Tagesbericht
23. September 1953
Information Nr. 1075
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
a) Industrie und Verkehr
Die Diskussionen in den Betrieben über die 16. Tagung des ZK der SED sind in allen Bezirken noch nicht zur Entfaltung gekommen. Die wenig vorliegenden Stimmen befassen sich größtenteils mit dem Problem der Preissenkung und Abschaffung der Lebensmittelkarten 1954.1 Dazu einige Beispiele:
Ein Arbeiter vom Kreisbaubetrieb VEB Rudolstadt: »Ich begrüße, dass im nächsten Jahr die restliche Rationierung wegfällt und eine weitere Preissenkung kommt. Das ist dann der Beweis für die Richtigkeit der Durchführung des neuen Kurses. Wir müssen unsere Leistungen steigern, um schnell und sicher dem Wohlstand entgegenzugehen.« Ein Oberschmelzer vom Hochofen I des Eisenhüttenkombinats »J. W. Stalin« fordert aufgrund der 16. Tagung des ZK seine Kollegen und alle Angehörigen des Werkes zum Wettbewerb auf.
Ein parteiloser Arbeiter des elektrochemischen Kombinats Bitterfeld/Halle: »Genosse W. Ulbricht hat einen wirklich guten Weg der Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung aufgezeigt. Ich bin nur der Meinung, dass man nicht erst 1954 eine Preissenkung durchführen sollte, sondern schon dieses Jahr für die wichtigsten Waren wie z. B. Butter, Margarine usw.«
Ein Fördermann vom Kaliwerk »Thomas Müntzer«/Erfurt (parteilos): »Was hat die Regierung bisher getan? Sehen kann man nichts. Es wird nur immer viel geredet, aber nichts gehalten, so z. B. mit der Stromversorgung.«2 Ein Arbeiter des VEB »Heinrich Rau« Schwermaschinenbau/Potsdam: »Es sind laufend ZK-Tagungen, aber man sieht nichts von einer Verbesserung.« Ein Arbeiter vom VEB Kinderwagenbau Brandenburg/Potsdam: »Man sollte endlich mal auf den ZK-Tagungen Beschlüsse fassen, die auch durchgeführt werden, und solche, welche die Einheit Deutschlands herbeiführen.«
Im Allgemeinen kann man in politischen Fragen noch eine gewisse Zurückhaltung bemerken. So hat z. B. der Besuch von Versammlungen im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« Frankfurt/Oder in der letzten Zeit merklich nachgelassen.
Bei den Kollegen der Bau-Union Potsdam, Baustelle Wünsdorf, kann man von einer guten Arbeitsmoral sprechen. Sie versuchen mit allen Mitteln, die gestellten Termine für die Beendigung der Bauten bis zum 20.10.1953 einzuhalten. So kommen sie schon früh vor Arbeitsbeginn zum Arbeitsplatz und arbeiten auch abends länger. In politischer Hinsicht jedoch nehmen sie eine sehr abwartende Haltung ein und weichen politischen Diskussionen aus. Die BPO ist zahlenmäßig klein. Von 350 Bauarbeitern sind neun Mitglieder der SED.
Genossen der VEB Holzindustrie Gießübel/Suhl äußerten, dass sie wohl mit der Grundlinie der Partei einverstanden sind, aber sonst nur Fehler von Partei und Regierung gemacht würden. Sie sehen überall Mängel und Unzulänglichkeiten und es fehlt ihnen noch das Vertrauen zur Parteiführung und zur Regierung.
Eine schlechte Stimmung, wenn auch nach außen hin ruhig, herrscht im VEB Funkwerk Berlin-Köpenick. Die RIAS-Parolen »langsam arbeiten« wirken sich besonders in der Laborwerkstatt, Konstruktion und im Senderentwicklungslabor Haine aus. Im Letzteren wurden während der Arbeitszeit Kollegen beim Skatspiel angetroffen.
Diskussionen über die schlechte Kohlenversorgung, Stromabschaltungen und über die zu hohen Preise in der HO werden weiterhin von Kollegen in den Betrieben geführt.
Verschiedentlich wird die Produktion behindert durch Materialschwierigkeiten, so z. B. im Audi-Werk Zwickau/Karl-Marx-Stadt, wo aufgrund der ausbleibenden Lieferungen verschiedener Zubringerbetriebe gewisse Produktionszweige eingeschränkt bzw. ganz eingestellt werden müssten. Im VEB IKA Sonneberg/Suhl konnte im Monat August 1953 der Produktionsplan nur mit 79 % erfüllt werden. Dies wurde hervorgerufen durch Fehlen von Material. Am Anfang des Monats ist wenig Material vorhanden und die Kollegen haben oft lange Wartezeiten. Am Monatsende kommt dann das Material heran, und um den Plan nicht mit noch weniger Prozent zu erfüllen, müssen dann die Arbeiter Überstunden leisten. Im IFA-Schlepperwerk Nordhausen/Erfurt ist die Belieferung mit Rohmaterial qualitätsmäßig schlecht. Dadurch entsteht Mehrarbeit und die Arbeitsmoral der Kollegen sinkt.
Im Braunkohlenwerk Hirschfelde, [Kreis] Zittau, [Bezirk] Dresden, besteht eine schlechte Stimmung, die hervorgerufen wird durch die hohen Prämien (250–700 DM). Im LEW Hennigsdorf/Potsdam ist der Krankenstand von 7 % auf 5,5 % gesunken, welches auf die Verbesserung der ärztlichen Betreuung zurückzuführen ist.
b) Handel und Versorgung
Die Hamstereinkäufe von Kartoffeln halten weiterhin an. So wird z. B. von einem Teil der Bevölkerung in Suhl der Vorschlag gemacht, Kartoffeln nur durch Abstempeln der Lebensmittelkarte abzugeben. Nach Meinung dieser Personen sind es immer die gleichen, die sich nach Kartoffeln anstellen, um sich dadurch einen Vorrat für ihr Kleinvieh zu verschaffen.
Im Konsum Auerbach/Karl-Marx-Stadt wurde festgestellt, dass Kunden laufend deutsche Butter verlangen. In Unterhaltungen wurde zum Ausdruck gebracht, dass die sowjetische Butter ranzig und teilweise ungenießbar ist. In Berlin beklagt sich die Bevölkerung, dass nur Schweinefleisch zum Verkauf gelangt, Rindfleisch aber nicht zu haben ist.
c) Landwirtschaft
Diskussionen über Sollermäßigung, höhere Düngerzuweisung und dergleichen (wie bereits an den Vortagen berichtet) halten weiterhin an. Allgemein macht sich in der Hackfruchternte ein Arbeitskräftemangel bemerkbar. Im Kreis Schwarzenberg/Karl-Marx-Stadt diskutieren die Bauern, dass bei den Kartoffelpreisen sie keinen Gewinn haben, da sie den Industriearbeitern, die bei der Ernte helfen, den vollen Lohn zahlen müssen, LPG und VEG dagegen nur den Landarbeitertarif.
Vereinzelt tritt in Erscheinung, dass Bauern, besonders Großbauern, ihren Ablieferungspflichten nicht nachkommen. So z. B. hat ein Großbauer aus Rakow/Frankfurt erst 20 % an Getreide abgeliefert, demgegenüber aber für 19 000 DM Schweine auf freie Spitzen3 verkauft (verfüttert Getreide).
In einer Bauernversammlung in Heynitz/Dresden verweigerten die Bauern die Annahme des Anbauplanes 1954 und verließen geschlossen den Versammlungsraum. In Miltitz/Dresden brachten die Bauern den Anbauplan den nächsten Tag zurück mit dem Bemerken, dass sie mit dem erhöhten Gemüseanbau nicht einverstanden sind.
Im Kreis Heiligenstadt/Erfurt herrscht über die Regierungsmaßnahme (500-Meter-Sperrgebiet)4 Missstimmung. In einer Gemeindeversammlung brachten die Bauern zum Ausdruck: »Lasst doch einmal Regierungsmitglieder hierher kommen, wir werden schon sagen, wie wir leben. Drei Tage Ausnahmezustand genügte den Berlinern und anderen Städtern, wir aber haben diesen Zustand schon ein halbes Jahr.«
Im Kreis Fürstenwalde/Frankfurt wird folgende Meinung stark vertreten bzw. diskutiert: »Der neue Kurs ist sehr gut und schön, aber wir glauben nicht daran. Die SED sagt, den Sozialismus streichen wir nicht, also kommt die Zeit vor dem 9.6.1953 wieder.«
In Immelborn/Suhl müssen täglich bis zu zwei Zentner Kartoffeln aufgelesen werden, die von Wildscheinen aus dem Boden gewühlt werden. Die Bauern sind verärgert, da keine Jagdkommandos eingesetzt werden.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Diskussionen über das 16. Plenum des ZK unserer Partei sind unter der Bevölkerung bisher nur schwach entfaltet. Nachfolgend einige Beispiele: Ein verdienter Lehrer aus Potsdam:
»Auf dem 16. Plenum hat uns Genosse W. Ulbricht klar den Weg und die Aufgaben bei der Verwirklichung des neuen Kurses aufgezeigt. Besonders erfreut war ich über die Ausführungen, wie wir uns die Einheit Deutschlands vorstellen ohne Monopolkapital. Dass im Sommer 1954 die Rationierung aufgehoben werden soll, muss ein Ansporn zu noch besserer Arbeit sein.«
Ein Straßenbahner aus Frankfurt: »Bei der Rede von Ulbricht muss man zwischen den Zeilen lesen. An eine Preissenkung ist demnach in diesem Jahr nicht mehr zu denken.« Eine Buchhalterin der MTS Pouch/Halle: »Von der Aufhebung der Rationierung wurde schon einmal gesprochen, als der Zeitpunkt jedoch herankam, hörte man davon kein Wort mehr. Hoffentlich wird im neuen Kurs das, was gesagt wird, auch eingehalten.«
In der Ingenieurschule in Ilmenau/Suhl herrschten Missstimmungen unter den Studenten, da ihnen nicht wie versprochen die Stipendien erhöht, sondern gesenkt worden. Die Studenten verweigerten 1½ Stunden die Arbeit und nahmen diese erst wieder auf, als ihnen der Schulleiter versprochen hatte, sich dafür einzusetzen.
Aus den Bezirken Potsdam und Schwerin wird berichtet, dass in verschiedenen Kreisen Diskussionen geführt werden, wonach 140 kg Einkellerungskartoffeln zu wenig sind.5 So wird u. a. zum Ausdruck gebracht, dass man nicht in der Lage ist, in der HO etwas zu kaufen, wodurch die Kartoffeln nicht ausreichen [sic!].
Im Bezirk Potsdam wird vereinzelt geäußert, dass man nicht einverstanden ist, dass Interzonenreisende aus Westdeutschland eine höhere Lebensmittelkarte erhalten als Bewohner der DDR.
Organisierte Feindtätigkeit
Verstärkte Flugblatttätigkeit wurde aus den Bezirken Dresden und Frankfurt/Oder gemeldet. Es handelt sich in der Hauptsache um Flugblätter der NTS.6 Weniger starke Flugblatttätigkeit fand in den Bezirken Neubrandenburg, Cottbus, Potsdam, Halle, Erfurt, Gera, Suhl und Berlin statt. Hier waren es Flugblätter der NTS, der KgU,7 des SPD-Ostbüros8 und des »Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen«.9 Der Inhalt war in der Hauptsache Hetze gegen Partei und Regierung. Weiterhin wurde aufgefordert, dass die Arbeiter »langsam arbeiten« sollen und sinnvollen Widerstand leisten. Genossenschaftsbauern sollen aus der LPG austreten, die Bevölkerung soll sich die Pakete aus Westberlin10 mit legalen Mitteln erkämpfen. Vereinzelt wurden an Funktionäre Hetzbriefe versandt mit gefälschtem Absender.
Der RIAS hetzt verstärkt gegen den neuen Kurs, indem er die Ausführungen des Genossen W. Ulbricht auf der 16. Tagung des ZK verdreht, falsch auslegt oder bagatellisiert. Verstärkt hetzt auch der RIAS gegen die Gesellschaft für Sport und Technik. Die Jugendlichen werden aufgefordert, die Interessengemeinschaften der GST zur Befriedigung ihrer privaten oder berufsfördernden Interessen auszunutzen. Die Hetze gipfelt in der Aufforderung, nicht zuletzt auch das Kriegshandwerk zu erlernen, um zum geeigneten Zeitpunkt das Gewehr umdrehen zu können.
Stimmen aus Westdeutschland
Ein Monteur aus Nürnberg, zzt. Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck«, Schwarza/Gera, äußerte sich: »Bei euch in der Ostzone lässt es sich ganz gut leben. Solches Essen wie hier erhalten wir drüben nicht. Hier sieht man auch, dass aufgebaut wird und etwas für den Arbeiter dabei herauskommt. Mit eurem Verdienst kann man auch ganz gut leben. Man sieht den Aufstieg.«
Einschätzung der Situation
In der allgemeinen Lage und Stimmung hat sich nichts Wesentliches geändert. Die 16. Tagung des ZK der SED hat unter großen Teilen der Bevölkerung nicht die notwendige Beachtung gefunden. Es ist noch viel Aufklärungsarbeit notwendig, um die Werktätigen von der Bedeutung und Richtigkeit unserer Politik zu überzeugen. Die Bevölkerung bewegt weiterhin in erster Linie die Frage der Brennstoffversorgung und Preissenkung.