Die Reinigung der Kessel muss jetzt anstelle von 5 000 bis 6 000 Stunden bereits nach höchstens 800 Stunden erfolgen. Das Monatssoll von 16 Mio. kW kann dadurch in den Betrieben nicht erfüllt werden.

Im Mansfeld-Kombinat »Wilhelm Pieck« hat sich am Flügel III ein spürbarer Leerwagenmangel bemerkbar gemacht. Fast jeden Tag vergehen 1½ bis 2 Stunden, in denen die Arbeit infolge des Wagenmangels ruht. Dadurch sind viele Brigaden mit ihrem Soll in Rückstand. Durchschnittserfüllung der Produktion in den letzten Tagen: ca. 60 %. Die Kumpel sind darüber sehr empört, da dadurch ihr Verdienst geringer ist.

In verschiedenen Wismut-Objekten treten besonders in den letzten Tagen Schwierigkeiten bei der Förderung auf. So erhält z. B. jede Brigade im Objekt Oberschlema pro Schicht nur drei Hunte8 bei einem Bedarf von acht bis zehn Stück. Dieses wird von einem Teil der Kumpel in der Diskussion ausgenutzt, indem sie sagen: »Nun ja, unser Jahresplan ist erfüllt und man schafft jetzt künstliche Schwierigkeiten in der Förderung, da man noch nicht weiß, wie unser Betrieb nach dem 1. Januar aussieht.«

Über die Versorgung mit Mangelwaren für die Weihnachtstage wird verschiedentlich von Arbeitern zum Ausdruck gebracht, dass diese auch durch die Betriebe erfolgen muss. Ein Arbeiter aus dem VEB Lactacida,9 Niederstriegis/Halle:10 »Ich bin der Ansicht, dass die Belieferung mit Mangelwaren für die Weihnachtsbäckerei auch durch die Betriebe erfolgen muss, da diese Waren nach Betriebsschluss in der HO meist ausverkauft sind.«

Handel und Versorgung

Wie aus Karl-Marx-Stadt mitgeteilt wird, werden die Warenanforderungen der HO-Wismut für Weihnachten um ca. 40 % gekürzt, da ein Teil dieser Waren voraussichtlich erst nach Weihnachten aus den Volksdemokratien eintreffen wird.

Aus Erfurt wird berichtet, dass die vom Ministerium für Handel und Versorgung eingeplanten Margarinesorten nicht dem eigentlichen Bedarf entsprechen.

Eingeplant:

Bedarf:

22,8 % Sorte I

30 % Sorte I

19,3 % Sorte II

50 % Sorte II

57,9 % Sorte III

20 % Sorte III

Aus Potsdam wird berichtet, dass seit dem 21.11.1953 im Kreis Pritzwalk keine Butter auf Lebensmittelkarten verkauft werden kann. Trotz Rücksprache mit der DHZ Kyritz wurden noch keine entsprechenden Maßnahmen getroffen.

Im Kreis Bad Salzungen/Suhl fehlen der Konsumgenossenschaft ca. 8 t Margarine zur Aufstockung. Bei der HO fehlen Eier, Fischkonserven und Obst. 50 t Weizenmehl wurden dagegen zu viel angeliefert.

Im Kreis Parchim/Schwerin fehlt es besonders an Kinderschuhen und Kinderkleidung.

Landwirtschaft

Schwierigkeiten in der Kartoffelerfassung werden aus den Bezirken Potsdam und Schwerin berichtet. Immer wieder wird festgestellt, dass Bauern ihre Kartoffeln eingemietet haben, ihren Verpflichtungen in der Ablieferung aber nicht nachkommen und zum Teil Widerstand leisten. So hatte z. B. ein Großbauer aus Rohrlack/Potsdam seine Kartoffeln im Garten versteckt und als Misthaufen getarnt. Erst als diese aufgefunden und er auf den Betrug aufmerksam gemacht wurde, erklärte er sich zur Ablieferung bereit.

Der Bürgermeister und LPG-Vorsitzende aus Friedenshorst/Potsdam warf beim Eintreffen der Erfasser sein Parteibuch mit der Bemerkung fort: »Jetzt habe ich genug von euch.« Ein Großbauer aus Mankmuß/Schwerin: »Wenn ihr nicht so schnell wie möglich vom Hof verschwindet, werde ich euch mit den Hunden herunter treiben.« Im Bezirk Cottbus liegt die Kartoffelablieferung bei 92,1 %. 14 Kreise liegen noch unter 90 %.

In Seidingstadt/Suhl beschweren sich die Bauern, dass die Bezahlung der abgelieferten Produkte erst nach vier bis sechs Wochen vorgenommen wird. Ähnliche Beispiele werden aus dem Bezirk Neubrandenburg berichtet. So äußerte z. B. ein LPG-Mitglied aus Metzelthin/Neubrandenburg: »Für meine zwei Schweine auf freie Spitzen11 erhielt ich von der BHG nach drei Wochen 50,00 DM und eine Woche später 100,00 DM Vorschuss. Laut Regierungsverordnung habe ich innerhalb einer Woche mein Geld (1 800 DM) zu beanspruchen.«

In Sparnberg/Gera wurden wegen Ausbruch von Rotlauf die Schweine der LPG geimpft. Der Tierarzt lehnte es ab, die Schweine der Einzelbauern zu impfen, da er dazu angeblich keinen Impfstoff erhalten habe. Dadurch wurde eine gewisse Missstimmung ausgelöst. Die Bauern sind der Meinung: »Schwein ist Schwein, gleich, bei wem es im Stall steht.«

Eine Großbäuerin aus Ludwigslust/Schwerin, die durch mangelnde Arbeitskräfte ihr Land nur zum Teil bestellen konnte, meldete dies beim Rat des Kreises und machte den Vorschlag, dass man ihr unentgeltlich von den 37 ha Land ca. 20 ha abnehmen soll. Die zuständigen Stellen haben bis jetzt nicht darauf reagiert, was unter den Groß- und Mittelbauern negative Diskussionen auslöst.

An einem Erfahrungsaustausch der MTS in Malchin/Neubrandenburg, an dem sich 300 Personen beteiligten, unter anderem 60 technische Leiter von MTS im Bezirk, antwortete eine Direktorin einer MTS in der SU auf die gestellten Fragen. Alle Kollegen waren erstaunt über die fachlichen Kenntnisse dieser sowjetischen Direktorin.

Traktoristen der MTS Westenfeld/Suhl wollen keine Feldarbeit mehr leisten, wenn sie nicht die angeforderten Schneeketten erhalten, da die Traktoren beim Ziehen der Winterfurche rutschen.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Über die Abschaffung der Interzonenpässe wurden auch am heutigen Tage nur sehr wenige Meinungsäußerungen bekannt, die zum überwiegenden Teil positiven Inhalt haben. Eine Hausfrau aus Auerbach/Karl-Marx-Stadt: »Jetzt kommen wir auch der Einheit unseres Vaterlandes näher.«

Auch über das Schreiben unserer Regierung an die Bundesrepublik in Bonn wurden bisher nur vereinzelt Stimmen bekannt. Ein Angestellter der BHG aus Moltzahn/Neubrandenburg: »Die neuen Schritte unserer Regierung beweisen wieder, dass von unserer Seite alles getan wird, um auf friedlichem Wege zur Einheit Deutschlands zu kommen. Beispiele hierfür sind die Aufhebung der Interzonenpässe und der Brief unserer Regierung an die Regierung in Bonn.«

Unter den Arbeitern und Angestellten staatlicher Verwaltungen und Institutionen hält die Missstimmung über den Beschluss zur Auszahlung von Weihnachtszuwendungen12 weiterhin an. Die BGL der Notenbank Schönebeck/Magdeburg hat z. B. im Auftrage der Belegschaft ein Schreiben an den Bundesvorstand des FDGB gerichtet. Darin wird zum Ausdruck gebracht, dass sie mit dem Beschluss des Ministerrats nicht einverstanden sind und fordern den Bundesvorstand auf, Schritte einzuleiten, dass auch die Angestellten der Verwaltungen in den Genuss der Weihnachtszuwendung kommen. In einer Belegschaftsversammlung im Krankenhaus Penig/Karl-Marx-Stadt brachte die Belegschaft zum Ausdruck, dass sie aus dem FDGB austreten werden, da die Interessen der Mitglieder ja doch nicht vertreten werden.

Bei dem Teil der Bevölkerung, die bis zum heutigen Tage noch keine Einkellerungskartoffeln erhalten haben, machen sich immer stärker negative Meinungsäußerungen bemerkbar. Eine Frau aus Altenburg/Leipzig: »Bis jetzt habe ich noch keine Kartoffel erhalten, es ist nicht das erste Mal, dass so eine Schlamperei passiert und es ist an der Zeit, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Man wird wieder solange warten, bis solche Dinge passieren wie am 17.6., und dann schreibt man wieder, wir haben Fehler gemacht.«

Ereignisse von besonderer Bedeutung

In der Gemeinde Großfurra/Erfurt (2 244 Einwohner) sind in den letzten Tagen 60 Kinder an Masern erkrankt. Ein Todesfall ist bereits zu verzeichnen.

Organisierte Feindtätigkeit

Verstärkte Verbreitung von Flugblättern wird aus den Bezirken Potsdam, Schwerin und vereinzelte aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Cottbus und Gera gemeldet. In der Mehrzahl handelt es sich um Flugblätter des Ostbüros der SPD,13 wo gegen den FDGB eine Hetze getrieben wird.

Aus den Bezirken Halle und Potsdam wird berichtet, dass in stärkerem Umfang Hetzbroschüren durch die Post an Personen und demokratische Organisationen verschickt werden. Absender dieser Sendungen KgU,14 Inhalt: Aufforderung zum passiven Widerstand.

In der LOWA Dessau/Halle wurde am 22.11.1953 folgender Diversionsakt verübt: Bei einem Exportauftrag von Kühlwagen für die SU wurden von bisher unbekannten Tätern bei verschiedenen Wagen die Kupplungen ausgehängt, wodurch beim Anfahren an den Kühlwagen fünf Faltenbälge zerrissen wurden. Sachschaden ca. 1 600 DM.

Ein Beispiel über neue Methoden in der Arbeit der NTS:15 In Spremberg/Cottbus erhielt eine Frau einen Brief aus Westberlin mit dem Absender »Zentralvereinigung der Nachkriegsemigranten aus der UdSSR – Berliner Vertretung« mit Flugblättern in russischer und deutscher Schrift. Im Begleitschreiben wird sie aufgefordert diese Flugblätter ihr persönlich bekannten sowjetischen Offizieren und Soldaten zu übergeben.

In Niesky/Dresden wurde von unbekannten Tätern an einer Straßenkreuzung mit weißer Ölfarbe ein Hakenkreuz angemalt.

Vermutlich organisierte Feindtätigkeit

Im Kreis Neuruppin/Potsdam gehen verstärkt Anträge vom evangelischen Konsistorium Berlin auf Zulassung von Jugendpfarrern aus Westberlin, die teilweise arbeitslos sind, im dortigen Kreisgebiet ein. Der Rat des Bezirkes hat dem Kreisrat die Anweisung erteilt, die Anträge Ende November ohne Begründung abzulehnen.

Über dem Fußweg zum Stahlwerk Olbersdorf/Zittau wurde in Kopfhöhe ein Stacheldraht von bisher unbekannten Tätern gespannt. Eine Person wurde dadurch verletzt.

Einschätzung der Situation

Die Lage hat sich nicht verändert.

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