Tagesbericht
30. September 1953
Information Nr. 1081
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
a) Industrie und Verkehr
Breit entfaltete Diskussionen über die 16. Tagung des ZK finden in einigen Wismut-Schächten statt, im übrigen Teil der Republik nur örtlich. Die Parteiorganisation der Wismut AG ist dazu übergegangen, anstatt der üblichen größeren Versammlungen jetzt an den Arbeitsplätzen der Kumpels Versammlungen mit kleinerem Teilnehmerkreis durchzuführen. Dazu werden Agitatoren und Propagandisten besonders vorbereitet. Diese Methode war erfolgreich. Es diskutierten weit mehr Kumpel als in größeren Versammlungen. Wenn auch noch sehr oft wirtschaftliche Mängel im Vordergrund dieser Diskussionen stehen, so begrüßt doch der weitaus größte Teil der Wismut-Kumpel die Maßnahmen von Partei und Regierung.
In vielen Betrieben werden bei den Diskussionen über die 16. ZK-Tagung noch immer sehr verbreitet negative Stimmen laut, die Ungeduld, Unzufriedenheit über das Preisniveau und Unglauben gegenüber der Verwirklichung der Regierungsbeschlüsse zum Ausdruck bringen. Diese negativen Äußerungen entstehen oft deshalb, weil viele Arbeiter die Probleme voreingenommen betrachten und nicht selten die Ausführungen der 16. ZK-Tagung nicht richtig verstehen.
Arbeiter im VEB Marmeladenfabrik Plate/Schwerin sagten: »Geht es schon wieder los mit der Normenerhöhung? Ist das etwa der neue Kurs?« In Betrieben des Bezirkes Karl-Marx-Stadt wird oft geäußert, dass durch das erhöhte Warenangebot schon jetzt eine Preissenkung möglich sein müsse. Ähnliche Stimmen werden aus Sonneberger Betrieben (Bezirk Suhl) [und] auch aus dem Dimitroff-Werk Magdeburg laut. Arbeiter im Waggonbau Gotha sagten: »Nach der Verkündung des neuen Kurses sind noch keine Preissenkungen vorgenommen worden und auch die Stromabschaltungen haben nicht nachgelassen. Wir sind nur gespannt, ob sich der neue Kurs im nächsten Jahr mehr auswirkt als jetzt.«
Im Bezirk Leipzig wird sehr stark über eine angeblich unmittelbar bevorstehende Preissenkung diskutiert. Über die Stromabschaltungen wird außerordentlich verbreitet negativ diskutiert. Arbeiter im Kali-Werk Sondershausen/Erfurt sagen, warum der Bevölkerung nicht wenigstens mitgeteilt wird, warum diese Versprechungen der Regierung nicht gehalten werden.1
In nicht wenigen Betrieben herrscht eine Versammlungsmüdigkeit. Im VEB »Heinrich Rau« Wildau nahmen an einer öffentlichen Parteiversammlung nur 100 Personen teil. Im Thälmann-Kombinat Suhl besuchten von 600 Genossen nur 80 die Mitgliederversammlung.
Die Entlarvung und Entlassung von Provokateuren wird noch oft durch versöhnlerische Tendenzen großer Teile von Betriebsbelegschaften gehemmt. In einer Abteilung des VEB Sternradio, Berlin-Weißensee, sprach sich die Mehrheit der Kollegen gegen die Entlassung eines Paketabholers2 aus. In der Farbenfabrik Wolfen/Halle ist eine starke Zurückhaltung bei politischen Fragen festzustellen. Es wird von sogenannten »schwarzen Listen« gesprochen, nach denen noch eine ganze Reihe Teilnehmer des Juni-Putsches und Paketabholer entlassen werden soll.
Durch die mobilisierende Kraft der Parteiorganisationen sind in einigen Betrieben gute Produktionserfolge zu verzeichnen. Im IFA-Werk Audi Zwickau wurden durch Sonderschichten die Planrückstände des I. und II. Quartals aufgeholt und der Plan für das III. Quartal vorfristig erfüllt. An diesen Sonderschichten war die technische Intelligenz hervorragend beteiligt. In den Kohlengruben des Bezirkes Cottbus werden die Tagepläne im Zuge des Wettbewerbes ständig mit über 100 % erfüllt. Die Kumpel haben einen guten Wettbewerbsgeist entfaltet.
In einigen Kreisen des Bezirkes Halle wird über völlig ungenügende Waggonbereitstellung durch die Reichsbahn geklagt. Dadurch sind die Grubenholzbelieferung und der Kartoffeltransport stark gefährdet. Im EHW Thale ist dadurch der gesamte Transport von Export- und Importgütern zum Erliegen gekommen.
An der Straße Pasewalk–Anklam legten 48 Greifswalder Reichsbahn-Streckenarbeiter die Arbeit nieder, weil ihre Normen auf administrativem Wege erhöht wurden.
Im Konstruktionsbüro der Volkswerft Stralsund stellten Angehörige der technischen Intelligenz die Frage, ob 1954 in der DDR Wahlen durchgeführt werden, die ja laut Verfassung fällig wären.
b) Handel und Versorgung
Im Bezirk Halle bestehen noch Schwierigkeiten in der Kartoffelversorgung.
In Großziethen/Potsdam und Rudersdorf3/Gera nehmen die VEAB Obst und Gemüse von den Bauern nicht ab.
In Pritzwalk/Potsdam bemängeln die Hausfrauen, dass es keine HO-Butter zu kaufen gibt. Aus Suhl wird mitgeteilt, dass die HO Industriewaren Meiningen übervolle Warenlager hat. Der Absatz dagegen ist schlecht. In der Stadt geht das Gerücht herum, dass am 1.10.1953 eine Preissenkung erfolgt.
c) Landwirtschaft
Unzufriedenheit unter der Landbevölkerung wird immer wieder durch schlechte Qualität landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte und durch Mangel von Ersatzteilen hervorgerufen, weil dadurch die Arbeit gehemmt wird. In einigen MTS-Stationen des Bezirkes Magdeburg fallen Kartoffelroder vom Typ »Schatzgräber« schon nach kurzer Zeit durch Reparaturen aus. Es mangelt an Ersatzteilen.
Im Bezirk Leipzig stehen Traktoren vom Typ »Pionier« still. Die neuen Legierungen für Kolben und Buchsen halten nur 200 Arbeitsstunden aus und Ersatzteile sind dafür nicht vorhanden.
Ein Schlosser der MTS Langenhanshagen/Rostock äußerte über die schlechte Beschaffenheit von Pflügen: »Man sollte doch endlich bessere Pflüge bauen, dann würden wir auch mit der Arbeit 14 Tage früher fertig. Jetzt gehen alle Pflüge kaputt und Ersatzteile gibt es nicht.«
Im Kreis Weimar/Erfurt äußern die Bauern, die ihr Soll an Getreide erfüllt haben (50 % der landwirtschaftlichen Betriebe), dass sie nicht wissen, wie sie ihr Vieh füttern sollen. Die Futtermittelversorgung durch die BHG ist nicht gewährleistet. Darin besteht eine ernste Lage. Auch im Bezirk Halle stehen die Bauern vor einer ernsten Frage in der Futterversorgung. Im Kreis Glauchau, Bezirk Karl-Marx-Stadt, wollen einige Bauern erst ihre Felder bestellen und dann abliefern.
Die Bauern der LPG Wüstenhain4/Gera sind unzufrieden, da die Unterstützung durch den Rat des Bezirkes vernachlässigt wird. Die LPG stellte vor ca. sechs Wochen einen Antrag auf Zuteilung eines Lkw an den Rat des Bezirkes. Trotz Bemühungen der SED-Kreisleitung hat sich noch nichts geändert.
Im VEG Zietenhorst5/Potsdam sind im August und September 33 Arbeiter wegen schlechter Verpflegung und Unterkunft abgewandert. In Wendisch Briborn/Schwerin wird das Gerücht verbreitet, dass Bauern, die ihr Soll nicht 100%ig abliefern, dass ganze Getreide abgenommen wird.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Große Teile der Bevölkerung halten sich in politischen Fragen immer noch zurück, besonders Kleinbürger. Die Ursache ist Angst, bei falschen Äußerungen verhaftet zu werden. So erklärte ein Gewerbetreibender, Mitglied der LDPD, aus Dippoldiswalde/Dresden: »Ich wurde schon mehrere Male aufgefordert, Versammlungen zu besuchen, ich gehe aber nicht hin. Wenn man seine Meinung in der Versammlung zum Ausdruck bringt, so können doch immer unter den Anwesenden Personen sein, die sofort dem SSD melden, und dann wird man so stillschweigend abgeholt.«
In den Diskussionen wird in den Bezirken Potsdam, Karl-Marx-Stadt, Dresden, Cottbus, Erfurt und Suhl besonders zu den Stromabschaltungen Stellung genommen. In Schmalkalden/Suhl wird täglich zwei bis drei Stunden der Strom abgeschaltet. Unter der Bevölkerung kommen Zweifel an der Ehrlichkeit des neuen Kurses auf. In einigen Fällen wird auch die Frage gestellt, warum bei uns nicht die notwendigen Kraftwerke gebaut worden sind. So äußerte eine Textilarbeiterin aus Dippoldiswalde: »In der Zeitung sieht man immer wieder, wie bei den Großbauten des Kommunismus durch Wasser Strom erzeugt wird. Warum führt man bei uns nicht so ein Bauwerk durch, damit die Stromabschaltungen, die seit 1945 bestehen, endlich ein Ende finden?«
In den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Cottbus sprechen Teile der Bevölkerung immer noch über eine baldige Preissenkung. Im Bezirk Halle wurde von der Bevölkerung geäußert, dass man die Preise für Margarine herabsetzen könnte, da ja genügend vorhanden sei und sie oft durch zu lange Lagerung ungenießbar wird.
Feindtätigkeit
a) organisierte
Verstärkte Flugblatttätigkeit im Bezirk Halle, Gera und Cottbus (NTS,6 KgU),7 vereinzelt in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Erfurt, Suhl, Magdeburg, Potsdam, Neubrandenburg und Berlin (NTS, KgU, Ostbüro – SPD8 und CDU).9
Am 27.9.1953 wurde auf dem Erntefest in Katerbow10/Potsdam der Leiter der MTS Kränzlin11/Potsdam überfallen. Am 28.9.1953 wurden beim Erntefest in Salzow12/Neubrandenburg ein LPG-Vorsitzender und zwei Genossenschaftsbauern von vier Personen überfallen, niedergeschlagen und schwer misshandelt.
b) vermutlich organisierte
In Eilenburg/Leipzig wird das Gerücht verbreitet, dass die Eisenbahner von Eilenburg und Altenburg streiken wollen.
Stimmen aus Westberlin
Im EAW »Stalin«, Berlin-Treptow, fand am 22.9.1953 eine Versammlung mit den dort beschäftigten Westberliner Arbeitern statt, Thema: »Was die Partei den Westberlinern zu sagen hat.« Die 300–400 Anwesenden fassten die Ausführungen des Parteisekretärs des Betriebes so auf, dass ab 1.1.1954 alle Westberliner Arbeiter entlassen würden und waren darüber sehr empört. Sie brachten übereinstimmend zum Ausdruck, dass sie drüben als Kommunistenknechte bezeichnet würden und hier als Agenten und Saboteure. Man könne doch nicht die Westberliner Arbeiter für die feindliche Tätigkeit in der DDR verantwortlich machen; sie wollten weiter nichts, als ehrliche Arbeit leisten und ihr Brot verdienen.
Am 27.9.1953 fand in den Schultheiss-Sälen in der Westberliner Hasenheide ein »Heimatabend« für Bayern, Niederschlesien und Siebenbürgen statt. Die Versammlung trug ausgesprochen faschistischen Charakter.
Einschätzung der Situation
Bedeutsame Veränderungen sind in der Gesamtlage nicht eingetreten. Erfolge guter Parteiarbeit zeigen sich weiter in den Wismut-Betrieben und auch in den Betrieben der Bezirke Cottbus und Karl-Marx-Stadt. In einer Reihe Betriebe, besonders in Berlin, wo sich eine abwartende und zum Teil skeptische Haltung zeigt, hat unsere Partei noch nicht die Kraft gefunden einen Umschwung zu erzielen. Die vielen Stromabschaltungen in den Bezirken, ausgenutzt von feindlichen Elementen, tragen wesentlich dazu bei, die Stimmung der Werktätigen in Stadt und Land negativ zu beeinflussen und die Zweifel am neuen Kurs zu verstärken. Durch die laufenden Ausfälle landwirtschaftlicher Maschinen und den Ersatzteilmangel werden weiterhin die Hackfruchternte und die Herbstbestellung sehr erschwert.
Anlage zur Information Nr. 1081 (30.9.1953)
Stimmen aus Westberlin und Westdeutschland
Ein Arbeitsloser aus Biberach erklärt: »Die Bevölkerung von Biberach ist nicht sehr eingenommen von den Flüchtlingen aus der DDR. Was ihr so hört, ist alles Schwindel. Von dem Gesindel, wie man bei uns sagt, will man nichts wissen. Diese Menschen werden nur für Propagandazwecke benutzt, um politische Schlachten zu gewinnen. Nächstes Jahr werden bestimmt wieder Millionen ins Gras beißen, denn Kanonen und Militär werden nicht als Spielzeug aufgestellt. Verlasst euch darauf, unsere Regierung wird genau dort landen, wo die anderen gelandet sind.«
Eine Angestellte aus Hamburg: »Obwohl ich mich nicht wohlfühle, muss ich meiner Arbeit nachgehen, da man ständig Furcht vor der Entlassung haben muss. Die Hauptsche ist, dass die Schlagwörter sozial, menschlich, freiheitlich usw. lauten. Die Not kümmert aber keinen. Mein Mann, der 35 Jahre ist, wird wohl niemals mehr Arbeit finden, da er als zu alt angesehen wird. Jüngere Leute arbeiten mehr und bekommen geringeren Lohn. Familienväter wollen ja höheren Lohn als ein Lediger. Für so vieles ist Geld da, nur für die bitterste Not nicht. Demgegenüber werden aber Villen, Kino und Büropaläste gebaut.«
Ein Erwerbsloser aus Landsberg: »Ich war nur noch Beamter auf Widerruf. Durch meine 8-monatige Krankheit haben sie meinen Beamtentitel widerrufen. Arbeiten kann ich nicht, also entlassen. Was nützten die ganzen Versprechungen und Gesetze, Lastenausgleich, Flüchtlingshilfe usw., alles auf dem Papier, das doch so gut brennt.«
Eine Hausfrau aus Berlin/Charlottenburg: »Fleisch kenne ich schon seit Jahren nicht mehr. Ich lebe nur von Brot, Margarine und Obst. Für uns sind aber keine Amerika-Pakete vorhanden. Mein Mann ist schon lange arbeitslos und das jämmerliche Arbeitslosenleben sowie das Stempeln will nicht aufhören. Die DDR hat Recht. Sie sollen erst ihr eigenes Volk unterstützen und nicht die Bevölkerung der DDR. Was nützt es uns, wenn alles vorhanden ist und wir können nichts kaufen. Wir haben nur einen Wunsch, dass bald die Einheit Deutschlands hergestellt wird.«
Ein Rentner aus Westberlin: »Es sind nicht nur die Lebensmittelpreise, die man erhöht hat, sondern auch Kleidung und Schuhwerk ist teurer geworden. Wir Arbeitslosen und Rentner fragen uns täglich, wie lange dieser trostlose Zustand noch anhalten soll. Dieser katastrophalen Entwicklung muss doch mal Einhalt geboten werden. Ich bin nicht neidisch auf die Ostbewohner. Wenn13 täglich an Paketen ausgegeben wird an Leute, die ein monatliches Einkommen von 1 000 DM haben, so ist das skandalös.«
Eine Hausfrau aus Westberlin: »Wir Arbeitslosen sind es eher bedürftig als die fetten Bauern, die sich ihre Fettpakete abholen. Die Geschäfte sind voll mit Waren, aber Arbeit haben wir nicht. Ich brauche nötig ein Paar Schuhe, kann mir aber keine kaufen, da das Geld dazu fehlt. Nur wenigen geht es hier bei uns gut, der Mehrzahl aber sehr schlecht. Für die teuere Miete müssen wir hungern.«
Ein Dozent aus Halle äußert sich über den Besuch einer westdeutschen Delegation im Institut: »Es war ein voller Erfolg. Die Westdeutschen fragten unsere Studenten, aus welchen Berufen sie kommen, und waren erstaunt, als sie hörten, dass es wirklich Schlosser, Dreher, Landarbeiter usw. waren. Zu den Wahlen in Westdeutschland äußerten sie, dass sich die wenigsten Menschen um Politik kümmern und die meisten, weil sie gut leben, ohne nachzudenken, Adenauer wiedergewählt haben.«