Tagesbericht
11. Dezember 1953
Informationsdienst Nr. 2044 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die bevorstehende Viermächtekonferenz1 ist nach wie vor Gegenstand vieler Diskussionen und Gespräche. Deren Ausmaß und auch das Verhältnis der positiven und negativen Stimmen zueinander hat [sic!] sich kaum verändert. Also neben den überwiegend positiven und hoffnungsvollen Stimmen, immer noch verbreitetes Misstrauen, das sich in den Worten ausdrückt: »Die werden sich doch nicht einig.«
Der technische Direktor des VEB Schering [Berlin-]Adlershof sagte. »Vor einem Jahr ungefähr stand ich den Vorschlägen der SU noch skeptisch gegenüber. Aber heute sehe ich die Entwicklung in Westdeutschland und bin überzeugt, dass die Schaffung der Europaarmee aggressiven Zielen dient. Deshalb unterstütze ich den Vorschlag der SU, denn ich will keinen Krieg mehr.«
Ein Wismut-Kumpel: »Das geht sowieso wieder schief. Die werden sich nie einig. Man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass es einmal ein einheitliches Deutschland geben wird.«
Bei Aufklärungseinsätzen zeigten sich in den Kreisen Altenburg und Schmölln starke sozialdemokratische Tendenzen, die z. B. in der oft geäußerten Meinung zum Ausdruck kommen: »Unsere Presse enthält zuviel Hetzartikel gegen Adenauer und gegen die SPD. Deshalb kann keine Einigung zwischen Ost und West zustande kommen.«
Die neue Verordnung der Regierung2 wurde in einem Teil der Betriebe durch Gemeinschaftsempfang bekannt. Dort selbst herrschte allgemein eine freudige Stimmung. Konkrete Meinungsäußerungen wurden nur ganz vereinzelt bekannt. Hier einige Beispiele:
Ein Arbeiter aus dem EHW Thale: »An den Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht3 haben die Westmächte zu kauen, da ihnen wieder einmal bewiesen wurde, dass unsere Regierung nicht nur um die Sorge um den Menschen bemüht ist, um diese in den gesundheitsgefährdeten Betrieben vor Schaden zu schützen, sondern auch aktiv mit allen Kräften bemüht ist, den Frieden zu erhalten.«
Ein parteiloser BGL-Vorsitzender in einer Privatfirma in Zittau/Dresden: »Die neuen Maßnahmen, die heute durch Walter Ulbricht bekannt gegeben wurden, begrüßen wir, vor allem die Vergünstigungen, die die Arbeiter in den Privatbetrieben erhalten sollen. Ich glaube aber nicht daran, dass die Privatbetriebe den gleichen Lohn wie die VEB bezahlen werden. Ich will es erst mal in der Praxis sehen.«
Waggonmangel mit zuweilen ernsten Folgen wird immer wieder gemeldet. Im VEB Holzindustrie Bad Kösen/Halle muss nächste Woche die Produktion eingestellt werden, wenn keine Waggons zum Abtransport der Waren gestellt werden. Im Kaliwerk Heiligenroda/Suhl, wo ebenfalls chronischer Waggonmangel herrscht, diskutierten die Kumpel: »Von uns verlangt man immer Leistungssteigerung, und wir tun das ja auch, aber auf der anderen Seite werden unsere Produkte nicht fortgeschafft und es kümmert sich auch niemand darum.«
Über schlechte Stimmung in den Reichsbahnbetrieben sind wieder Beispiele bekannt geworden. Auf dem Bahnhof Lübbenau/Cottbus herrschte eine schlechte und gedrückte Stimmung, weil zwei Kollegen, Bettelpaketabholer,4 entlassen wurden. Die Eisenbahner schimpfen auf ihren Dienstvorsteher und die BGL. Auf dem Bahnhof Engelsdorf/Leipzig sind annähernd 90 % der Belegschaft mit Freifahrtscheinen nach Berlin gefahren, um einzukaufen. Vermutlich hat ein größerer Teil in Westberlin eingekauft.
Über Prämienzahlungen an die technische Intelligenz entstand große Unzufriedenheit bei den Arbeitern im Porzellanwerk Neuhaus-Schierschnitz5/Suhl. Wir berichteten bereits gestern darüber und teilen heute ergänzend dazu mit, dass sich heftige Diskussionen entwickelten, die in zwei Abteilungen zu zeitweiliger Arbeitsniederlegung führten. Von den dem Betrieb zur Verfügung gestellten Prämien sollten 80 % an die technische Intelligenz und 20 % an die übrige Belegschaft verteilt werden. Die Arbeiter diskutieren folgendermaßen: »Wir haben nichts dagegen, wenn Dr. Rausch6 und andere Intelligenzler des Werkes für ihre gute Arbeit prämiert werden, wir sind aber grundsätzlich dagegen, wenn solche wie Dr. Nitzschmann7 und Dr. Singer,8 die beide jede gesellschaftliche Arbeit ablehnen, prämiert werden. Denn sie lehnten auch ab, eine Stellungnahme zur neuen Note der SU zu geben mit den Worten, man wisse nie, wie es kommt.«
Handel und Versorgung
Mängel an Lebensmitteln bestehen in den Bezirken Halle, Magdeburg und Cottbus bei Margarine Sorte I und II, in den Bezirken Rostock, Cottbus, Dresden und Karl-Marx-Stadt bei Weihnachtszutaten und Südfrüchten.
Mangel an Textilien besteht in den Bezirken Leipzig, Gera und Frankfurt/Oder bei Winterkleidung, in den Bezirken Frankfurt/Oder bei Arbeitskleidung und Cottbus bei Kinder- und Bettwäsche.
Ursachen der schlechten Belieferung der Verkaufsstellen im Bezirk Cottbus sind die ungenügenden Transportmittelbereitstellungen. So steht der DHZ Lebensmittel für [den] Kreis Forst für 42 HO- und Konsumverkaufsstellen und 64 Einzelhändler ein Lkw (0,5 t) zur Verfügung.
Landwirtschaft
Schwierigkeiten in der Ablieferung und Erfassung werden aus den Bezirken Rostock und Potsdam gemeldet, indem sich Bauern weigern abzuliefern, da ihnen sonst für nächstes Jahr kein Saatgut zur Verfügung stehe bzw. die notwendige Futtergrundlage für ihr Vieh fehle.
Angestellter vom Rat des Kreises Neuruppin/Potsdam: »Schon in diesem Jahre waren große Flächen Ackerland unbestellt, weil keine Saatkartoffeln vorhanden waren. Im nächsten Jahr wird es nicht anders werden, da man aus den Fehlern nichts gelernt hat und den Bauern die letzten Kartoffeln herausholt.«
Neubauer aus Groß Nienhagen/Rostock: »Ich kann mein Kartoffelsoll nicht erfüllen, da ich eine schlechte Ernte hatte. Nachdem ich abgeliefert habe, was ich konnte, ist man noch zweimal gekommen und hat jedes Mal neu erfasst. Jetzt habe ich gerade noch so viel, dass ich knapp mit meiner Familien leben kann und meine vier Schweine noch acht Tage füttern kann. Ich bin gezwungen, meine Schweine sofort abzuliefern. Was ich nächstes Jahr abliefern soll weiß ich nicht, die Herren haben es ja nicht anders haben wollen.«
Weiterhin bestehen teilweise in den Bezirken, Gera und Frankfurt/Oder Schwierigkeiten, die erfassten Produkte abzutransportieren, weil nicht genügend Waggons gestellt werden. So wird aus Kreis Angermünde bekannt, dass durch Fehlen von Waggons die erfassten Kartoffeln nicht abgefahren werden können, das Gleiche trifft auch für das erfasste Schlachtvieh zu. Im Kreis Lobenstein/Gera konnten bis jetzt bereits 90 Schweine nicht abgefahren werden, da der Schlachthof Gera diese nicht angenommen hat.
Bei den VdgB-Wahlen versuchen Großbauern, sich Einfluss zu verschaffen, indem sie die Mittelbauern auf ihre Seite zu ziehen versuchen. So nahmen in einer VdgB-Wahlversammlung in Grünberg/Karl-Marx-Stadt zwei Großbauern gegen die Bezeichnung »Großbauer« Stellung und erklärten, dass sie auch als werktätige Bauern anerkannt werden wollen. Anwesende Klein- und Mittelbauern setzten sich für diese ein.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Über die bevorstehende Viermächtekonferenz wird unter der Bevölkerung noch im gleichen Umfange wie bisher diskutiert. Während die Mehrzahl der Stimmen positiv dazu Stellung nimmt, äußert ein Teil der Bevölkerung Zweifel über ein positives Ergebnis dieser Konferenz.
Eine Hausfrau aus Malchin/Neubrandenburg: »Ich kann die Note der SU nur begrüßen, denn wenn es wirklich zu einer Verständigung zwischen den vier Großmächten kommt, so werden wir auch bald ein einiges Deutschland haben.«
Großbauer aus Bischofswerda/Dresden: »Ich bin gespannt auf die bevorstehende Außenministerkonferenz in Berlin, was sie uns bringen wird und ob es den Russen gelingen wird, den Frieden herbeizuführen.«
Die durchgeführten Agitationseinsätze über die Note der SU und die bevorstehende Viermächtekonferenz zeigten gute Ergebnisse. Es war jedoch auch eine politische Uninteressiertheit unter einem Teil der Bevölkerung, besonders dem Mittelstand und der ländlichen Bevölkerung, zu verzeichnen. So wurde bei dem Aufklärungseinsatz in Leipzig festgestellt, dass vor allem in bürgerlichen Kreisen den Aufklärern nicht geöffnet bzw. Diskussionen abgelehnt wurden.
Ein Großbauer aus Rüssen/Leipzig äußerte gegenüber Aufklärern: »Den Bauern in Westdeutschland geht es viel besser als uns hier, die haben wenigstens eine freie Wirtschaft. Eine Zeitung lese ich überhaupt nicht, da steht ja nur Schwindel drin.«
In einigen Fällen nahmen Funktionäre von Partei und Verwaltung eine negative Stellung zu den Agitationseinsätzen ein. So äußerte der Sekretär der Ortsparteiorganisation Bremsdorf/Frankfurt/Oder: »Die Aufklärung hat keinen Zweck, da die Bauern über das hohe Ablieferungssoll verärgert sind. Diese Angelegenheit muss erst geklärt werden. Der neue Kurs hilft auch nur den Großbauern. Erst muss ich einmal meine Kartoffeln sortieren, es hat ja auch noch ein paar Tage Zeit, um mit der Bevölkerung darüber zu diskutieren.«
Über die Weihnachtszuwendungen wird unter den Angestellten einiger Verwaltungen und staatlichen Institutionen, die keine Zuwendungen erhalten, weiterhin negativ diskutiert.9 Die BGL des Rates der Stadt Calbe10/Magdeburg hat an den Bundesvorstand des FDGB bezüglich der Zahlung der Weihnachtszuwendungen eine Anfrage gerichtet, ob es möglich ist, dass Kollegen, die keine Zuwendung erhalten, 10 Pf. Beitragsmarken kleben können, bis der Betrag des Weihnachtsgeldes herausgeholt ist.
Angestellter des Rates des Kreises Meiningen/Suhl: »Wir müssen genauso unsere Pflicht erfüllen, wie die Angestellten und Verkäuferinnen in HO und Konsum. Wir sind der Meinung, dass diese Zuwendungen allen werktätigen Menschen zustehen.«
Über die Räumung von Wohnungen für sowjetische Familien wird aus Jena/Gera bekannt, dass es zwischen der Wohnungskommission und den betroffenen Personen zu Auseinandersetzungen gekommen ist. So wurde die Wohnungskommission in Jena-Löbstedt, Paul-Weber-Straße, von ca. 30 Personen, welche die Wohnungen räumen sollten, mit folgenden Worten empfangen: »Russenknechte« oder »Ihr seid schlimmer wie die Russen«. Der Leiter der Kommission wurde dabei angespuckt.
Einwohnerin aus der Paul-Weber-Straße in Jena: »Ich verbrenne am liebsten meine Möbel, sie sollen mir einen Umsiedlerpass geben und da mache ich nach Westdeutschland.«
Friseurmeister Jena, [Straße]: »Wenn ich auch nicht ausziehen brauche, so ziehe ich doch mit euch aus und erkläre mich solidarisch.«
Ereignisse von besonderer Bedeutung
Der deutsche Friedenstag in Weimar wurde am 10.12.1953, 10.30 Uhr, eröffnet. Von ca. 1 500 gemeldeten Delegierten sind ca. 1 000 Personen eingetroffen. Vor der Eröffnung fand eine Gedenkstunde in der Herder-Kirche sowie eine Besichtigung des ehemaligen KZ Buchenwald statt. Dies hinterließ einen starken Eindruck auf die Delegierten.11
Die Diskussion im Anschluss an das Referat des Prof. Dr. W. Friedrich12 war in der Mehrzahl positiv. Ein Pfarrer aus Westdeutschland brachte zum Ausdruck, dass viele westdeutsche Friedenskämpfer der Meinung seien, dass ein großer Teil Menschen im Osten Deutschlands noch unfrei leben würde. Hierbei führte er die Republikflüchtigen aus der DDR an. Über die Kirche äußerte er, dass durch den neuen Kurs in der DDR die Bedrängung der Kirche und deren Organisationen ein Ende gefunden habe. Weiterhin sprach er die Bitte aus, dass die Regierung der DDR sämtliche inhaftierten Personen, soweit es sich nicht um wirkliche Verbrecher und Saboteure handle, freilassen möge. Ebenfalls soll die DDR den Friedensverbänden Westdeutschlands freie Entfaltungsmöglichkeit in der DDR gewähren.
Ähnlich waren die Ausführungen von W. Elfes,13 der zum Ausdruck brachte, dass dieser Pfarrer offen und frei gesprochen habe und viele Pfarrer aus der DDR sich aus begreiflichen Gründen nicht getraut hätten, ein offenes Wort zu sprechen. Er forderte sie auf, diesen Pfarrer als Beispiel zu nehmen.
Der Stellvertreter des Ministerpräsidenten, Otto Nuschke,14 brachte einen guten Diskussionsbeitrag und gab diesem westdeutschen Pfarrer zu verstehen, dass er sich in seinen Informationen nicht auf RIAS und Westpresse stützen soll, sondern auf amtliche Bekanntmachungen der DDR. Im Allgemeinen war die Stimmung der Delegierten gut.
In den Verpflegungsstellen der westdeutschen Teilnehmer kamen am 10.12.1953 Kinder im schulpflichtigen Alter betteln. Aufgrund dessen entstand bei einem Teil der westdeutschen Delegierten der Eindruck, dass die Diskussionsreden der Delegierten aus der DDR über die Lebensweise der Bevölkerung nicht der Wahrheit entsprechen.
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter geringer in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden, Halle, Potsdam, Rostock, stärker in Gera, dort allein 16 000 Stück. Überwiegend NTS15 und KgU.16
Im Bezirk Dresden erhielten einige Einwohner Lebensmittelpakete aus Westdeutschland zugesandt, die Absender waren ihnen nicht bekannt. Im Kreis Quedlinburg wurden wieder mehrere gefälschte Kohlenscheine verschickt.
In letzter Zeit wurden im Bezirk Schwerin des Öfteren gefälschte Schreiben an VEB, MTS, Verwaltungen versandt, in denen zu einer Volkskorrespondententagung der Redaktion »Neues Deutschland« eingeladen wurde.
Auf der Baustelle des VEB Wohnungsbau in Berlin-Lichtenberg wurde durch Herausschlagen eines Bolzens die Bremsvorrichtung einer Hexe (Aufzug) unbrauchbar gemacht.
In der Nacht vom 8. zum 9.12 1953 wurden in Sangerhausen/Halle 14 große Fensterscheiben einer HO-Gaststätte zertrümmert. In der gleichen Nacht wurde der Bürgermeister von Ditfurt, [Kreis] Quedlinburg, [Bezirk] Halle, überfallen und mit einem Schlagring im Gesicht verletzt.
Einschätzung der Situation
Die Stimmung zur neuen Verordnung des Ministerrates ist noch nicht bekannt, sonst ist die Lage noch im Wesentlichen unverändert.