Tagesbericht
31. August 1953
Information Nr. 1055
Die Lage in den Industrie- und Verkehrsbetrieben
In den Betrieben steht im Vordergrund weiterhin das Kommuniqué.1 Der größte Teil der Diskussionen ist positiv und man hofft auf eine baldige Besserung des Lebensstandards. Es zeigt sich, dass dort, wo die Betriebsparteiorganisationen gut gearbeitet haben, auch ein größerer Teil der Belegschaftsangehörigen zum Kommuniqué positiv Stellung nimmt, wie z. B. im Kirow-Werk, Bezirk Leipzig.
Die positive Einstellung von Belegschaftsangehörigen kommt auch in einer Reihe von Verpflichtungen zum Ausdruck, wie z. B. im Thermometer-Werk, Bezirk Suhl, wo man ein Dankschreiben verfasste und eine Abteilung ihre Norm freiwillig um 20 % erhöhte. Gleichfalls verpflichtete sich die Jugendbrigade »Prager« von der Wismut AG, dass sie geschlossen in die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft eintreten wird und drei Parteilose am Parteilehrjahr teilnehmen werden.
Bei einem Teil von Arbeitern tritt noch eine abwartende Haltung an den Tag, indem sie zum Ausdruck bringen, dass man erst sehen will, ob sich der Lebensstandard bessert. In Versammlungen gehen sie überhaupt nicht auf politische Fragen ein. So erklärte der Genosse [Name 1] vom Bw Magdeburg-Buckau: »Es ist schwer mit den Arbeitern zu diskutieren, die Löhne liegen bei uns bei den meisten um 250 bis 300 DM, die lassen sich auf keine Diskussion ein und wollen erst besser leben.« Die gleiche abwartende Haltung herrscht im Elektromotorenwerk (2 200 Belegschaftsangehörige) und im Kupfer- und Blechwalzwerk Ilsenburg (1 600 Belegschaftsangehörige) sowie im VEB Braunkohlenwerk Unseburg (820 Belegschaftsangehörige), Bezirk Magdeburg.
Das Gleiche trat auch bei einer Versammlung im Thomas-Müntzer-Schacht in Sangerhausen, Bezirk Halle, auf, wo trotz der guten Ausführungen des Referenten in der Diskussion nur wirtschaftliche Fragen angesprochen wurden, wie z. B. die schlechte Hausbrandversorgung, unterschiedliche Bezahlung der Hauer und Lehrhauer usw.
Dies zeigt sich auch im Kalischacht »Thomas Müntzer« im Kreis Worbis, Bezirk Erfurt, wo an einer Belegschaftsversammlung von 1 575 Belegschaftsangehörigen nur ca. 100 Personen erschienen. In den Betrieben der Bezirke Karl-Marx-Stadt und Dresden wird, besonders unter den Wismut-Kumpel, die Frage betreffs Rückgabe der SAG-Betriebe diskutiert. Dabei werden folgende Fragen gestellt: »Wird die Wismut AG auch an die Regierung der DDR übergeben und wird dabei eine materielle Verschlechterung der Kumpel eintreten?« Die Kumpel sind der Meinung, dass sie dann lieber in einer SAG arbeiten würden. »Wird das Sperrgebiet aufgehoben werden?«
In den Buna-Werken, Bezirk Halle, ist die Intelligenz mit der Verhaftung des Ingenieurs Beyer2 nicht einverstanden. Sie äußern, dass B. nicht als Hetzer bekannt sei und man der Meinung ist, dass nur etwas gesucht wurde, um ihn los zu werden.
Bei einer Großkundgebung in Anklam, Bezirk Neubrandenburg, machte ein Kollege der Städtischen Werke den BGL-Vorsitzenden Lenz aufmerksam, als dieser Fahnen und Transparente mitnehmen wollte: »Hinter der roten Fahne marschiert sowieso niemand.« Dies wurde auch vom Betriebsleiter Below bekräftigt.
Unter den Umsiedlern wird in Betrieben vielfach geäußert, dass sie die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkennen und wieder nach Hause wollen. Dies äußerten z. B. die Kollegen [Name 2] und [Name 3] aus dem VEB Stern-Radio Sonneberg, Bezirk Suhl.
In den Leipziger Verkehrsbetrieben sind Gerüchte im Umlauf, dass man während der Leipziger Messe streiken will. Folgende Forderungen wurden in letzter Zeit lebhaft diskutiert:
- 1.
Wiedereinführung der Familienfahrkarten,
- 2.
18 Tage Urlaub,
- 3.
Zahlung der Sonntagszuschläge,
- 4.
Einstufung in eine höhere Lebensmittelkartengruppe.
Von den Kollegen der Reichsbahn werden die letzten Schritte der Regierung der SU und DDR zum größten Teil positiv aufgenommen. Ein Teil verhält sich noch abwartend.
Im RAW Eberswalde steht noch die Paketaktion3 im Vordergrund. Dazu äußert sich der Angestellte der Politabteilung Schröder, Mitglied der SED: »Man müsste Sonderzüge nach Berlin einsetzen, da würde die Reichsbahn mehr verdienen und drüben würde es ihnen auch übel werden.«
Die Lage in der Landwirtschaft
In der Landwirtschaft ist zu verzeichnen, dass durch die Note der SU und das deutsch-sowjetische Kommuniqué positive Diskussionen ausgelöst werden. Positiv diskutiert wird besonders dort, wo Verbesserungen der Lebenslage, hervorgerufen durch den neuen Kurs der Partei und Regierung, sichtbar in Erscheinung treten. Die Mitglieder der LPG Kliest,4 Bezirk Potsdam, verpflichteten sich, 10 Ztr. Getreide für das koreanische Volk zur Verfügung zu stellen.
Negative Diskussionen treten besonders über Sollablieferung und örtliche Belange in Erscheinung, die zum Teil von reaktionären Elementen gefördert werden. In der Gemeinde Mehßow, Bezirk Cottbus, lehnten drei Bauern die Restablieferung des Getreidesolls mit der Begründung ab, dies hat bis Dezember Zeit und bis dorthin ist es anders.
Im Kreis Calau, Bezirk Cottbus, liegt die Getreideablieferung bei 50 %. In fast allen Gemeinden wird der Nachtdrusch abgelehnt. In Kabel, Bezirk Cottbus, wurde anschließend an eine Bauernversammlung eine Selbstverpflichtung vorgelegt (verlustlose Einbringung der Ernte). Diese wurde von fünf Personen bei 24 Anwesenden unterschrieben. Gleiches tritt in Zerkwitz, Bezirk Cottbus, in Erscheinung, wo von 15 Anwesenden zehn unterschrieben.
Schwierigkeiten in der Sollablieferung bestehen auch in der Gemeinde Falkenhagen, Bezirk Potsdam. Der VdgB-Vorsitzende erklärt, dass die Bauern sich dieses Jahr einig sind und nicht wieder Kartoffeln kaufen, um ihr Soll zu erfüllen.
In Teichwolframsdorf, Bezirk Gera, hat sich die LPG aufgelöst. Von den Mitgliedern wird zum Ausdruck gebracht, dass sie mehr arbeiten mussten und weniger geerntet haben als früher. Aus der LPG Marienthal, Bezirk Schwerin, wurde ein Mitglied ausgeschlossen, weil dieses andere Mitglieder aufgefordert hatte, aus der LPG auszutreten.
In der Gemeinde Neuholland, Bezirk Potsdam, stehen noch 125 ha Getreide auf den Feldern. Grund dafür ist, dass für die großen herrenlosen Flächen zu wenige Arbeitskräfte vorhanden sind.
In fast allen Kreisen des Bezirkes Potsdam können von der VEAB die auf Soll angelieferten Waren (Rotkohl, Gurken usw.) nicht abgesetzt werden und sind so dem Verderb ausgesetzt.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Die Note der SU und das sowjetisch-deutsche Kommuniqué werden vom überwiegenden Teil der Bevölkerung begrüßt. Veränderungen in der Diskussion sind nicht zu verzeichnen. Nach wie vor wird von einem im Verhältnis geringen Teil der Bevölkerung negativ über die Oder-Neiße-Grenze, Kriegsgefangene oder »Warum wird die Wismut sowjetisch-deutsche AG?« diskutiert sowie Zweifel geäußert, dass durch Übernahme der SAG-Betriebe Arbeitslosigkeit durch Rohstoffmangel und mangelnde Aufträge entsteht. Diese Diskussionen haben zum größten Teil ihren Ursprung in feindlichen Rundfunksendungen.
Negative Diskussionen und Zweifel am neuen Kurs der Partei und Regierung werden in allen Bezirken durch die Stromabschaltungen mangelnde Kohlenversorgung, mangelnde Versorgung mit Arbeitskleidung und Warenstreuung auf dem Lande, die zum Teil noch mangelhaft ist, hervorgerufen. Allgemein wird eine Preissenkung in der HO erwartet.
Von Angestellten des Rates des Bezirkes Schwerin (Handel und Versorgung) wird darüber diskutiert, dass Honecker,5 der in Schwerin sprach, über die Versorgung nicht unterrichtet war. »Stundenlang haben wir über die niedrigen Kontrollziffern im 4. Quartal gesprochen; eine Aufstockung von Butter ist unmöglich. Wenn sich das erst auswirkt, werden bestimmt wieder einige Fensterscheiben in Trümmer aufgehen.«
Aus dem Ministerium für Handel und Versorgung wird bekannt, dass die Zusammenarbeit zwischen Minister6 und Staatssekretär7 äußerst mangelhaft ist. Der Minister gibt andere Anweisungen als der Staatssekretär, wodurch im Handel Verwirrung und Verzögerung in der Durchführung von notwendigen Maßnahmen eintreten. Dies wirkt sich wiederum auf die Angestellten sowie auf die Bevölkerung aus.
Zur Paketprovokation in Westberlin wird bekannt, dass negative Diskussionen in der Bevölkerung über die Fahrkartensperre8 erneut in Erscheinung treten. So wird z. B. aus dem Kreisgebiet Liebenwerda bekannt, dass vorwiegend Diskussionen geführt werden, wie man nach Westberlin kommen kann, um die Bettelpakete abzuholen. Wie festgestellt werden konnte, fährt man mit dem Zug bis in die Randgebiete von Berlin und von dort mit dem Fahrrad weiter, außerdem werden alle zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel dazu benutzt.
Die Ausgabestellen in Westberlin für Bewohner der DDR finden auch bei der zweiten Aktion9 regen Zuspruch.
Ereignisse von besonderer Bedeutung
Leipziger Messe: Von Geschäftsleuten aus Westdeutschland und der DDR wird, soweit bekannt, positiv über die diesjährige Messe gesprochen. Sie sind erstaunt über die gute Qualität der Ausstellungsstücke. In Westdeutschland, so äußert man sich, ist zwar Material vorhanden, aber es fehlt an Aufträgen. Seit einigen Tagen wurde festgestellt, dass in der Leipziger Innenstadt verstärkt Bettler auftreten, welche von Ausländern Zigaretten betteln mit dem Bemerken, man soll sich nicht irreführen lassen, denn was sie sehen, sei nur Fassade.
Schweinepest: In verschiedenen Bezirken tritt die Schweinepest meist in VEG auf. So besteht im Bezirk Cottbus ein Schwerpunkt bei Schweinepest, wovon hauptsächlich die Kreise Jessen, Herzberg und Lübben befallen sind. Seit dem 15.8.1953 wurden in VEG und Einzelwirtschaften dieser Kreise bisher insgesamt 5 017 Stück Schweine notgeschlachtet bzw. sind verendet.
Organisierte Feindtätigkeit
Der Gegner verbreitet in verstärktem Maße Flugblätter im Gebiet der DDR. Es handelt sich vorwiegend um Flugblätter der NTS.10 Der Inhalt ist bei allen gleich und enthält Hetze gegen die SU und DDR. In der Zeit vom 27. bis 28.8.1953 wurden in den Kreisen Oelsnitz, Aue, Auerbach, Marienberg und Zwickau, Bezirk Karl-Marx-Stadt, 1 600 Hetzschriften der NTS durch Ballon abgeworfen.
Am 28.8.1953 wurde im Reparaturwerk Neubrandenburg das Hauptkabel für die zweite Werkhalle von unbekannten Personen beschädigt (Schaden 100 Arbeitsstunden Ausfall). Am 27.8.1953 wurden in der MTS Streufdorf, Bezirk Suhl, in den Tank eines Traktors Dreck und Steine geworfen, sodass die Maschinen 3½ Stunden ausfiel.
Vermutlich organisierte Feindtätigkeit
Am 23.8.1953 brannte in Klosterwalde, Kreis Templin, Bezirk Neubrandenburg, eine Scheune nieder. Vermutlich Brandstiftung. Zu bemerken ist, dass dies der vierte Scheunenbrand in der Erntezeit in diesem Kreis ist.
In Frankfurt/Oder wird das Gerücht verbreitet, dass die Kartoffeln wieder rationiert werden und jede Person für Wintereinkellerung nur 175 Pfund erhält. Aufgrund dieses Gerüchts werden größere Mengen Kartoffeln gekauft.
In Grabow, Bezirk Schwerin, wird das Gerücht verbreitet, dass alle Arbeiter, die auf Urlaub nach Westdeutschland fahren, aus dem VEB entlassen werden.
Einschätzung der Situation
Im Kreis Bernau, Bezirk Frankfurt, wurden am 28.8.1953 900 Hetzschriften der NTS verstreut aufgefunden.
Am 29.8.1953 warf man über der Gemeinde Rietz, Bezirk Frankfurt, 2 000 Flugblätter der NTS durch Ballon ab. Flugblätter des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen11 und der KgU12 wurden im Bezirk Leipzig und Potsdam vorbereitet. Flugblätter des Gewerkschaftlichen Aktionskomitees13 wurden mit der Aufschrift »Freiheit SPD« im Bezirk Cottbus durch Ballon abgeworfen.
Die Note der SU14 und das sowjetisch-deutsche Kommuniqué stehen weiterhin im Mittelpunkt der Diskussionen. Im Verhältnis der zustimmenden Erklärungen zu den ablehnenden Diskussionen ist keine Veränderung zu bemerken. Dies zeigt, dass trotz verstärkter Aufklärung auch der feindliche Einfluss gewachsen ist. Die Feindargumente sind die gleichen wie bisher.
Bemerkenswert ist, dass in einer Reihe Betriebe, wo Belegschaften einen geringen Lohn haben, die wirtschaftlichen Interessen und Forderungen im Vordergrund der Diskussion stehen und sehr wenig Interesse für die großen Bemühungen der SU und der Regierung der DDR für eine Friedenspolitik und die Einheit Deutschlands aufgebracht wird.
Der rege Zuspruch, den die Paketprovokation findet, die Schwierigkeiten in der Sollablieferung in der Landwirtschaft, die vielfachen Zweifel an der Durchführung des neuen Kurses und die Stimmungen in den SAG-Betrieben zeigen nicht nur Mängel in unserer Versorgung und ungenügende Aufklärung der Bevölkerung, sondern auch eine jetzt besonders verstärkte Feindtätigkeit in der gesamten DDR, was auch bei den verstärkten Flugblattaktionen, die hauptsächlich gegen die SU gerichtet sind, zum Ausdruck kommt.
Im Augenblick ist die Leipziger Messe ein Schwerpunkt in der Flugblattverbreitung und Verbreitung von Gerüchten.