Tagesbericht
27. Oktober 1953
Informationsdienst Nr. 2004 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
a) Industrie und Verkehr
Die durch den Ministerrat beschlossene Preissenkung1 steht in allen Betrieben im Mittelpunkt der Diskussion. Durch diesen Beschluss, der zur weiteren Verbesserung der Lebenshaltung der Bevölkerung, besonders jedoch der Arbeiter, beiträgt, wurde das Vertrauen zur Partei und Regierung und damit zum neuen Kurs wesentlich gefestigt. Dabei ist zu merken, dass selbst Arbeiter, die nach dem Beschluss über die Steuersenkung noch zurückhaltend und skeptisch waren, jetzt durch den Beschluss zur Preissenkung von der Richtigkeit der Politik der Partei und Regierung überzeugt wurden. In immer größerem Maße wird die Zustimmung zu diesen Beschlüssen durch Produktionssteigerungen, freiwillige Normerhöhungen und durch Anträge zur Aufnahme als Kandidat in die SED zum Ausdruck gebracht. Teilweise sind jedoch die Arbeiter der Meinung, dass die Preise für tägliche Bedarfsgüter wie Butter, Zucker u. a. ebenfalls gesenkt werden müssten. Negative Diskussionen zu diesen Beschlüssen stehen in keinem Verhältnis zu der allgemeinen freudigen Zustimmung.
Die Abteilung Buchsendreherei des VEB Presswerkes Spremberg/Cottbus verpflichtet sich aufgrund der Preissenkung, ihre Norm freiwillig um 10 % zu erhöhen. Die Schweißerbrigade der ABUS Halle im Kirow-Werk/Leipzig erhöhte ihre Norm freiwillig um 5–10 %. Die Zimmerleute des gleichen Betriebes erhöhten ihre Normen um 10–15 %. Die Arbeiter des Großkraftwerkes Hirschfelde, Kreis Zittau, verpflichteten sich, als Gegenleistung für die von der Regierung beschlossene Preissenkung, die anlässlich des Besuchs des Genossen Otto Grotewohl am 26.10.1953 geleistete Hochleistungsschicht bis Jahresende weiter durchzuführen.
Ein Angehöriger der technischen Intelligenz des VEB Deutzen2/Leipzig: »Das ist meines Erachtens der schlagendste Beweis dafür, dass es unsere Regierung mit der Verkündung des neuen Kurses ernst meint. Mir soll das Ansporn sein nun erst recht an unserem wirtschaftlichen Aufbau weiter zu schaffen.«
Eine Arbeiterin des VEB Richard Dembny, Schraubenfabrik Zerbst/Magdeburg, stellt den Antrag um Aufnahme als Kandidat in die SED. Sie begründete es damit, dass sie jetzt sieht, dass die Partei die Interessen der Arbeiter vertritt.
Zwei parteilose Kolleginnen des VEB Presswerkes Spremberg/Cottbus traten der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft bei, weil sie der Meinung sind, dass die SU einen großen Teil dazu beigetragen hat, dass eine derartige Preissenkung durchgeführt werden konnte.
Als sichtbaren Ausdruck des Vertrauens zur Regierung stellten drei Kollegen des Edelstahlwerkes Döhlen/Dresden, darunter der kaufmännische Direktor, ihre Sparguthaben des Nationalen Aufbauprogramms 1952 der Regierung zur Verfügung.
Ein Kollege der RBD Schwerin sagte: »Ich begrüße aufrichtig die Preissenkung, bedaure aber, dass die Preise für die täglichen Nahrungsmittel, wie Butter, Zucker, Mehl und Eier, nicht gesenkt wurden.« Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Verbesserung des Lebensstandards der Werktätigen in der DDR sagte ein Arbeiter von der RBD Schwerin zum Wohnungsproblem: »Man müsste auch Kredite für einen Wohnungsbau aufnehmen können. Mancher Kollege würde sich ferner bereit erklären, auf genossenschaftlicher Ebene das Wohnungsbauprogramm durch Darlehen zu unterstützen und dadurch würde das Wohnungsproblem wesentlich verbessert werden.«
Eine der wenigen negativen Diskussionen ist die von zwei Kolleginnen des Chemischen Werkes Cottbus, sie sagten: »Uns interessiert die Preissenkung nicht, wir fahren nach Westberlin und kaufen dort unsere Bekleidung.«
In der Baumwollspinnerei Mittweida Werk II konnte aufgrund von Stromabschaltungen der Produktionsplan der letzten zwei Monate nicht erfüllt werden.
b) Handel und Versorgung
Aus den Bezirken Dresden, Erfurt und Karl-Marx-Stadt »W« wird berichtet,3 dass eine Anweisung vom Ministerium der Finanzen herausgegeben wurde, wonach Haushalts- und Wirtschaftsgeschirr (900–1 000 Artikel) aus dem Sonderpreisdienst herauszunehmen sind. Diese Anweisung wurde aber erst gegeben, als die Preissenkung bereits abgeschlossen war, wodurch unnötig Missstimmung erzeugt wurde. So z. B. waren im Kreis Eisenach durch die gute Arbeit der Angestellten der HO die Waren in den Schaufenstern bereits neu ausgezeichnet, als die Änderung erfolgte. Dies rief eine Verärgerung unter dem Teil der Bevölkerung hervor, der bereits von den neuen Preisen Kenntnis genommen hatte.
Der Leiter der HO Industriewaren Malchow/Neubrandenburg erklärt, dass Autoreifen, die sonst noch einige Monate gereicht hätten, in kurzer Zeit ausverkauft waren.
c) Landwirtschaft
Unter der ländlichen Bevölkerung ist zu verzeichnen, dass keine der von Partei und Regierung beschlossenen Maßnahmen bisher solche Diskussionen und freudige Zustimmung ausgelöst hat, wie die am 24.10.1953 beschlossene Preissenkung. Die besonders im landwirtschaftlichen Sektor stark in Erscheinung getretene abwartende Haltung gegenüber dem neuen Kurs scheint dadurch gebrochen zu sein. Die letzten von Partei und Regierung beschlossenen Maßnahmen werden zum größten Teil als Garantien für die Durchführung des neuen Kurses angesehen. Vereinzelt wurden Selbstverpflichtungen von Mitgliedern der LPG und MTS eingegangen. Negative Äußerungen traten wenig in Erscheinung. So z. B. richtete die Belegschaft der MTS Herzberg ein Grußtelegramm an unsere Regierung mit mehreren Selbstverpflichtungen, unter anderem verpflichtet sich ein Traktorist, mit seinem Raupenschlepper das Jahressoll mit 140 % bei gleichbleibenden Selbstkosten zu erfüllen. Eine Genossenschaftsbäuerin aus Alt Tucheband/Frankfurt verpflichtet sich, ihre Arbeitseinheiten nach dem Statut mit 100 % mehr zu erfüllen, d. h. bis zum Jahresende 300 Arbeitseinheiten zu leisten.
Die LPG Grassau4/Cottbus, die gerade Erntefest feierte, erreichte die Nachricht von der Preissenkung. Unter den Anwesenden entstand sofort eine freudige Stimmung, sie verpflichteten sich noch mehr als bisher ihre ganze Kraft für die Erhaltung des Friedens einzusetzen. Ein Arbeiter der MTS Ammelshain/Leipzig: »Wenn wir wollen, dass die Preise noch mehr gesenkt werden, müssen wir noch mehr arbeiten. Wir verdanken dies alles nur der großzügigen Hilfe der SU und alle Werktätigen müssten den Aufruf des Kunstfaserwerkes ›Wilhelm Pieck‹5 begreifen und danach handeln.«
Ein Landarbeiter aus Olbersdorf/Dresden: »Diejenigen Menschen, welche nicht über die Preissenkung erfreut sind, kann man nur als unsere Feinde bezeichnen. Ich jedenfalls werde nicht zu weit gehen, wenn ich behaupte, dass 80 % der Bevölkerung durch die Preissenkung ehrlich erfreut wurden.«
Ein Mittelbauer aus Leina/Erfurt: »Diese Preissenkung ist ja wirklich eine feine Sache. Noch keine Regierung hat solch günstige Maßnahmen getroffen wie die jetzige. Ich habe nur noch einen Wunsch, dass wir im Frühjahr genügend Düngemittel bekommen, um an der weiteren Verbesserung der Lebenslage mitzuhelfen.«
Ein Obsthändler aus Grimma/Leipzig: »Ich bin sehr erfreut über die Preissenkung. Jetzt hat es wieder mehr Zweck zu arbeiten und man kann sich für sein Geld etwas kaufen.«
Ein Kleinbauer aus Kressin6/Schwerin: »Die Preissenkung ist ja ganz gut, aber wo bleibt die Erhöhung der Preise für unsere Erzeugnisse.«
Ein Großbauer aus Poserna/Halle: »Für uns Bauern ist die Preissenkung gar nichts. Wenn wir von unseren Produkten so viel behalten könnten wie wir brauchten, wäre uns mehr geholfen.«
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Durch die von Partei und Regierung beschlossene Preissenkung wurden die bisher abwartende Haltung sowie alle anderen Diskussionen, wie Stromabschaltungen, Kartoffelversorgung und dgl., in den Hintergrund gedrängt. Wie aus vorliegenden Berichten zu ersehen ist, hat die gesamte Lage durch die überraschende Preissenkung eine wesentliche Änderung erfahren und das Vertrauen zur Partei und Regierung wurde gefestigt. Negative Äußerungen wurden nur vereinzelt bekannt.
Eine Hausfrau aus Pappenheim7/Suhl: »Wer jetzt noch nicht begreift, dass unser Weg in der DDR der richtige ist, ist ein wahrer Feind aller friedliebenden Menschen. Wenn dieser Weg weiterhin beibehalten wird, lohnt es sich, dass man noch recht lange lebt. Der RIAS wird ja nichts darauf zu erwidern haben, er wird wie immer in Verlegenheit geraten und hetzen.«
Ein Angestellter beim Rat des Kreises Nauen/Potsdam: »Das ist ein unheimlicher Schlag gegen die Kriegstreiber. Sie sollen erst mal in einem ihrer Länder den Nachweis bringen, dass im gleichen Monat eine Lohnsteuer- und Preissenkung durchgeführt wurde, das können sie einfach nicht.«
Ein Arbeiter aus Bad Salzungen/Suhl: »Dieses ist der richtige Weg, den wir beschreiten müssen, um der westdeutschen Bevölkerung zu zeigen, dass es bei uns in der DDR aufwärts geht. Nur so können wir sie überzeugen und für den Kampf um die Erhaltung des Friedens gewinnen.«
Eine Hausfrau aus Oelsnitz im Vogtland/Karl-Marx-Stadt: »Da mein Mann nicht viel verdient, müssen wir ziemlich sparsam leben. Durch die neue Preissenkung sind wir jedoch in der Lage, dass wir uns in der nächsten Zeit mehr leisten können.«
Ein Angestellter der HO aus Pasewalk/Neubrandenburg: »Durch die Kreditgewährung8 wurde eine wesentliche Erleichterung geschaffen. Bisher war es doch immer schwierig sich größere Stücke anzuschaffen. Bei einer Abzahlung von zwei Jahren und einer Anzahlung von 25 % ist dies schon eher möglich.«
Ein Gastwirt aus Rostock: »Dieser Schritt der Regierung hilft vor allem den Arbeitern. Für uns ist dies aber auch nicht ohne Bedeutung, denn unser Umsatz wird dadurch steigen.«
Ein Friseurmeister aus Demmin: »Es ist doch zu sehen, dass es bei uns in der DDR aufwärts geht, sonst könnte die Regierung nicht solche großen Preissenkungen durchführen.«
Eine Hausfrau aus Putbus/Rostock: »Diese Preissenkung macht nur für die Leute etwas aus, die viel Geld verdienen und sich Lebensmittel in der HO zukaufen. Für uns dagegen ist es keine Preissenkung gewesen, weil wir nicht das Geld haben, in der HO einkaufen zu können.«
Ein Pastor aus Breesen/Neubrandenburg: »Die Kommunisten haben die Liebe des Volkes verloren. Es nützen da keine Preissenkungen und Aufklärungen mehr, denn die Regierung hat in der Vergangenheit zu viele Personen eingesperrt.«
Die Inhaberin einer Kfz-Werkstatt aus Wismar: »Vor acht Wochen hat man die Preise für verschiedene Fahrradersatzteile um 50 % erhöht und hierüber nichts in der Presse berichtet. Die gleichen Artikel werden jetzt um 10 % gesenkt.«
Feindtätigkeit
a) organisierte
Verstärkte Verbreitung von Flugblättern wird aus den Bezirken Frankfurt/Oder, Karl-Marx-Stadt, Gera, Potsdam und Halle gemeldet, vereinzelt aus den Bezirken Dresden, Cottbus. In der Mehrzahl handelt es sich um Flugblätter der NTS9 und KgU.10
Aus dem Bezirk Gera wird mitgeteilt, dass am 25.10.1953 in der Friedenskirche in Jena ein Gebetgottesdienst für Vermisste, noch in der Gefangenschaft befindliche, für Verfolgte, für Heimatlose und Verstoßene abgehalten wurde.
b) vermutlich organisierte
In der Nacht vom 25. zum 26.10.1953 brach im VEB Holzbau Klosterfelde/Frankfurt/Oder ein Großbrand aus. Der Sachschaden beträgt ca. 100 000 DM. Produktionsausfall wird einige Tage anhalten. Brandstiftung wird vermutet.
Einschätzung der Situation
Besonders von den Werktätigen und Hausfrauen wird die Preissenkung freudig begrüßt. Für viele war sie eine Überraschung, da erst kürzlich die Steuersenkung beschlossen worden ist. Es wurde ein wesentlicher Umschwung in der Haltung der Werktätigen erzielt. In den Betrieben zeigt sich eine größere Arbeitsfreudigkeit und Bereitschaft mitzuhelfen am neuen Kurs. Das Vertrauen zu Partei und Regierung hat sich wesentlich gefestigt, am meisten in den Betrieben, aber auch bei den Hausfrauen. Unter den werktätigen Bauern zeigt sich ebenfalls eine Besserung in ihrer Meinung zur Politik der Regierung, obwohl aus diesen Kreisen noch die meiste Unzufriedenheit kommt. Dass der Umschwung besonders unter den Arbeitern erzielt wurde, beweisen die umfangreichen Produktionsverpflichtungen, Normenerhöhungen und vielen Sonderschichten, besonders in den Schwerpunktbetrieben. Negative Meinungen sind vereinzelt, dabei handelt es sich meistens um feindliche Elemente. Durch die Preissenkung wurde die Diskussion über Strom- und Kartoffelversorgung vollständig in den Hintergrund gedrängt.