Tagesbericht
19. November 1953
Informationsdienst Nr. 2024 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über die Weihnachtszuwendungen1 wird noch immer breit diskutiert. Während die übergroße Mehrheit der Arbeiter diese Maßnahme der Regierung begrüßt und der Regierung mehr und mehr Vertrauen entgegenbringt, mehren sich aber auch die negativen Stimmen, die mit der Höhe der Weihnachtszuwendungen nicht einverstanden sind. Hier handelt es sich überwiegend um ledige oder verwitwete Frauen mit Kindern, die nur 30,00 DM erhalten und sich gegenüber den Verheirateten benachteiligt fühlen. Besonders stark und verbreitet werden diese negativen Diskussionen nach vorliegenden Berichten in der Ostdeutschen Tuchfabrik Forst/Cottbus, in der Thuringia-Spinnerei Erfurt und im IKA Sondershausen/Erfurt geführt. In diesen Betrieben sind über 80 % Frauen beschäftigt.
Für die positiven Stimmen ist die Meinung einer Arbeiterin aus der Perlon-Abteilung des Kunstfaserwerkes »Wilhelm Pieck« in Schwarza/Gera charakteristisch: »Durch die Maßnahmen der Regierung kann ich meinen Angehörigen ein schönes Weihnachtsgeschenk bereiten. Jetzt muss doch jeder zugeben, dass die Regierung tatsächlich bestrebt ist, das Los der Arbeiter zu verbessern. Die Frauen in unserer Abteilung müssen sich noch mehr anstrengen, um zu zeigen, dass auch wir der Regierung helfen wollen, damit sie noch weitere Maßnahmen dieser Art treffen kann.«
Über die Erklärung Molotows2 haben sich noch keine breiteren Diskussionen entwickelt. Die bekannt gewordenen Stimmen sind zwar positiv, aber noch vereinzelt. Ein parteiloser junger Arbeiter aus dem VEB Ostthüringische Möbelwerke Zeulenroda/Gera: »Ich glaube, dass die Westmächte vor der Erklärung Molotows nicht mehr ausweichen können. Wenn sie wiederum versuchen, die von Molotow gemachten Vorschläge zu umgehen, dann steht einwandfrei fest, dass sie nicht gewillt sind, den Frieden in der Welt zu erhalten.«
Eine Arbeiterin aus dem VEB Nahrungsmittelwerk Cottbus: »Die SU hat schon viele Vorschläge gemacht. Daran sieht man, dass die immer bereit ist, zu verhandeln.«
Über die Zerschlagung feindlicher Agentenzentralen werden vor allem dort umfangreichere Diskussionen geführt, wo Versammlungen mit Mitarbeitern der Staatssicherheit durchgeführt wurden.3 Die Diskussionen sind überwiegend positiv. Lediglich im Bezirk Rostock tauchen Stimmen auf, die gegen den stellvertretenden Leiter der Gehlen’schen Filiale, Geyer,4 Misstrauen hegen. Wenn auch die Versammlungen meistens erfolgreich verlaufen, so darf das nicht zu Sorglosigkeit führen, denn es sind Beispiele bekannt, wo Betriebsparteiorganisationen diese Versammlungen nicht oder nur ungenügend vorbereiteten, sodass sie dann auch wenig erfolgreich verliefen. So beteiligten sich z. B. im VEB Gaselan in Fürstenwalde/Frankfurt von 1 200 Beschäftigten nur 200 an der Versammlung. Davon war der größte Teil Lehrlinge, die sich sehr disziplinlos verhielten und sogar die amerikanische Herkunft der dort ausgestellten Funkgeräte durch dumme und provokatorische Bemerkungen anzweifelten. Diese Versammlung war schlecht vorbereitet worden.
Natürlich sind die positiven Beispiele weit häufiger. Sehr erfolgreich verlief eine Versammlung im Kunstseidenwerk »Siegfried Rädel« in Pirna/Dresden, in der der Chef der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit5 sprach. Dort wurden einige Verpflichtungen zur Erhöhung der Wachsamkeit übernommen. So verpflichteten sich z. B. ein verdienter Aktivist und ein verdienter Erfinder, den Arbeitern im Kesselhaus die empfindlichsten und leichtverwundbarsten Stellen im Kesselhaus zu erklären, damit die Kollegen darauf besonders aufpassen können.
Ein Arbeiter aus dem Braunkohlenwerk Hirschfelde/Dresden: »Ich kann nicht verstehen, dass sich Menschen zu solchen Verbrechen hergeben. Ich verurteile solche Elemente.«
Ein Arbeiter von der Peenewerft Wolgast/Rostock: »Der stellvertretende Leiter der Spionageorganisation, Geyer, hätte keinesfalls Aufnahme in der DDR finden dürfen, da seine Untaten zu groß sind und er uns große Schäden in unserer Aufbauarbeit zugefügt hat. Das sind alles Lumpen und solche Lumpen sollten in der DDR keine Aufnahme finden.«
Über administrative Normenerhöhungen und dadurch hervorgerufene Unstimmigkeiten unter den Arbeitern wurde wieder ein Beispiel bekannt. Im »Thomas-Müntzer«-Schacht Sangerhausen/Halle erhöhte die Werksleitung z. B. bei einer Brigade die Norm auf administrativem Wege. Durch diesen und andere ähnliche Fälle diskutieren die Kumpel des Schachtes: »Das ist nicht der Wille der Regierung, sondern das liegt an den unteren Funktionären, die nur gute Berichte nach oben schicken wollen.« Sie ziehen die Schlussfolgerung: »Hier werden bewusst den Kumpeln die Arbeitsbedingungen erschwert, damit sie den Agenten leicht in die Hände fallen.«
Bei den Wismut-Kumpeln tauchen immer wieder in verstärktem Maße Gerüchte und negative Diskussionen über die Zukunft der Wismut AG nach dem 1.1.1954 mit den sattsam bekannten Argumenten auf.6 Es ist unverständlich: Seit Wochen wird darüber im Informationsdienst berichtet, doch bis jetzt ist noch keine offensive Aufklärungsarbeit unter den Kumpeln geleistet worden, um diese Diskussionen, die zuweilen zu einem Nachlassen der Arbeitsfreudigkeit und zu einer Senkung der Arbeitsproduktivität geführt haben, zu zerschlagen.
Handel und Versorgung
Mängel in der Kartoffelversorgung zeigen sich besonders in den Bezirken Frankfurt/Oder, Cottbus und Leipzig. In Eberswalde/Frankfurt/Oder haben viele Arbeiter noch keine Kartoffeln erhalten, so entwickeln sich besonders in den Großbetrieben negative Diskussionen. Es ist unverständlich, dass diese Mängel in einem Kreis, wo mehrere wichtige Betriebe sind, nicht beseitigt werden, obwohl darüber schon einige Male berichtet wurde.
Arbeiterin vom RAW Eberswalde: »Die Kartoffelversorgung wäre besser, wenn die Sowjetarmee nicht laufend große Mengen Kartoffeln abfahren würde. Man sieht es täglich wie sie diese mit den Autos abfahren, und ich habe keine Kartoffeln im Haus.«
Ungenügende Belieferung mit Lebensmitteln wird aus mehreren Bezirken berichtet. Es handelt sich im Einzelnen um Frischfleisch (Bezirk Leipzig), Frischfisch (Kreis Döbeln und Bezirk Halle) und Margarine (Bezirk Leipzig). Bei Margarine fehlt es im Allgemeinen an der Sorte I, während bei der Sorte III ein Überschuss festgestellt werden kann.
Mangel an Gebrauchsgütern zeigt sich in Stalinstadt/Frankfurt/Oder, während diese Gegenstände in Fürstenberg vorhanden sind. Kleine Lieferungen dieser Waren sind nach Eingang sofort vergriffen, da der Bedarf in Stalinstadt hoch liegt (Neueinrichtung von Wohnungen).
Gefahr des Verderbens von Schmalz wurde vom Schlachthof Aue/Karl-Marx-Stadt berichtet. Hier lagern 25 t, die trotz geführter Verhandlungen nicht abgesetzt werden konnten. Mitteilung erfolgte jetzt durch den Leiter des Schlachthofes persönlich an das Ministerium für Handel und Versorgung.
In Pratau/Halle traf am 15.11.1953 ein Waggon mit 9 t Quark aus Berlin-Niederschöneweide, Import und Lagerung,7 verdorben ein.
Landwirtschaft
In der Ablieferung der Hackfruchternte wurden in den Bezirken Neubrandenburg, Leipzig, Halle, Dresden und Gera Mängel bekannt. Erfolge in der Belieferung können dort erreicht werden, wo Partei und Verwaltung eine gute individuelle Aufklärungsarbeit leisten. Als Gründe der Nichtablieferung wird im Allgemeinen angegeben: Schlechte Ernte, fehlende Futtergrundlage und es sei noch Zeit mit der Ablieferung bis zum Winter.
Verschiedene großbäuerliche Elemente verweigern die Ablieferung bzw. setzen sich aktiv zur Wehr, indem sie die Erfasser vom Hofe vertreiben. Im Kreis Eisleben/Halle wurden fünf Mittelbauern wegen Nichtablieferung der Hackfruchternte zum Vorsitzenden des Kreises geladen. Nach intensiver Aussprache erklärten sich alle fünf Mittelbauern einverstanden, ihren Rückstand in der Ablieferung an Kartoffeln nachzuholen.
Ein Bauer aus Polenz/Gera: »Alle Augenblicke kommt ein anderer, der Anordnungen bringt oder darauf dringt, dass gedroschen bzw. gesät wird, aber helfen tut uns keiner. Dabei verlieren wir nur Zeit. Wenn die Instrukteure ihre Arbeit besser koordinieren, würde man viel Zeit sparen.«
Ehemaliger Großbauer und Ortsbauernführer aus Großtreben/Leipzig: »Die SU hat soviel Land, warum hilft sie uns da nicht, dass wir genügend Futter für unser Vieh bekommen und die Lebenslage der Bevölkerung damit verbessert wird. Die sollen uns Ostpreußen und Schlesien zurückgeben, damit wir unser Land wieder bebauen können.«
Großbauer aus Dippoldiswalde/Dresden: »Ich brauche jetzt noch nichts abzuliefern, im Winter, wo wir dann Zeit haben, werden wir auch abliefern.«
In der Gemeinde Neuenkirchen/Neubrandenburg wurden Erfasser von einigen Bauern mit Spaten und Forken bedroht, als sie mit den Bauern über die Erfassung der Kartoffeln diskutieren wollten.
In Gramelow/Neubrandenburg wurden der Erfasser und ein Instrukteur in einem Lkw von Außenstehenden mit Steinen beworfen, sodass sie den Wagen nicht mit Kartoffeln beladen konnten und den Ort unverrichteter Dinge verlassen mussten.
Fehlende oder unbrauchbare Ersatzteile rufen immer wieder in der MTS Verärgerung hervor. Leiter der MTS Truhn8/Rostock: »Es fehlt immer an genügend Ersatzteilen und wenn einmal welche kommen, sind sie oft unbrauchbar. So wurden Anfang Oktober 80 Pflugscharen geliefert, die so hart waren, dass eine beim Abladen gleich zerbrach. Dies trat bei mehreren MTS auf. Die Zapfenwellenbinder dagegen sind so weich, dass sich deren Wellen sehr schnell abschleifen.«
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Über die Entlarvung der Agentengruppen wird weiterhin diskutiert. Die bekannten Stimmen sind in der Mehrzahl positiv.
Arbeiter bei der DHZ Lebensmittel Demmin/Neubrandenburg: »Diesen Gaunern ist alles zuzutrauen. Dass sie solche Wühlarbeit leisten konnten, ist ein Mangel der Wachsamkeit der ganzen Bevölkerung. Diese Verbrecher müssen die ganze Härte unserer Gesetze spüren.«
Sportlehrer aus Röbel/Neubrandenburg: »Die Bevölkerung ist schon wieder so eingeschüchtert durch diese Verhaftungen, niemand wagt mehr die Wahrheit zu sagen.«
Die Weihnachtszuwendungen stehen weiterhin mit im Mittelpunkt aller Diskussionen. Die negativen Stimmen kommen aus solchen Personenkreisen, die nicht unter diese Vergünstigungen fallen, besonders Verwaltungsangestellte.
Angestellter beim Rat der Stadt Egeln/Magdeburg: »Das ist der Dank dafür, dass wir keine Weihnachtsgratifikation erhalten, weil wir am 17.6. die staatlichen Einrichtungen vor Zerstörungen geschützt haben.«
Angestellter im Rathaus Niederwiesa/Karl-Marx-Stadt: »Wir werden solange keine FDGB-Beiträge bezahlen, bis der Betrag erreicht ist, der der Weihnachtsgratifikation gleichkommt.«
Über den Wegfall der Interzonenpässe in Westdeutschland9 wird in den Bezirken Magdeburg, Erfurt und Suhl stärker diskutiert. Die bekannten Stimmen dazu sind fast alle negativ und bringen zum Ausdruck, dass die SU den Wegfall der Interzonenpässe verhindert.
Arbeiter im Ernst-Thälmann-Werk Magdeburg: »Der Russe reagiert nicht auf diesen Vorschlag und auch nicht die Regierung der DDR. Hier sieht man wieder, wer für die Einheit eintritt.«
Bei Kontrollen der Reisenden aus Westdeutschland auf dem Bahnhof Probstzella wurde festgestellt, dass ein Teil dieser Personen, die in die DDR wollen, keine Interzonenpässe und Aufenthaltsgenehmigungen besitzen. Sie äußern, dass ihnen durch den westdeutschen Rundfunk bekannt wurde, dass ab 16.11.1953, 00.00 Uhr, die Interzonenpässe wegfallen.
Ereignisse von besonderer Bedeutung
Ein Transport von 200 deutschen Spezialisten mit ihren Familienangehörigen kommt in den nächsten Tagen aus der SU in Frankfurt/Oder an und wird nach Leipzig weitergeleitet.10
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter und Postwurfsendungen in geringerem Maße in den Bezirken Rostock, Cottbus, Leipzig, Suhl, stärker in den Bezirken Frankfurt/Oder und Gera.
Wie »Die Neue Zeitung« am 18.11.1953 berichtet, benötigen »Luftreisende«, die von der Bundesrepublik nach Westberlin fliegen, und Bewohner der »Sowjetzone und Ostberlin«, die von Berlin in die Bundesrepublik fliegen, von sofort an keinen Interzonenpass mehr.11 Nur Westberliner müssen sich noch einen Interzonenpass besorgen, wenn sie nach der Bundesrepublik oder zurückfliegen wollen. Staatenlose sind von der Neuregelung ausgeschlossen.
Einschätzung der Situation
Die Mehrheit der Arbeiter begrüßt die Weihnachtszuwendungen, gleichzeitig wachsen aber auch die Stimmen der Unzufriedenen unter den Angestellten der öffentlichen Verwaltungen und den unverheirateten Frauen mit Kindern, da sie sich benachteiligt fühlen. Bei der Ablieferung der restlichen Hackfrüchte zeigt sich jetzt häufiger ein Widerstand in den verschiedensten Formen auf dem Lande. Über die Liquidierung der Feindgruppen werden, besonders durch die Versammlungen in denen Vertreter des SfS sprechen, umfangreichere Diskussionen geführt. Bis auf geringe Ausnahmen wird dadurch die Wachsamkeit erhöht.