Tagesbericht
22. Oktober 1953
Informationsdienst Nr. 2000 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
a) Industrie und Verkehr
Die mit dem 1.11.1953 in Kraft tretende Steuersenkung1 wird weiterhin in verstärktem Maße diskutiert und vom allergrößten Teil der Werktätigen freudig begrüßt. So sagte ein parteiloser Arbeiter aus der Mathias-Thesen-Werft Wismar: »Ich begrüße die Lohnsteuersenkung. Wenn der neue Kurs so weitergeht, werden unsere westdeutschen Brüder in der nächsten Zeit zu uns kommen.«
Wie das Vertrauen der Arbeiter zur Regierung der DDR gefestigt wurde, kommt besonders in nachfolgender Stellungnahme zum Ausdruck. Ein Gleisbauer aus dem Bezirk Leipzig sagt: »Aus der Steuersenkung ersieht man, dass unsere Regierung Wort hält. Wenn nun noch die Preissenkung kommt, dann sollen sie mal sehen, was die Arbeiter alles für ihre Regierung machen.«
In einer der wenigen negativen Stellungnahmen kommt zum Ausdruck: »Das haben die lange wieder rein. Erst setzen sie die Löhne herab und nun dieses Lohnsteuermanöver. Denke ja nicht etwa, dass die für uns Arbeiter etwas übrig haben. Das ist alles nur ein schön eingefädeltes Spiel«, sagte ein Arbeiter aus der Walzengießerei Coswig/Dresden.
Die Anstrengungen zur Erfüllung der Produktionspläne und Steigerung der Arbeitsproduktivität werden ständig größer. Die Braunhohlengruben des Reviers Senftenberg förderten im September ca. 50 000 t Sieb- und Förderkohle über den Plan hinaus. Damit wurde im Vergleich zum Monat August die zusätzlich geförderte Kohle auf das Dreifache gesteigert.
Der VEB Thermometerwerk Westglas, Geraberg, Kreis Ilmenau, erfüllte den Quartalsplan mit 101 %. Die Kollegen des Betriebes beraten jetzt wie sie den Jahresplan bis zum 15.12.1953 vorfristig erfüllen können. In den letzten Wochen wurden von 270 Kollegen der Grube des Kombinates Gölzau, Kreis Köthen, Wettbewerbe abgeschlossen.
Hemmend auf die Erfüllung der Produktionspläne wirkt sich besonders in der letzten Zeit Transportraummangel, Ersatzteil- und Materialmangel aus. Aus dem Reichsbahndirektionsbezirk Cottbus wird mitgeteilt, dass im letzten Monat der Waggonrückstand weit über 20 000 betrug. Waggonanforderung der Kohlen- und übrigen volkseigenen Industrie konnten oft nicht berücksichtigt werden. Um diesen Zustand zu beseitigen, wäre es notwendig zu klären, warum die RBD Cottbus von der RBD Berlin am schlechtesten mit Waggons versorgt wird. Von den Kollegen des RAW Cottbus wird zum Ausdruck gebracht, dass sie sich das nicht mehr weismachen lassen, dass kein Material da ist. Sie sagen weiter: »Wozu fordert man uns zum Wettbewerb auf, wenn man schon vorher weiß, dass kein Material vorhanden ist. Man sollte die Provokateure im Ministerium für Eisenbahnwesen suchen, das sind diejenigen, die den Kollegen die Lust zum Arbeiten nehmen.« Im RAW »Wilhelm Pieck« Karl-Marx-Stadt stehen mehrere Loks zu 95 % fertig repariert da. Da es vor allem keine Radreifen gibt, können die Loks nicht endgültig fertiggestellt werden. Ähnliche Beispiele gibt es auch im Bw Karl-Marx-Stadt Hilbersdorf und im Bw Hauptbahnhof Karl-Marx-Stadt.
Von den Kollegen des Braunkohlenwerkes »Heide«, Kreis Hoyerswerda, wird zum Ausdruck gebracht, dass wesentliche Produktionsausfälle bei ihnen hervorgerufen wurden, weil das Staatssekretariat für Kohle drei Tage brauchte, ehe es entscheiden konnte, wo die ausgefallene Turbine repariert werden kann. Die Baumwollspinnerei Falkenau, Kreis Flöha, hat einen Planrückstand, da für neue Ringspinnmaschinen, die sie erhalten hat, keine Motoren und Kabel vorhanden sind. Außerdem ist für alle 44 neuen Maschinen kein Spindelband eingeplant worden.
Gegenwärtig werden unter den Arbeitern in einer Reihe Betriebe Diskussionen über Stromabschaltungen geführt. Zwei Kollegen aus den Mähdreschwerk Weimar äußerten sich wie folgt: »Nach dem 17. Juni, als die Regierung Angst hatte, konnten wir in den Zeitungen lesen, dass eine Verordnung herausgebracht wurde, wonach die Voraussetzungen geschaffen werden sollten, im 4. Quartal die Stromabschaltungen abzuschaffen.2 In der Folgezeit wurde der Strom auch nicht abgeschaltet. Trotz allem wurden wir aber doch betrogen, denn jetzt haben wir dafür täglich 3–4 Stunden Stromsperre und gerade dann, wenn wir Abendbrot essen wollen.«
Die Beitragszahlung des FDGB verbessert sich in der letzten Zeit immer mehr. Wo noch Mängel vorhanden sind, ist es größtenteils auf die ungenügende Arbeit der BGL zurückzuführen. Aus diesem Grund traten im Fahrradwerk Crinitz/Cottbus 14 Arbeiter, im VEB Dachziegelwerk Crinitz 17 Arbeiter und im VEB Steinwerkzeug Crinitz sechs Arbeiter aus dem FDGB aus.
b) Handel und Versorgung
Schwierigkeiten in der Kartoffelversorgung bestehen in den Bezirken Schwerin, Potsdam, Magdeburg, Halle, Erfurt, Suhl, Leipzig und Karl-Marx-Stadt. In den Bezirken Halle und Suhl hat sich die Kartoffelversorgung etwas gebessert. Der Stand der Kartoffelversorgung im Kreis Stendal 19,3 %, Kalbe/Magdeburg 27,3 %, im Kreis Nauen/Potsdam 24,2 %. Grund: Transportschwierigkeiten.
Im Bezirk Neubrandenburg fehlt es in verschiedenen Kreisen an HO-Butter, Margarine, Stärkeerzeugnissen für Kleinstkinder. Im Schlachthof Dresden fehlt es an Schlachtvieh. So musste am 20.10.1953 die gesamte Schlachtbrigade andere Arbeiten verrichten. Die Arbeiter erklärten, dass es seit dem 17.6.1953 mit den Viehlieferungen überhaupt nicht klappen würde. Private Einzelhändler des Bezirkes Dresden äußern ihre Missstimmung darüber, dass sie jetzt über den kommunalen Großhandel keine Südfrüchte mehr erhalten. In den Bezirken Neubrandenburg, Potsdam und Erfurt fehlt es an ausreichender Belieferung mit Textilien (Winterbekleidung, Bettwäsche und Kinderbekleidung usw.) sowie entsprechender Wirtschaftsartikel für die Landwirtschaft.
Die durch die Bezirke Cottbus, Frankfurt/Oder und Potsdam durchgeführten HO-Warenaustauschmessen hatten bereits an den ersten Tagen einen großen Erfolg. Insgesamt wurden über 1.6 Mio. DM Waren verkauft.
c) Landwirtschaft
Über politische Fragen ist noch immer eine Zurückhaltung zu erkennen. Unter der Landbevölkerung wird zum neuen Kurs unterschiedlich diskutiert. So äußerte ein Großbauer, 70 ha, parteilos, aus Breitenau/Karl-Marx-Stadt: »Im neuen Kurs geht es mir soweit gut. Ich weiß, wo der neue Weg hinführt, aber bis der Sozialismus da ist, vergehen noch 5 bis 6 Jahre. Das Privateigentum ist ja nach der Verfassung gesichert. Wenn es einmal soweit ist, kann man ja als Wirtschaftsleiter auf ein Volksgut gehen, man ist ja schließlich Fachmann.« Ein werktätiger Bauer aus Perniek/Rostock: »Das ist der neue Kurs, der Bürgermeister bekommt 700 DM und uns brummt man immer mehr auf, indem man den Anbau von Zuckerrüben erhöhen muss.«
Die Kartoffelernte geht im Allgemeinen ihrem Ende entgegen. (Bezirk Karl-Marx-Stadt Stand: 98 %). In der Zuckerrübenernte sind noch große Unterschiede festzustellen. Im Bezirk Cottbus war der Stand der Rübenernte am 21.10.1953 88,2 %. Dabei muss vor allen Dingen die tatkräftige Hilfe der freiwilligen Erntehelfer aus Betrieben, Verwaltungen und sonstigen Bevölkerungskreisen hervorgehoben werden. So beteiligten sich am 20.10.1953 im Bezirk 5 600 freiwillige Helfer. Auch im Bezirk Halle sind in der Rübenernte Fortschritte zu verspüren, zum Teil fehlen jedoch noch die entsprechenden Waggons. In verschiedenen Kreisen des Bezirks Leipzig zeigen sich Schwierigkeiten in der Ablieferung der Zuckerrüben. Die Fabriken nehmen den Bauern nur einen Teil ab. Die Bauern müssen sie auf den Feldern lagern, wobei es sich in verschiedenen Gemeinden zeigt, dass die Rüben bereits verschimmeln. So z. B. hat eine LPG ein Soll von 627 t Zuckerrüben, davon werden ihr nur wöchentlich 21 t vom Werk abgenommen, das würde bedeuten, dass diese LPG bis März 1954 abliefern muss.
Im Kreis Perleberg/Schwerin wurden vom privaten Sektor 46 % und vom genossenschaftlichen 6 % Zuckerrüben abgeliefert. Grund: LPG haben ihr Getreidesoll erfüllt, während Großbauern im Rückstand sind und früher mit der Rodung begonnen haben. Großbauern versuchen immer wieder die Ablieferung zu hintertreiben. Weiterhin fordert man, bessere Düngemittelzuteilung und Berücksichtigung der Wunschanbaupläne. Dies trat besonders in den Bezirken Neubrandenburg, Cottbus, Dresden, Erfurt und Gera hervor. Ein Großbauer aus Seisla/Gera, welcher mit 2 000 Eiern, 49 dz Getreide im Rückstand ist, äußerte: »Ich lasse mir nicht das Letzte wegnehmen, lieber höre ich auf zu wirtschaften.«
Durch Stromabschaltungen traten in den Bezirken Rostock, Cottbus und Karl-Marx-Stadt negative Diskussionen auf. Ein Neubauer aus Bandelin/Rostock sagte: »Jetzt wo wieder Ruhe eingetreten ist, fangen die Stromsperren wie früher an. Man versprach uns nur, weil sonst die da oben vom Throne geflogen wären.«
Über Steuermäßigungen wurde in den Bezirken Neubrandenburg und Cottbus positiv diskutiert. So erklärte ein Traktorist der MTS Doberlug-Kirchhain/Cottbus: »Die Steuersenkung zeigt, dass die Regierung den neuen Kurs schnell verwirklicht. Auch wir wollen durch gute Arbeit zur Verwirklichung des neuen Kurses beitragen.«
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Eine Zurückhaltung in politischen Fragen ist weiterhin noch zu verspüren. Starke Diskussionen über die Steuersenkungen wurden besonders in den Bezirken Rostock, Neubrandenburg, Potsdam, Erfurt, Suhl und Dresden geführt. Die überwiegende Mehrzahl spricht positiv, negative Diskussionen kommen hauptsächlich aus Schichten der Bevölkerung, die sie nicht direkt betreffen. Angestellter des Rates des Kreises Anklam: »Hier sehen wir, dass die Regierung Wort hält. Von den weniger zu zahlenden Steuern, das sind 21,00 DM, kann ich meine Miete bezahlen.« Inhaber eines Gasthofes in Riesa: »Für Arbeiter ist die Steuersenkung ganz gut, aber für die Geschäftswelt bringt sie nichts ein. Für uns hat man wahrscheinlich nicht so viel übrig wie für die Arbeiter.«
Negative Diskussionen über teilweise verstärkte Stromabschaltungen treten in den Bezirken Rostock, Cottbus, Erfurt, Suhl, Dresden und Karl-Marx-Stadt auf. In Friedrichsgrün/Karl-Marx-Stadt wirkt sich die Stromabschaltung durch Ausfall der Pumpenstationen auf die Trinkwasserversorgung aus. Seit acht Tagen ist dort kein Trinkwasser vorhanden. Ein Rentner aus Riesa: »Hat man bei den Stromabschaltungen den neuen Kurs vergessen? Was nützen alle Anweisungen der Regierung, wenn sie doch nicht durchgeführt werden. Jetzt ist alles schlechter wie früher.«
Aus den Bezirken Dresden und Leipzig wird berichtet, dass die Bevölkerung über die zu hohen Preise in der HO negativ diskutiert und noch in diesem Jahr mit einer Preissenkung rechnet. Von der Bevölkerung, besonders den Handwerkern (Neubrandenburg), wird die Frage gestellt, warum nur Betriebe3 Bohnenkaffee erhalten. Sie äußern: »Wir sind doch auch mit am Aufbau beteiligt.«
Negative Diskussionen Interzonenreisender aus Westdeutschland, die zurückkehren, besagen (Bezirk Leipzig), dass im Westen die Menschen »besser leben« als im Osten. Mit der verstärkten Ausgabe der Interzonenpässe hätten wir unser eigenes Grab geschaufelt, da diese Personen erkennen, wo man besser lebt und dass man sie »im Osten belügt«. Dies sagte eine Hausfrau aus Torgau.
Wie aus Gera berichtet wird, ist die Arbeit der Nationalen Front des Kreises Stadtroda schwach. Der Vorsitzende befindet sich den ganzen Tag in HO-Gaststätten oder geht spazieren. Das Sekretariat ist stark verschuldet und der Rat des Kreises will diese Schulden sich nicht aufladen. Ähnlich liegen diese Dinge im Kreisausschuss des DRK Eisenberg.
Starke Diskussionen in den Kreisen Gotha, Weimar, Apolda/Erfurt durch Manöverschäden der Sowjetarmee. Schlechte Stimmung bezüglich der deutsch-sowjetischen Freundschaft im Kreis Eberswalde/Frankfurt/Oder. Ursache: Überfall auf einen Postangestellten durch sowjetische Soldaten. Der Postangestellte wurde niedergeschlagen und mit mehreren Messerstichen in das Krankenhaus eingeliefert.
Feindtätigkeit
a) organisierte
Verstärkte Verbreitung von Flugblättern der NTS4 in den Bezirken Erfurt, Potsdam, Leipzig; vereinzelte in den Bezirken Cottbus, Gera, Halle, Rostock, Karl-Marx-Stadt, Dresden, Frankfurt (NTS).
Am 19.10.1953 hatte der D-Zug Magdeburg–Meiningen 16 Minuten Verspätung, da vermutlich durch Jugendliche bei einem Signal auf freier Strecke beide Lampen zertrümmert wurden. Im August 1953 waren ähnliche Wahrnehmungen an der gleichen Signalanlage.
In Erbengrün, Kreis Greiz, verstärkte Tätigkeit der »Zeugen Jehovas«.5 In den Bezirken Erfurt und Dresden bemüht sich die Kirche besonders um die heimgekehrten Kriegsverurteilten aus der SU (Geldspenden und Erholungsaufenthalte).6
An das Elbwerk Mittweida wurde eine anonyme Karte mit der Drohung geschickt: »Bei weiterer Stromabschaltung wird das Werk in die Luft gesprengt.« Im Hydrierwerk Zeitz wurde eine Diesellok stillgelegt. Ursache: Nägel im Öl.
In Berlin wurden Hetzbroschüren unter dem Titel: »Gute Mutter unserer Kinder« und andere Broschüren mit dem Emblem des FDGB und als Gewerkschaftsaktivzeitschriften getarnt gefunden.
b) vermutlich organisierte
Am 20.10.1953 entstand in den Abendstunden ein Brand im Stall eines Mittelbauern in Lawitz, Kreis Fürstenberg. Der Schaden beläuft sich auf ca. 3 000–4 000 DM. Täter ist bisher unbekannt.
Einschätzung der Situation
Von der großen Mehrzahl der Arbeiter wird weiterhin die Steuersenkung freudig begrüßt. Das Vertrauen zur Politik der Regierung wächst. Die wenigen gegenteiligen Meinungen kommen meistens aus Kreisen der Bevölkerung die davon keinen direkten Nutzen haben.
Im Gegensatz zum normalen Produktionsablauf in der Mehrzahl der Betriebe, zeigt sich in einer Reihe Betriebe immer wieder, dass die Produktion und der Transport gehemmt werden durch ungenügende Belieferung mit Material, Ersatzteilen und wegen Waggonmangel. Augenblicklich ist die Unzufriedenheit der Bevölkerung am größten über die zum Teil noch umfangreicher werdenden Stromabschaltungen.