Tagesbericht
19. Dezember 1953
Informationsdienst Nr. 2051 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über die bevorstehende Viererkonferenz wird im Zusammenhang mit der Regierungserklärung vor der Volkskammer1 wieder etwas mehr diskutiert. Es hat den Anschein, dass dadurch manche Zweifler doch wieder mehr Hoffnung bekommen haben, denn die ungläubigen und misstrauischen Stimmen sind nicht mehr so stark aufgetreten.
Ein Arbeiter aus Weißwasser/Cottbus: »Es muss ja so sein, dass sich Deutsche an der Konferenz mit beteiligen, da es ja unsere eigene Angelegenheit betrifft. Es ist notwendig, dass die besten Vertreter delegiert werden, um klar den Standpunkt des deutschen Volkes zum Ausdruck zu bringen.«
Ein Arbeiter aus dem VEB SANAR Bischofswerda/Dresden: »Die Forderung, dass an der Außenministerkonferenz Vertreter aus Ost- und Westdeutschland teilnehmen sollen, ist vollauf berechtigt. Nur so kann über die Einheit Deutschlands und den Abschluss eines Friedensvertrages verhandelt werden.«
Ein Schlosser im VEB Jenapharm Jena/Gera: »Ich glaube nicht daran, dass die geplante Konferenz der Großmächte durchgeführt wird. Mir ist aber klar, dass unbedingt etwas herauskommen muss, wenn sie tatsächlich stattfinden sollten, denn einmal muss der Anfang zur Einheit Deutschlands gemacht werden.«
Ein Arbeiter aus dem Glaswerk Rietschen/Cottbus: »Eine Einigung kommt sowieso nicht zustande, daran ist nur die SU mit ihrem sturen System schuld.«
Die Regierungsverordnung wirkt in den Betrieben nachhaltig. Weitere Verpflichtungen und positive Stimmen wurden bekannt. Alle 24 Arbeiter des Walzwerkes im VEB Degufa Berlin beschlossen, ab 1.1.1954 ihre Norm um 5 % zu erhöhen. Im Ziegelwerk Mildenberg Gransee/Potsdam stellten elf Arbeiter den Antrag um Aufnahme in die Partei.
Einige Arbeiter aus dem VEB Keramisches Werk Hermsdorf/Gera: »Wer die Preis- und Lohnsteuersenkung und jetzt die neuen Maßnahmen der Regierung nicht als einen gewaltigen Schritt nach vorn für die Arbeiter anerkennt, ist und bleibt ein Gegner unserer Arbeiterregierung.«
Über den Gehlen-Prozess2 liegen nur ganz vereinzelt Stimmen vor. Sie sind positiv. Eine Arbeiterin aus Greiz/Gera: »Für solche Elemente gehört der Kopf herunter. Für uns als Werktätige steht die Aufgabe noch mehr als zuvor wachsamer zu sein und solche Elemente zu beseitigen.«
Ein parteiloser Schmied aus dem VEB Feuerungsbau Greiz/Gera: »Ich kümmere mich nur wenig um Politik, aber das finde ich nicht für richtig, was diese Funkgeräte3 da sollen. Das führt doch bestimmt zu nichts Gutem. Wir können doch froh sein, dass es bei uns Arbeit gibt. Ich habe zwei Kriege mitgemacht und will von einem dritten nichts wissen. Was Berija anbelangt,4 so weiß ich auch nicht, was ich sagen soll, wenn man bedenkt, dass es in Russland noch solche Menschen gibt, wo Russland doch ein Arbeiterstaat ist.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Einheit Weißwasser/Cottbus: »Man soll am besten den Verbrechern den Kopf abhacken. Wir Arbeiter sehen, dass die Gruppe Gehlen unsere Entwicklung und den Aufbau mit allen Mitteln verhindern will und Unruhe unter die Bevölkerung bringt.«
An einer Solidaritätsaktion für Westdeutsche und Westberliner Arbeitslose beteiligen sich 500 Werktätige aus der SAG Bleichert Leipzig. In diesem Rahmen soll eine Geld- und Lebensmittelsammlung durchgeführt werden.
Akuter Wassermangel gefährdet die Betriebssicherheit im Sprengstoffwerk Schönebeck/Elbe/Magdeburg. Die Betriebsleitung beantragte 10 200 DM Investitionsmittel für die unbedingt notwendige Anlage von sechs neuen Brunnen. Das Staatssekretariat für Chemie lehnte den Antrag ab.
Prämien: Im Ernst-Thälmann-Werk Magdeburg sind die Arbeiter ungehalten darüber, weil sie erst durch die Zeitung erfuhren, dass ihr Betrieb 50 000 DM Prämie erhalten hat. Es stellte sich heraus, dass die Prämie bereits verteilt worden ist, ohne dass darüber etwas bekannt gemacht wurde.
Handel und Versorgung
Die Versorgung im Allgemeinen hat sich etwas gebessert, ebenfalls die Belieferung mit Weihnachtszutaten. Das wirkt sich positiv auf die Bevölkerung aus und man bringt dabei zum Ausdruck, dass die diesjährige Belieferung des Weihnachtsmarktes reichhaltiger ist, als in den Vorjahren.
Mangel an Lebensmitteln besteht in Groß-Berlin bei Eiern und im Bezirk Halle bei Fischwaren. Bettwäsche und Emaillewaren fehlen im Bezirk Cottbus. Stau an Vieh besteht in den Schlachthöfen von Meißen, Löbau und Niesky/Dresden. Dadurch entsteht eine große Gewichtsabnahme bei dem Vieh. Stau von Schuhen, besonders bei Arbeits- und Hausschuhen, wurde in der Konsumgenossenschaft Rathenow/Potsdam festgestellt. Verderb von Vitalade wurde aus dem Lager der DHZ Lebensmittel und der HO Greiz/Gera bekannt, wo insgesamt 600 kg für den menschlichen Genuss unbrauchbar wurden.
Landwirtschaft
Über die bevorstehende Viererkonferenz wird noch gering diskutiert. Die Argumente sind die gleichen wie bisher.
Einwohner aus Hildburghausen/Suhl: »Ich begrüße das Zustandekommen der Außenministerkonferenz in Berlin. Sie ist ein großer Schritt zur Einheit unseres Vaterlandes. Hoffentlich gelingt es Adenauer nicht, diese Konferenz zu sprengen.«
Landarbeiter aus Folbern/Dresden: »Von Politik verstehe ich nicht viel, meine Meinung ist aber, dass bei einem einigen Deutschland der Lebensstandard noch schneller steigen würde.«
Schwierigkeiten in der Ablieferung wurden aus den Bezirken Suhl und Leipzig bekannt. Während ein Teil durch wirtschaftliche Schwierigkeiten das Soll nicht erfüllt, unterlässt ein anderer Teil bewusst die Ablieferung.
Werktätiger Bauer aus Salzungen/Suhl: »Ich habe mein Soll immer 100%ig erfüllt, aber dieses Jahr ist es mir nicht möglich, ohne die Aussaat für das Jahr 1954 zu gefährden. Ich erkläre mich bereit, dafür einen Ausgleich in Fleisch und Milch zu bringen, aber die Abteilung Erfassung beim Rat des Kreises hat hierüber noch keine Verfügung und besteht auf Kartoffelablieferung.«
Bauer aus Flößberg/Leipzig: »Ich warte mit der Ablieferung noch bis Ende Dezember. Vielleicht kommt vonseiten der Regierung noch eine Änderung, dass man einen Teil des Solls erlässt.«
Tätigkeit großbäuerlicher Elemente bei den VdgB-Wahlen zeigt sich darin, indem sie in die Vorstände zu gelangen versuchen. Verschiedentlich machen sie werktätige Bauern zu ihren Fürsprechern.
Werktätiger Bauer (SED) aus Kuhbier/Potsdam: »Die Großbauern haben mir nichts getan, ich weiß nicht, warum sie nicht mit in die Vorstände sollen.«
Im Kreis Pritzwalk/Potsdam müssen 25 VdgB-Wahlen wiederholt werden, da in die Vorstände zu wenig fortschrittliche Kräfte hineingewählt wurden.
Eine westdeutsche Bauerndelegation, die sich im Bezirk Magdeburg aufhält und im »Braunschweiger Hof« in Burg übernachtete, wurde dort vom Wirt und zwei Großbauern mit hetzerischen Reden gegen die DDR angesprochen. Man äußerte, dass die Bauern in der DDR sehr schlecht leben würden und auch in der Ablieferung gedrückt werden. Was in den Zeitungen steht, sei alles Lüge. Die westdeutschen Bauern wiesen diese provokatorischen Reden zurück und erklärten, dass sie sich selbst vom Fortschritt und der großzügigen Unterstützung durch die Regierung überzeugt hätten.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Verstärkte Ausgabe von Personalbescheinigungen für Interzonenreisen wurde auch aus dem Bezirk Magdeburg gemeldet. Die Ausgabe hat sich in letzter Zeit bedeutend erhöht. So wurden z. B. in Oschersleben am 16.12.1953 284 Stück ausgegeben und am 18.12.1953 500 Stück. Der überwiegende Teil dieser Antragsteller sind Hausfrauen und Rentner.
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter geringer in den Bezirken Rostock, Schwerin, Frankfurt/Oder, Cottbus, stärker in den Bezirken Potsdam und Suhl. Im Kreis Neuhaus/Suhl in den letzten Tagen 96 000 Flugblätter der NTS.5 Über Bernau ist am 16.12.1953 ein Flugzeug beim Abwerfen von Flugblättern gesichtet worden.
Die Verschickung von Lebensmittelpaketen aus Westdeutschland hat im Bezirk Erfurt zugenommen. Oft werden diese Pakete abgelehnt.
Ein Konstrukteur aus dem EMW-Werk Eisenach, früheres Mitglied der NSDAP, meldete den Empfang eines solchen Paketes bei der Parteileitung und sagte, dass er es mit dem Vermerk »Das gibt es bei uns in der DDR selbst zu kaufen« zurückschicken will.
In einer Toilette des LEW Hennigsdorf wurde folgende Hetzparole angeschmiert: »Alles auf zum Streik am 17. März 1954.«
In den Abendstunden des 17.12.1953 wurden im Gasthaus von Mandelshagen/Rostock FDJ-ler nach einer Jugendversammlung von Gästen des Lokals geschlagen.
Vermutlich organisierte Feindtätigkeit
Die HO-Lebensmittel in Freyburg/Unstrut/Halle erhielt vom VEB Schweineschmalzkonservenfabrik Gera vier Kisten mit Schweineschmalzkonserven. Die Gläser mit einem Füllgewicht von 280 g enthielten nur eine dünne Schicht Schweineschmalz, darunter waren aufgeweichte Brötchen.
In Altranft/Freienwalde/Frankfurt brannte am 17.12.1953 der Viehstall eines Kleinbauern mit 17 Schweinen nieder. Der Bauer hatte sein Ablieferungssoll bereits 100%ig erfüllt und besitzt viele Feinde im Dorf. Es wird daher vorsätzliche Brandstiftung vermutet.
Stimmen aus Westberlin
Ausschnitt aus einer Dienstbesprechung auf einem Revier der Stupo:6 Die Dienstbesprechung begann mit der Frage des Reviervorstehers: »Meine Herren, was ist am 4.1.54 in Westberlin los?«7 Einige Wachtmeister sagten sofort: »Die vier Außenminister kommen zusammen.« Der Reviervorsteher winkte mit einer Handbewegung ab und sagte: »Uninteressant.« Ein Wachtmeister wies darauf hin, dass Adenauer auch dabei sein werde. Der Reviervorsteher meinte: »Nicht wichtig.« Dann begann er: »Meine Herren! Ich habe hier soeben eine Kommandoanordnung erhalten und die Aufgabe, Sie zu belehren. Die Russen kommen nach Westberlin. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie sich schon jetzt für diese Zeit bereithalten, da die Polizei während der Anwesenheit der Russen in voller Alarmstufe stehen wird. Es besteht der Verdacht, dass, wenn die hier in Westberlin sind, plötzlich unsere Stützpunkte überrennen und dann ist es geschehen. Laut alliierter Abmachung müssen wir sie reinlassen. Dagegen können wir nichts tun. Die Tagung wird wohl im ehemaligen Kontrollratsgebäude stattfinden.8 Weiter, wer von Ihnen bei Absperrungen oder anderen Anlässen mit den Russen zusammenkommt, dass mir da keine Gespräche geführt werden oder es gar zu Verbrüderungen kommt.« Nach dieser Erklärung herrschte bei allen Anwesenden betretendes Schweigen.
Einschätzung der Situation
Der neue Kurs unserer Partei und Regierung wird weiterhin in zahlreichen Betrieben aktiv unterstützt. Die Stimmung zur Viermächtekonferenz wird hoffnungsvoller, mehr als bisher erwartet man eine erfolgreiche Lösung der deutschen Frage. Die skeptischen Meinungen gehen zurück. Die verbesserte Versorgungslage findet im Allgemeinen die Anerkennung der Bevölkerung, wobei jedoch die Lage unterschiedlich ist und in einigen Kreisen und Bezirken weiterbestehende Mängel die Stimmung der Bevölkerung beeinflussen.
Anlage vom 19.12.1953 zum Informationsdienst Nr. 2051
[Stimmen zu den Beschuldigungen gegen Lawrenti Berija]
Zum Fall Berija9 sind erst wenige Stimmen bekannt geworden. Darin kommt zum Ausdruck, dass Berija als Volksverräter eine sehr hohe Strafe erhalten muss. Teilweise wird die Schlussfolgerung gezogen, dass auch bei uns solche Verräter noch am Werk sind und deshalb die Wachsamkeit erhöht werden muss. Bei einem geringen Teil erheben sich Zweifel, wieso Berija solange seinen Verrat treiben konnte. Bisher ist nur eine negative Stimme bekannt.
Betriebsschutzangehöriger des VEB Greika/Langenwetzendorf/Gera: »Berija wollte die SU wieder kapitalistisch machen. Ich glaube jeder von uns weiß, was Kapitalismus bedeutet, darum soll der Sowjetstaat diesem Berija und seinen Anhängern die schwerste Strafe geben.«
Arbeiter im VEB Riosana/Oelsnitz/Karl-Marx-Stadt: »Ich bin mit verschiedenen Maßnahmen der SU noch nicht einverstanden gewesen. Aber trotzdem erkenne ich voll und ganz an, dass man Berija unschädlich gemacht hat und er seiner gerechten Strafe entgegengeht. Von mir aus kann man ihn ruhig einen Kopf kürzer machen, denn wir haben ja selbst bei uns in der DDR gesehen, welche Rolle Zaisser10 und Herrnstadt11 gespielt haben.«
BGL-Vorsitzender aus einem VEB in Potsdam: »So wie in der SU gibt es auch bei uns noch Gruppen, denen man ihr Handwerk schnellstens legen sollte, damit es ihnen so geht wie Berija.«
Ingenieur aus dem Braunkohlenwerk Holzweißig/Halle: »Es gibt Menschen, die es verstehen sich jahrelang bewusst zu tarnen. Am allerwenigsten habe ich geglaubt, dass ein Mensch wie Berija ein Verräter seines eigenen Volkes werden konnte, da er doch ein Mitarbeiter des großen Stalin war.«
Arbeiterin aus der Filmfabrik Agfa Wolfen/Halle: »Ich bin der Meinung, dass für solche Verbrecher wie Berija die Strafe nicht groß genug sein kann. Ich wundere mich, dass Berija nicht schon früher entlarvt wurde und in solche Funktionen wie die eines Ministers des Innern eingesetzt werden konnte.«
Angestellte aus Marienberg/Karl-Marx-Stadt: »Warum deckte man dieses Verhalten so spät auf? Muss hier nicht ein großer Kreis Personen informiert gewesen sein? Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieser Mann in seiner Stellung eine solch verräterische Rolle spielen konnte. Ich bin gespannt auf die Verhandlungen.«
Angestellter beim Rat des Kreises Marienberg/Karl-Marx-Stadt: »Es hat mich überrascht, in welchem Umfange die Anklage erhoben wird. Wie lange mögen diese Verräter schon ihre Tätigkeit ausgeübt haben. Wie soll ich mir erklären, dass diese Ermittlungen nach dem Aufdecken der Ärzteverhandlung und des Ablebens des Genossen Stalin erfolgten.«
Mittelbauer aus Jahnsdorf/Karl-Marx-Stadt: »Na, da haben sie wieder einmal in Russland einen Dummen gesucht und gefunden. Es muss doch immer etwas los sein und es gibt doch immer welche, die nicht so wollen.«