Tagesbericht
24. August 1953
Information Nr. 1048
Stimmung der Bevölkerung
a) Note der Sowjetregierung
Die Diskussion über die Note1 hält unvermindert an. In positiver Richtung mehren sich Beispiele von Produktionsverpflichtungen und Sonderschichten in Industrie und Landwirtschaft. Vereinzelt nur wird von organisierten Aufklärungseinsätzen berichtet (Kirow-Werk Leipzig). Bei den negativen Argumentationen treten vereinzelt neue Varianten auf. In einigen Betrieben im Bezirk Karl-Marx-Stadt traten in Arbeiterkurzversammlungen Provokateure auf, die den Anwesenden eine Diskussion über die Oktoberwahlen2 in der DDR aufzwangen; deren Argumente: Diese Wahlen seien keine »freien Wahlen« gewesen, man müsse schnellstens in der DDR »freie Wahlen« durchführen. Ähnlich wird aus Leipzig und Halle berichtet.
Die Beispiele mehren sich in allen Bezirken, wonach sich Arbeiter und Angestellte auf die SPD orientieren. Sie argumentieren im Zusammenhang mit den Bestrebungen der Sowjetunion, die Einheit Deutschlands herzustellen, die Einheit Deutschlands würde hergestellt werden, wenn die SPD bei den Wahlen in Westdeutschland siege.
Im Zusammenhang mit den Verhandlungen unserer Regierungsdelegation in Moskau3 taucht verschiedentlich die Frage auf, warum nicht westdeutsche Regierungsvertreter mit nach Moskau eingeladen worden wären. Berichte über die Aufnahme der Ergebnisse der Moskauer Verhandlungen liegen noch nicht vor.
In Leipzig wurde festgestellt, dass diejenigen Personen, die mit Interzonenpass in Westdeutschland waren, in der Mehrzahl negativ diskutieren. Die Argumente der negativen Diskussionen über die Note der Sowjetregierung sind hauptsächlich auf die Hetzparolen vom RIAS zurückzuführen.
b) Stimmung über den neuen Kurs
Unzufriedenheit unter der Bevölkerung löst die Tatsache aus, so berichtet Halle, dass westdeutsche Besucher die Lebensmittelkarte A erhalten.4
Auf einer Tagung des Bezirkstages in Magdeburg wurde u. a. festgestellt, dass die Bautätigkeit nach Verkündung des neuen Kurses in einigen Kreisen gut angelaufen sei, in anderen Kreisen aber durch Arbeitskräftemangel gehemmt wurde.
Aus dem Kreis Eilenburg, Bezirk Leipzig, wird ein Beispiel berichtet, wie reaktionäre Elemente Fehler der Verwaltung zu neuen Provokationen ausnutzen. Durch einen Fehler des Wohnungsamtes wurde eine Versammlung organisiert, die gegen Partei und Regierung hetzte. 50 Personen nahmen daran teil.
c) Stimmung in den Betrieben
Aus Potsdam wird berichtet, dass die Stimmung in den Betrieben zum überwiegenden Teil durch den schwachen Versammlungsbesuch und die sich häufenden Austrittserklärungen aus dem FDGB charakterisiert wird. So mussten im Schlepperwerk Brandenburg Versammlungen ausfallen, da von 300 bzw. 150 Arbeitern niemand erschien.
Ein anderes Beispiel wird aus dem LEW Hennigsdorf, Abt. Hausverwaltung, bekannt. Kollegen, die die FDGB-Beiträge nicht bezahlt haben, werden aufgefordert, dies nachzuholen, da man sonst mit ihnen nicht zusammenarbeiten will.
Auf den Baustellen des VEB »Heinrich Rau«5 kündigen laufend Arbeitskräfte. Grund: Sie wollen in Westberlin arbeiten, da dort bessere Verdienstmöglichkeiten versprochen werden. Die Baustelle ABUS hat dadurch bereits drei volle Maurerbrigaden verloren. Im VEB »Heinrich Rau« wird von der Belegschaft die Aufhebung der Fahrkartensperre6 gefordert mit der Begründung: Damit sie sonntags Verwandte oder Veranstaltungen in Berlin besuchen können.
Im Walzwerk Kirchmöser ist das Gerücht sehr stark verbreitet, dass der 17. und 18.6.1953 bezahlt werden. Von Arbeitern wird zum Ausdruck gebracht, dass es doch möglich ist, eine Forderung durchzusetzen.
Der überwiegende Teil der Belegschaft des VEB Sägewerkes Menz,7 Kreis Gransee, bringt zum Ausdruck, dass sie nicht mehr verdienen wollen, sie aber darauf bestehen, dass die Preise gesenkt werden.
Im Funkwerk Dabendorf tritt in Erscheinung, dass eine Anzahl von Arbeitern, die ihren Urlaub schon erhalten haben, unbezahlten Urlaub beantragen. Als Begründung geben sie an, ihre Verwandten mit Interzonenpass besuchen zu wollen. Bisher sind 25 Anträge mit vorgenanntem Grund gestellt worden. Diese Anträge können nicht genehmigt werden, da sonst die Planerfüllung gefährdet ist.
d) Stimmung in der Landwirtschaft
27 Mitglieder der LPG Demerthin, Kreis Kyritz, haben ihren Austritt erklärt. Nach wie vor tritt in den LPG der Mangel an Arbeitskräften in Erscheinung, der teilweise durch Kündigung von Arbeitskräften noch größer wird. Desgleichen ist bei den MTS der Ersatzteilmangel sehr groß. Dies wirkt sich besonders jetzt in der Ernte negativ aus, da Maschinen ausfallen.
In der MTS Dahmsdorf ist eine gewisse Missstimmung darüber zu verzeichnen, da die Selbstkosten um 110 % (40 000 DM) gesenkt wurden, die 30 % (laut Gesetzblatt) aber noch nicht dem Direktorenfonds der MTS überwiesen wurden.8
Aus Potsdam wird bekannt, dass von den Bauern das Soll nicht abgeliefert, sondern zurückgehalten wird. Zum Teil ist dies darauf zurückzuführen, dass die Parole verbreitet wird, dass ab 1.1.1954 das Ablieferungssoll wegfällt. Weiterhin wird zum Ausdruck gebracht, dass man erst die Kartoffelernte einbringen will und im Winter dreschen wird. (Dieser Vorschlag wurde vom RIAS gemacht.)
Im Kreisgebiet Luckenwalde versuchen Großbauern gegen die LPG zu hetzen. Es wird so argumentiert, dass man in einer Einzelwirtschaft nicht so viel arbeiten braucht und diese auch rentabler sei.
In Köritz, Kreis Kyritz, versuchten Großbauern mit allen Mitteln bei der Wahl des Vorstandes [der] VdgB (BHG) in diesen zu gelangen. Sie störten mit Zwischenrufen, z. B. »Demokratie geht von uns aus«, »Uns interessiert kein Statut vom Bauerntag«. Diese Elemente wurden von Mittelbauern unterstützt.
e) Aus bürgerlichen Parteien
In einer Parteiversammlung der NDPD in Seehausen, Kreis Prenzlau, Bezirk Neubrandenburg, wurde unter Anwesenheit eines Referenten vom Bezirksvorstand der NDPD die Diskussion von einigen Mitgliedern, darunter auch dem Vorsitzenden der dortigen Parteigruppe, zu einer üblen provokatorischen Hetze ausgenutzt. Sie richtete sich vor allem gegen die KVP, die Oder-Neiße-Grenze, die LPG, den FDGB, den neuen Kurs der Partei und die »Nationalzeitung«.9 Keiner der Anwesenden nahm kritisch zu diesen Provokationen Stellung.
Feindtätigkeit
Flugblattfunde werden nach wie vor aus fast allen Bezirken gemeldet: Im Kreis Zossen, Bezirk Potsdam, auf Wiesen verstreut Ballon mit Flugblättern mit der Aufschrift: »Einheit, Freiheit, Frieden«; in Güstrow, Bezirk Schwerin, übliche Hetzschriften in deutscher und russischer Sprache von Pkw verteilt; Informationsbriefe des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen,10 Hetzschriften des Ostbüros der SPD11 und der KgU12 in den Kreisen Hagenow, Ludwigslust, Parchim, Bützow, Bezirk Schwerin, Schleiz, Bezirk Gera, Strausberg, Bezirk Frankfurt/Oder, Templin, Bezirk Neubrandenburg.
In Schwanheide, Kreis Hagenow, Bezirk Schwerin, wurden mehrere Druschsätze durch Sandstreuen in Treibstoffbehälter und Lager beschädigt.
In Schwerin wurde unter dem Fußboden des Trockenbodens eines Hauses ein Paket mit zwei Karabinern 98 ohne Munition in gutem Zustand gefunden.
In Bremen wurde einer Person, die nach der DDR reisen wollte, ein Handzettel des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen mit Verhaltungsmaßregeln für Besucher in der DDR mit der Maßgabe ausgehändigt, ihn zu lesen und vor Überschreiten der Grenze zu vernichten. Darin wird empfohlen, Besucher der DDR sollen sich Organen der Staatsgewalt der DDR gegenüber sachlich, höflich aber bestimmt verhalten und bei Festnahmen in jedem Falle mündlich nach den Rechtsgrundlagen erkundigen.
In Barsikow, Kreis Kyritz, Bezirk Potsdam, wurde eine Scheune vorsätzlich in Brand gesteckt. 900 Ztr. Getreide und landwirtschaftliche Maschinen verbrannten. Schaden entstand im Werte von 20 000 DM.
Berichten aus Rathenow und Karl-Marx-Stadt zufolge wird das Gerücht verbreitet, in Leipzig sei Kinderlähmung ausgebrochen, niemand dürfe zur Messe nach Leipzig einreisen.
Im Walzwerk Kirchmöser wird das Gerücht verbreitet, der Vorsitzende des FDGB, Genosse Warnke, habe seine Funktion niedergelegt, weil viele Arbeiter keine Beiträge mehr bezahlen würden. Offensichtlich entstammt dieses Gerücht dem RIAS, der die Arbeiter aufforderte, keine Beiträge mehr zu zahlen, um dadurch den Bundesvorstand zum Abtreten zu bewegen.
Im Kreis Belzig, Bezirk Potsdam, kursiert das Gerücht, die Molkerei in Wiesenburg würde täglich fünf Butterkisten mit je 25 kg Inhalt aus eigener Produktion russisch beschriften; diese Butter würde dann als Importbutter aus der SU im Einzelhandel verkauft werden.
Im Kreis Großenhain, Bezirk Dresden, wird das Gerücht verbreitet, nach dem in Kürze mit einer Währungsreform in der DDR zu rechnen sei.13 Dieses Gerücht hat sich bereits in der Praxis negativ ausgewirkt: Bauern vertreten die Meinung, ihr Getreide liege demnach in eigener Scheune am sichersten. In Brockwitz musste ein Dreschsatz wieder abgeholt werden, weil keine Bauern zum Dreschen erschienen. Das Kursieren dieses Gerüchtes wird auch aus anderen Bezirken gemeldet.
Nachsatz
Im VEB Schering, [Berlin-]Adlershof, wo ca. 800 Frauen beschäftigt sind, wird laufend die Frage gestellt, ob vom Bundesvorstand des FDGB schon ein Bescheid über den monatlichen Haushaltstag14 für werktätige Frauen vorliegt. Es wird gefordert, die Entscheidungen schnellstens zu treffen.
Am 20.8.1953 fand im VEB EKM Apparate- und Kesselbau, Berlin, eine Belegschaftsversammlung statt, bei der es beinahe zur Arbeitsniederlegung gekommen war. Grund dafür ist die unterschiedliche Bezahlung der Schweißer. So erhält ein Teil 2,70 DM und ein anderer Teil 3,50 bis 3,70 DM pro Stunde. Bei Beendigung der Versammlung haben 35 Schweißer ihre Kündigung eingereicht.
Durch Aufklärung gelang es, diese 35 Personen von ihrem Vorhaben abzubringen. Reaktionäre Elemente versuchten die Stimmung auszunutzen und äußerten sich wie z. B. »freie Wahlen, Freilassung der politischen Gefangenen« usw. Der Staatssekretär im Ministerium für Schwermaschinenbau konnte über das Lohnverhältnis keinen Beschluss fassen und versprach diese Angelegenheit dem Ministerrat zu unterbreiten.