Tagesbericht
30. Juli 1953
Information Nr. 1028
Stimmung der Bevölkerung
Aus den vorliegenden Diskussionsbeispielen ist zu ersehen, dass ein Teil der Bevölkerung den neuen Kurs unserer Partei und Regierung begrüßt. Besonders wird zum Ausdruck gebracht, dass die Lohnerhöhung und das reichhaltige Warenangebot zur Verbesserung der Stimmung beitragen.
So äußert sich der BGL-Vorsitzende im Kombinat Gölzau, Thiede: »Die allgemeine Lage im Betrieb hat sich seit dem 17.6.1953 wesentlich verbessert. Die Kollegen haben sich beruhigt. Durch die Umstufung der einzelnen Lohngruppen und Erhöhung der Lohngruppen I–IV1 sowie durch die Verbesserung der Versorgung mit Lebensmitteln. Es gibt natürlich noch einzelne, die mit ihrer Lohngruppe nicht zufrieden sind. Bei diesen werden Überprüfungen durchgeführt, ob die Forderung zu Recht besteht.« Demgegenüber gibt es allerdings eine Anzahl Stimmen, die versuchen, den neuen Kurs unserer Partei zu negieren, zum Teil sogar mit feindlichen Äußerungen dagegen vorgehen.
So äußert sich z. B. der Vorsitzende des Kreisverbandes der NDPD, Hartung,2 aus Eisleben in einer Sitzung: »Die Losung, die sich zzt. am Gebäude der Bezirksleitung der SED in Halle befindet, ist anmaßend und stößt die Bevölkerung vor den Kopf. Das Volk wird nicht vom ZK vollständig geführt, sondern von der Regierung. Im Übrigen hat ja das ZK vollständig versagt und somit nicht das Recht, sich als Fürsprecherin des gesamten Volkes zu bezeichnen. Es kann nur die Führerin der Arbeiterklasse sein. Die seit dem Sommer 1952 gemachten Fehler liegen nicht in der Methode und im Tempo, sondern überhaupt im Sozialismus.3 Würde man davon nicht abgehen, wiederhole sich der Fehler zwangsläufig, denn im Sozialismus wird der Mittelstand bekanntlich liquidiert.«
Oder der Arbeiter [Name 1] vom VEB Holz, Eisleben: »Wir hatten mit mindestens 10 % Lohnerhöhung gerechnet, in meiner Gruppe aber macht es nur sieben Pfennig aus in der Stunde. Die Reklame war viel größer als der Grund, der dafür vorhanden ist. Und dann die komische Preissenkung. Wir brauchen keine Schreibmaschinen und keine Perlonstrümpfe, also wirkt sich das auch für uns nicht weiter aus, weil es keine lebensnotwendigen Güter sind. Lebensmittel, Textilien, besonders aber Wäsche, brauchen wir dringend.«
Der Genosse [Name 2],4 beschäftigt im VPKA Forst, Abteilung K, erklärte: »In Russland hat es 1917 so angefangen, dass man dem Volk stufenweise immer mehr gab. Damit bekamen die Herren, die den Sozialismus anführten, Vertrauen beim Volke. Das russische Volk kannte nur Armut. 1917 aber war das deutsche Volk schon in vollem Wohlstand gewesen,5 was das russische Volk nie gekannt hat. Das deutsche Volk soll sich in eine Armutslage begeben und dann immer stufenweise was bekommen. Das deutsche Volk kennt aber was anderes, die haben es satt. Die Herren von oben geben ihre Fehler zu, aber der Tag X6 wird sich noch schlimmer wiederholen.«7
Ein Teil des Mittelstandes und der Großbauern diskutiert sehr stark darüber, dass die gegenwärtigen Maßnahmen unserer Regierung nicht lang anhalten werden. So äußert sich der Großbauer [Name 1] aus Röcknitz:8 »Nach dem neuen Kurs der Regierung hat wohl die SED den Sozialismus beiseite gestellt, aber in zwei Jahren haben wir dieselben Verhältnisse, das geht doch aus der Geschichte der KPdSU hervor. Was wurde dort mit den Großbauern gemacht, entweder sie wurden vernichtet oder nach Sibirien verbannt.«
Zum Teil werden derartige Ansichten von Genossen unserer Partei unterstützt bzw. in Diskussionen mit dem Klassengegner zum Ausdruck gebracht. So sagt z. B. der Fuhrunternehmer [Name 2], dass er mit zwei Genossen, die gerade von der SED-Parteischule gekommen waren, gesprochen habe, die ihm erklärten: »Warte ab mein Lieber, wir sind jetzt einen Schritt zurückgegangen, aber in einem Jahr gehen wir vier Schritte vorwärts und holen alles wieder nach.«
Die Entfernung des Genossen Zaisser9 und Herrnstadt10 aus dem ZK wird zum großen Teil von unseren Genossen als richtig anerkannt. Anders reagieren jedoch parteifeindliche Elemente darauf, die im Beschluss des 15. Plenums unserer Partei Zersetzungserscheinungen sehen, »da einer nach dem anderen abtreten müsste«. So sagt z. B. der Angestellte der DHZ Lebensmittel Nordhausen [Name 3]: »Habt ihr schon gehört, sie haben schon wieder zehn Leute aus der Regierung rausgeschmissen. Elli Schmidt,11 Ackermann,12 Zaisser usw. Die werden es nie zu etwas bringen, mit ihren ›Portemonnaie-Kommunismus‹. Da ist doch kaum einer drunter, der wirklich überzeugt ist. Auch unsere kleinen Funktionäre, wenn die nicht so gut bezahlt würden, wären sie nicht Kommunisten.«
Zur Entschließung des 15. Plenums unserer Partei sagt der Oberassistent der Hochschule für Architektur [Name 4]13 (Mitglied der SED, früher SPD, dann NSDAP): »Man kann staunen, mit welcher Raffinesse das ZK es versteht, die wahren Gründe der Ereignisse zu bemänteln. Aus der Entschließung14 geht überhaupt nicht hervor, dass die Fehler vom ZK begangen worden sind und diese dann zu Unruhen führten. Die Schuld wird auf Ministerien, Verwaltungen, Fechner15 u. a. abgeschoben, nur das ZK steht den Umständen angepasst als reinstes Organ da. Man brauchte auch einige Sündenböcke, sie wurden in Fechner, Zaisser, Ackermann usw. gefunden. Damit hat man es verstanden, die Spitzen wie Ulbricht usw. unbehelligt zu lassen. Mir ist es recht, denn dadurch bekamen die alten SPD-Funktionäre wie Grotewohl, Ebert16 u. a. die Oberhand im ZK. Hoffentlich verstehen sie es, die Chance auszunützen.«
Im Ministerium für Handel und Versorgung wird diskutiert, dass das Staatliche Komitee für Materialversorgung selbst schon behauptet, dass die Industriewarenkontingente für das 2. Halbjahr unreal sind. Darum wurde von der Materialversorgung auch in Erwägung gezogen, für das 2. Halbjahr 1953 keinen neuen Warenbereitstellungsplan für Industriewaren mehr herauszugeben, sondern nach dem alten Warenbereitstellungsplan zu arbeiten und nur Zusatzpläne herauszugeben. Bei der Aufhebung der Kontingentierung für die 1091 Warenpositionen durch das Staatliche Komitee für Materialversorgung17 wurde keine Abstimmung mit dem Ministerium für Handel und Versorgung durchgeführt. Ferner ist jetzt festzustellen, dass die Waren (wo die Kontingentierung aufgehoben ist) aus privater Produktion ziemlich unkontrollierbar über den privaten Einzel- und Großhandel gestreut werden.
Weiterhin wird aus dem Ministerium für Handel und Versorgung bekannt, dass der Leiter der Abteilung Kontrolle, Tack, der direkt dem Minister untersteht, bisher noch keine Gelegenheit hatte, Rücksprache mit diesem zu nehmen. Genosse Tack wurde vor ca. sechs Wochen eingestellt und hat bis zum heutigen Tage noch keine Anleitung für die Arbeit seiner Abteilung erhalten.
Eine schlechte Stimmung hat die Maßnahme hervorgerufen, dass ab 1.6.1953 die Ausgleichskarten18 an Regierungsangestellte ausgegeben werden (eine Vereinbarung mit Minister Wach).19
Die Bauarbeiter aus den Randgebieten20 von Berlin, die vom Genossen Warnke21 die Zusicherung erhielten, dass die Ausgleichkarten wieder ausgegeben werden, diskutieren in der Form, dass man sie als Menschen 2. Klasse behandelt.
In einem Brief an den Präsidenten der Volkskammer22 der DDR werden folgende Fragen gestellt:
- 1.
Welche Voraussetzungen sind in Zukunft gegeben, dass die Volkskammer als Überwachungsorgan der Regierung tatsächlich die Überwachung vornimmt, sodass ähnliche Regierungsfehler vermieden werden?
- 2.
Liegt bereits ein Gesetzentwurf für die Neuwahl der Volkskammer vor, etwa mit dem Passus: Blockbildung ist gestattet, jedoch müssen insgesamt mindestens zwei Listen bei jeder Wahl aufgestellt werden. Oder:
- 3.
Hat die Volkskammer die Absicht, das unzureichende, bisherige Wahlgesetz wieder anzuwenden, das dem Volk den tatsächlichen Einfluss über die letzte Entscheidung genommen hat?
Aus Westberlin wird bekannt, dass der Andrang bei der sogenannten »Hilfsaktion«23 noch immer anhält. Demgegenüber aber ist zu verzeichnen, dass sich die Beispiele mehren, wo Rentner und fortschrittliche Menschen in unserem Sinne diskutieren. Eine negative Stimmung gegenüber den sogenannten »Paketempfängern« kommt auch unter der Westberliner Bevölkerung zum Ausdruck, die aufzeigt, dass Personen aus der DDR mit Obst und anderen Produkten nach Westberlin kommen, dieses für Westgeld verkaufen und dann noch das Lebensmittelpaket in Empfang nehmen. Diese Stimmung hat auch zum Teil auf Angehörige der Stummpolizei24 übergegriffen, die zum Ausdruck bringen, dass man lieber die ihnen zustehenden Gehälter zahlt und Lebensmittel an Westberliner Arbeitslose ausgibt.
In Zehlendorf übergaben einige Rentner ihre Lebensmittelpakete an die Erwerbslosen. Wie festzustellen ist, verstärkt die Stupo ihren Einsatz und ist bemüht, keine Diskussionen aufkommen zu lassen.
Die Genossin [Name 5] wurde zur SED-Kreisleitung Mitte bestellt, wo sie 5,00 DM erhielt und dafür ein »Spendepaket« aus Westberlin holen sollte. Diese diskutierte mit den Hausbewohnern darüber und schickte die 5,00 DM an die Kreisleitung zurück. Die SED-Kreisleitung Pankow gab an einige Genossen die Anweisung, in Westberlin ein »Spendepaket« zu holen, welches dann an die Westberliner Arbeitslosen ausgegeben werden soll.
Aus dem Lager des Feindes wird bekannt
Wie bekannt wurde, fand in der sogenannten KgU25 eine Besprechung statt, an welcher der größte Teil der Angehörigen der KgU teilnahm. Als Hauptthema stand auf dieser Besprechung die Absetzung des SSD26-Ministers Zaisser sowie einige seiner engsten Mitarbeiter (wie z. B. Genosse Mielke),27 welcher nach Angaben des »Telegraf«28 verhaftet sein soll. Es soll besonders beobachtet werden sowie durch die Bevölkerung in Erfahrung gebracht werden, wo Angehörige des SSD wohnhaft sind, um sie karteimäßig zu erfassen. Besonders soll beobachtet werden, wie sich das Ministerium für Staatssicherheit auflösen wird, nachdem ihre Exponenten verhaftet sind.29
Besonders soll dafür Sorge getragen werden, dass neue Agenten angeworben werden, da ein großer Teil Agenten infolge des 17.6.1953 verschollen sind. Aus der anlaufenden Paketaktion sollen zuverlässige Paketabholer überprüft werden, vor allem solche, welche in führender Stellung stehen und geeignet sind, Agentendienste zu verrichten.30 Diese Personen sollen dann den entsprechenden Sachbearbeitern zugeführt werden.
Dies wird bei der Paketaktion nach folgendem Muster durchgeführt. Unter den Antragstellern werden unbekannte Agenten aus Westberlin oder der DDR eingeschleust, welche die Paketabholer aushorchen. Dies soll geschehen nach ihrem Beruf, Arbeitsstelle und Wohnsitz. Bevor diese dann zur Registrierung und karteimäßigen Erfassung kommen, soll der Kontakt schon soweit hergestellt sein, dass diese Personen bevorzugt abgefertigt werden. Die Angestellten, welche diese Formalitäten erledigen, sind ausgewählte Personen des Senats, die aber der KgU und anderen Organisationen als zuverlässig erscheinen. Bei der Paketausgabe werden dann diese Personen, welche für die Ausführung der Agententätigkeit für fähig befunden werden, zur Seite genommen und mit ihnen noch ein Treff in einem Café usw. vereinbart.31 Dabei soll diese Unterredung so geführt werden, dass die KgU nicht in Erscheinung tritt. Mit diesen Personen werden dann weitere Treffs und Aussprachen vereinbart, wo wiederum kein Wort von der Agentenzentrale der KgU fallen darf.32 Erst nachdem die Zuverlässigkeit der betreffenden Personen feststeht, soll offen über die Mitarbeit der KgU gesprochen werden.
Bei den durchgeführten Besprechungen und Treffs soll man zum Ausdruck bringen, dass man sich um die Notlage der Ostbewohner sorgt und ihnen Hilfeleistungen aus eigenen Mitteln gewährt. Auf diese Art wurden bereits Agenten von der KgU geworben.
In der Besprechung wurden noch Verhaltungsmaßregeln besprochen für die künftige Arbeit. Vor allem soll so gearbeitet werden, dass die Ruhe in Berlin nicht gestört wird, damit auch weiterhin die Züge in die Republik fahren ohne ZBK.33 Denn durch das Nichtvorhandensein der Zugkontrollen kann Material der KgU bis in die entferntesten Winkel der DDR leicht und unauffällig transportiert werden.
In der KgU liegen zzt. Flugblätter aus USA, welche an die Mitglieder der Adventisten in der DDR zum Versand gelangen. Am Anfang der Flugblätter wird mit streng religiösen Formen begonnen und am Schluss enden sie mit der üblichen Hetze gegen die DDR und dem [sic!] Friedenslager. Da diese gelieferten Flugblätter aus USA nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, werden zzt. große Mengen nachgedruckt, um sie dann mithilfe der Paketaktion in der DDR zur Verteilung zu bringen.
Da keine Zugkontrollen mehr stattfinden (außer DPA-Kontrolle) geht die sogenannte KgU durch die »Hilfsaktion der USA« dazu über, dass sie ihre Agenten mit größeren Briefsendungen in die Gebiete der DDR schickt, um sie dort in den jeweiligen Städten in die Briefkästen einzuwerfen. Die Absender sind so auf die Briefe geschrieben, als wenn sie im selben Ort angefertigt worden wären. Bewohner aus der DDR, welche jetzt nach Berlin kommen, um sich Pakete abzuholen, werden angesprochen und überredet, solche Briefe auf ihrer Heimreise mitzunehmen und sie dann in den Briefkasten zu werfen. Dafür erhalten sie 5,00 bis 15,00 Westmark. Diese Briefe werden zwischen 50 und 100 Stück in einem Paket befördert, indem man sie oft in HO-Papier oder Tüten einschlägt, um das Feindmaterial unauffällig und ungehindert zu transportieren.
Weiterhin gibt die KgU an Besucher aus der DDR Postanweisungen (geschrieben), wo Geld überwiesen wird an Familien, in denen ein Familienmitglied oder Verwandte verhaftet wurden (als Unterstützung). Solche Sendungen von Geld werden auch gefertigt für Agenten, die nicht nach Westberlin kommen, Berichte schreiben und dafür eine Belohnung erhalten können.34