Tagesbericht
21. August 1953
Information Nr. 1046
Stimmung der Bevölkerung
a) Note der Sowjetregierung
Wie bereits gestern berichtet wurde, diskutiert die Mehrheit er Bevölkerung positiv über die Note der Sowjetregierung.1 In einem großen Teil der Betriebe jedoch, so wird aus Dresden und Leipzig berichtet, verhalten sich die Belegschaften reserviert. Die Versammlungen sind schlecht besucht und die Diskussion ist gering. Die Arbeiter haben Angst, evtl. etwas Falsches zu sagen und dann dafür zur Verantwortung gezogen zu werden, vielleicht sogar ihre Arbeitsstelle zu verlieren. Noch stärker macht sich die Zurückhaltung bei den Angestellten und bei der Intelligenz bemerkbar. In einer Versammlung der Aufbauleitung des Kraftwerkes im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« lehnten von 20 anwesenden leitenden Betriebsfunktionären zwölf ihre Unterschriftsleistung unter eine Zustimmungserklärung zur Note ab.
Schwerpunkt in der negativen Diskussion ist die Oder-Neiße-Grenze. Diese Frage wird besonders in Großbetrieben, wo viele Neubürger aus den Ostgebieten konzentriert sind, diskutiert (Meldungen aus Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt).
Im VEB IKA Sörnewitz, Bezirk Dresden, traten 14 Mitglieder der Partei, Arbeiter, im Zusammenhang mit der Diskussion über die Note aus der Partei aus. Ein weiteres negatives Merkmal der Diskussion tritt allerorts verstärkt auf: Nicht Bildung einer provisorischen Regierung, man solle erst Wahlen durchführen und dann eine Regierung bilden.
Im Stahlwerk Hennigsdorf wird die Note allgemein positiv bewertet, die Reise der Regierungsdelegation nach Moskau2 jedoch als »Befehlsempfang« hingestellt.
b) Aus den Betrieben
In den Betrieben wird besonders über die Lohnfrage diskutiert. Die Transportarbeiter der Derutra in Rostock fordern einen höheren Stundenlohn oder garantierten Schichtlohn. Sie stehen auf dem Standpunkt, dass sie körperlich mehr arbeiten als die Arbeiter der Schweinemästerei und der Werft, die mehr Geld erhalten als sie. Hinter diesen Forderungen steht die ganze Belegschaft. Diese Unzufriedenheit der Arbeiter geht so weit, dass in den bisher durchgeführten vier Kurzversammlungen über die Note der SU, in denen eine Entschließung angenommen werden sollte, es noch zu keinem Ergebnis gekommen ist.
In verschiedenen Diskussionen der Arbeiter der Lohngruppen V–VIII kommt zum Ausdruck, dass sie nicht mit der Erhöhung der Lohngruppen I–IV einverstanden sind.3 Sie sagen dazu: »Es hat gar keinen Zweck mehr, sich zu qualifizieren, da weniger Qualifizierte das Gleiche verdienen.«
Die Kollegen des LEW Hennigsdorf fordern Berliner Lohntarife, »da die Lebensmittel in Hennigsdorf genauso teuer wie in Berlin« seien. Viele Fachkräfte wollen bei Bergmann-Borsig arbeiten, wo sie fast das Doppelte verdienen.
Die Kolleginnen der 1. Forster Textilwerke weigern sich, FDGB-Beiträge zu zahlen, und legen das Geld in die FDGB-Mitgliedsbücher. Sie wollen erst ihre Forderungen: achttägige Lohnzahlung und Gewährung des Haushalttages erfüllt sehen.
In der Zuckerfabrik in Brottewitz, Kreis Liebenwerda, wollen viele Kollegen aus dem FDGB austreten, da er »nicht konsequent für die Forderungen der Arbeiter gegen das Lohnklassensystem eintritt«. Die Bezahlung der Parteibeiträge liegt in diesem Betrieb bei 50 %, der Besuch der Parteiversammlungen bei 25 % und die Beitragskassierung des FDGB bei 45 %.
Besonders wird unter den Arbeitern die Meinung in den Diskussionen vertreten, dass ihnen eine Preissenkung für Perlonstrümpfe und Schreibmaschinen nichts nütze,4 sondern man solle die Preise für die wichtigsten Lebensmittel herabsetzen (RAW Meiningen, Bezirk Suhl).
Unter den Arbeitern des Schwermaschinenbaus »7. Oktober« in Magdeburg wird eine schlechte Stimmung durch den Arbeitskräftemangel an Hilfsarbeitern hervorgerufen, da qualifizierte Facharbeiter Arbeiten von Hilfsarbeitern verrichten müssen, um einen einwandfreien Arbeitsablauf zu gewährleisten.
Im Stahlwerk Brandenburg, im Walzwerk »Wilhelm Florin« Hennigsdorf und im VEB »Askania« Teltow, Bezirk Potsdam, wird von den Arbeitern Klage geführt, da durch Materialmangel, Materialschäden und Reparaturen die Arbeit laufend ins Stocken gerät. Dadurch entsteht verschiedentlich Sonntagsarbeit. Das Gleiche tritt im Schmelzbetrieb Brandenburg auf, wo durch mangelnde Schrottlieferung die Arbeit gehemmt wird und die Arbeiter erheblichen Lohnausfall haben.
Im Industriewerk Ludwigsfelde, Bezirk Potsdam, wurden am 18.8.1953 30 Arbeiter entlassen, weil für verschiedene Bauvorhaben Investmittel gestrichen wurden. Einige Arbeiter, allerdings in betrunkenem Zustand, fertigten zwei Strohpuppen an, die sie an zwei Galgen im Werk aufhängten und mit einem Schild versahen: »Tod dem Planfraß«, »Ja, es ist traurig, aber wahr«.
c) Aus der Landbevölkerung
Ständig wird von Genossenschaftsbauern Klage geführt über mangelhafte Unterstützung der LPG durch die MTS. In der LPG Elsnigk, Bezirk Halle, ist die Tatsache zu verzeichnen, dass durch den Mangel an Maschinen die Bauern mehr arbeiten müssen als in der Einzelwirtschaft. Die Bauern sagen zu ihrem Vorsitzenden: »Vor der Gründung hast Du uns versprochen, dass die MTS alle maschinellen Arbeiten macht, und jetzt – zur Ernte kommen wir dran, wenn die anderen fertig sind.«
In Nauendorf, Bezirk Cottbus, beschweren sich die Bauern, weil sie gegenüber den Gütern viel zu wenig Thomasmehl erhalten hätten, das zur Steigerung der Ernteerträge notwendig ist.
Im Kreis Liebenwerda wird von Großbauern die Parole verbreitet: »Wir liefern nichts ab.« Die Folge davon ist, dass z. B. die Bauern in Fichtenberg, Kreis Liebenwerda, ihr Getreidesoll erst zu 12–15 % erfüllt haben, während das Getreide schon zu 60 % gedroschen ist.
Ferner werden im Bezirk Cottbus (besonders in Dahlen,5 Kreis Calau, und in Schacksdorf)6 von den Bauern Anträge auf Herabsetzung des Roggensolls an die Bürgermeister gestellt, Begründung: Zu geringe Ernte. Hierbei ist notwendig zu erwähnen, dass der RIAS fortwährend die Bauern aufhetzt, ihr Getreide jetzt noch nicht abzuliefern.
d) Stimmen zur Versorgung der Bevölkerung
Aus der Bevölkerung von Potsdam werden Stimmen laut, dass man jetzt, da so viele Lebensmittel aus der SU und den Volksdemokratien kommen, diese auf Sonderabschnitte der Lebensmittelkarte zu billigeren Preisen als in der HO verkaufen solle.
Aus dem Konsum Piesteritz, Bezirk Halle, wird von Herrn [Name] berichtet, dass die fetthaltige sowjetische Importbutter überwiegend in ranzigem Zustand geliefert wird. Die Kunden lehnen den Kauf der Butter ab, trotzdem von den Würfeln eine bis 5 cm dicke Schicht abgeschält wird. Seiner Meinung nach liegt hier Sabotage vor, um die Sowjetunion zu diskriminieren.
Die Diskussionen über die Stromversorgung werden noch weiterhin unter der Bevölkerung geführt. Man fordert, dass man zumindest die Abschaltungen rechtzeitig bekannt geben muss.
e) Stimmen zum neuen Kurs
Besonders aus Suhl, aber auch aus anderen Bezirken wird berichtet, die Bevölkerung der Grenzgebiete sei sehr ungehalten darüber, dass für die Grenzgebiete keine Aufenthaltsgenehmigungen erteilt werden.7
Durch vielerorts nach wie vor auftretende Versorgungsschwierigkeiten bei Lebensmitteln, Hausbrandkohlen, elektrischem Strom u. a. sind Teile der Bevölkerung dem neuen Kurs gegenüber sehr skeptisch. Im Kraftwerk Plessa, Bezirk Halle, wird z. B. gesagt: »Der neue Kurs der Regierung und der Partei ist nur leere Versprechung; es hat sich noch nichts geändert.« (Ähnliche Stimmen werden aus allen Bezirken gemeldet.)
Aus Berlin, Halle, Quedlinburg u. a. Städten wird verlautet, dass in Lichtspieltheatern lautes Lachen und Unruhen entstehen, wenn der »Augenzeuge« mit der Rede Otto Grotewohls über den neuen Kurs vor der Volkskammer gezeigt wird.8
Feindtätigkeit
Die verstärkte Wühlarbeit des Gegners durch Flugblätter hat sich in fast allen Bezirken gezeigt. Gera meldet, dass an mehreren Orten entlang der Demarkationslinie viele Hundert Flugblätter gefunden wurden. Allein in der Nähe von Probstzella sammelten VP-Angehörige bei einer Suchaktion auf einem Rondell von 200 m Durchmesser 1 000 Stück. Im Stadtgebiet von Greiz, Bezirk Gera, wurden ebenfalls in den Straßen und Betrieben von Arbeitern Flugblätter aufgesammelt und abgeliefert.
Es handelt sich um Flugblätter der KgU,9 des Ostbüros der SPD10 und des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen,11 solche, von denen wir bereits in den letzten Tagen berichteten.
Bei Haidemühl im Kreis Spremberg, Bezirk Cottbus, wurde ein roter Ballon mit der Aufschrift »Freiheit SPD« gefunden. Daran waren zwei Hetzschriften befestigt mit der Aufschrift: »Der Sieg des 17.6.1953« und »Die Zone soll weiterhungern«. Ähnliche Flugblätter wurden in den Kreisen Auerbach, Plauen, Schneeberg, Annaberg sowie auf einem Schacht in Oberschlema gefunden. Zum Teil handelt es sich auch um Flugblätter, die gegen den Genossen Walter Ulbricht hetzen.
Aus Weimar und Zella-Mehlis werden Gerüchte laut, im August würde ein neuer ausgedehnter Streik stattfinden.
In Brumby, Bezirk Magdeburg, hielt der Pfarrer Kruppke12 eine provokatorische Grabrede für den Provokateur Grobe,13 der sich in der Haftzelle erhängte.
In Molzahn, Kreis Gadebusch, Bezirk Schwerin, wurden in einen MTS-Dreschkasten zwei Glasflaschen geworfen. In der LPG Schwartow, Kreis Hagenow, Bezirk Schwerin, wurden an einem MTS-Dreschkasten die Treibriemen zerschnitten.
Potsdam berichtet: Die Weinbrennerei Jacobi GmbH in Stuttgart sendet Briefe an Handelsvertretungen in der DDR, in denen es unter anderem heißt: »Wenn sich unser Optimismus auch im Augenblick übertrieben anhört, so möchten wir doch hervorheben, dass der Osten für Jacobi-Erzeugnisse schon immer ein sehr gutes Absatzgebiet war, dass unser Name dort einen sehr guten Klang hat und wir am Tage X14 in der Lage sein möchten, sofort zu arbeiten und zu liefern.« Den Briefen liegen Fragebogen bei über Firmenbezeichnungen, Inhaber, Geburtsdatum, Adresse des Büros, Adresse der Wohnung, Telefon, Postscheck- und Bankkonto, Autonummer, Anzahl der Mitarbeiter, vertretene Häuser. Der Schreiber bittet ferner um Bekanntgabe von Adressen aus größeren Städten und einer Kundenaufstellung, unterteilt nach Groß- und Einzelhändlern und Gastwirten.