Tagesbericht
15. Dezember 1953
Informationsdienst Nr. 2047 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die neue Regierungsverordnung1 steht weiterhin im Mittelpunkt des Interesses. Der größte Teil der Arbeiter begrüßt die Verordnung. In einigen Betrieben wurden zu Ehren der Ministerratssitzung Sonderschichten durchgeführt. Gering sind die ausgesprochenen negativen und die abwartenden und skeptischen Meinungen. Dagegen tauchen Unklarheiten häufiger auf. In diesen Fällen verlangen die Arbeiter von den Gewerkschaftsleitungen Auskunft über weitere Einzelheiten und über die Durchführung der Verordnung.
Im Walter-Schneider-Schacht des Mansfeld-Kombinates führten acht Brigaden Hochleistungsschichten durch. Mehrere Kumpel stellten den Antrag, als Kandidat in die SED aufgenommen zu werden.
Ein Arbeiter vom VEB IKA Annaberg/Karl-Marx-Stadt: »Ich begrüße die Verordnung und sehe darin einen weiteren Fortschritt. Gerade damit beweisen wir den Arbeitern in Westdeutschland, welche Rolle die Gewerkschaften bei uns in der DDR spielen, und zeigen ihnen, dass der Weg des DGB unbedingt falsch ist.«
Arbeiter aus dem VEB Schering Berlin-Adlershof begrüßen am meisten die Maßnahmen über den Arbeitsschutz, weil in ihrem Werk diesbezüglich noch Missstände herrschen.
Einige Arbeiter in den Berliner Metallhütten und Halbzeugwerken Berlin-Niederschöneweide sagten: »Na, wenn es wirklich so ist, wäre es ganz schön, aber da muss man erst mal abwarten bis die ganzen Bestimmungen dafür herausgegeben sind.«
Ein Arbeiter aus der Zuckerfabrik Salzwedel/Magdeburg: »Wir Arbeiter begrüßen besonders die Bildung von Wohnungsbaugenossenschaften. Jedoch darf es nicht so werden, wie vor 1933. Da wurde so etwas auch schon durchgeführt, aber die Bauten waren finanziell so hoch veranlagt, dass sie für die Arbeiter nicht erschwinglich waren. Wenn man sieht, dass diese Sache für den Arbeiter ist, werden sich bestimmt viele solche Genossenschaften anschließen. Die Regierung muss nur schnell die Sache ausführlich bekannt geben.«
Im VEB Schuhfabrik Heidenau/Dresden unterhielten sich zwei Arbeiter über die beabsichtigte Arbeitszeitverkürzung bei besonders gesundheitsgefährdeten Berufen. Sie meinten, wenn diese Regelung eine Lohnverminderung mit sich bringe, könnten sie nicht damit einverstanden sein.
Über die Viermächtekonferenz2 sind wieder nur wenige Stimmen bekannt geworden, weil die Diskussionen meist von der Regierungsverordnung beherrscht werden. In diesen wenigen Stimmen spiegelt sich noch immer das Misstrauen, ob die Konferenz zum Erfolg führen werde, denn die Arbeiter erwarten von ihr die Lösung der deutschen Frage.
Ein Angestellter vom VEB Faserplatten Schönheide, [Kreis] Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Vorschläge der SU schaffen wieder einen Lichtblick für die Verwirklichung der Einheit Deutschlands. Mein Wunsch ist, sie mögen zusammenkommen und sich einigen.«
Ein Wismut-Kumpel aus Annaberg/Karl-Marx-Stadt: »Die SU und unsere Regierung versuchen alles, um die Einheit Deutschlands auf friedlichem Wege herbeizuführen, aber die Westmächte werden sich schon wieder herausreden, und da kommt bei der ganzen Konferenz genau nichts heraus.«
Transportraummangel: Der VEB Elektra Naumburg/Halle hat seine Produktion an Bügeleisen einschränken müssen, weil kein Verkehrsbetrieb in der Lage ist, in Meerane ca. 10 t Bügeleisenplatten abzuholen.
Das Sperrgebiet der Wismut AG ist zzt. Gegenstand heftiger Diskussionen unter den Kumpels. Sie sagen, die Interzonenpässe seien weggefallen, aber die Sperrzone sei geblieben.3 Gerade jetzt vor Weihnachten, wo viele Kumpel Besuch von ihren Angehörigen empfangen möchten, mache sich dies besonders lästig bemerkbar.
Handel und Versorgung
Mangel an Lebensmitteln besteht in den Bezirken Magdeburg, Halle und Cottbus bei Margarine Sorte I und II, im Bezirk Cottbus bei Bockwürsten (durch Mangel an Därmen), im Bezirk Gera bei Backhefe (Herstellerwerk produziert infolge Maschinenschadens nicht). Mangel an Textilien und Industriewaren wird berichtet aus den Bezirken Magdeburg und Suhl in Winterkleidung, Bettwäsche, Emaillegeschirr und Elektrogeräte. Fehlen von Waschmitteln, Schulheften und Durchschlagpapier zeigt sich im Bezirk Halle.
Landwirtschaft
Bei den VdgB(BHG)-Wahlen versuchen die Großbauern Einfluss zu erhalten. Teilweise werden sie auch unterstützt von Werktätigen und Mittelbauern. In der Gemeinde Großhennersdorf/Dresden wurde der vorgeschlagene VdgB-Vorsitzende, ein werktätiger Bauer, beschuldigt, er habe veranlasst, dass ein Großbauer aus Neuendorf seinen Hof verlassen hat. Auf diese Weise versuchten die Großbauern sich Einfluss in der VdgB zu verschaffen.
Im Bezirk Frankfurt/Oder wurden in die Vorstände der VdgB insgesamt 14 Großbauern gewählt. Unter den parteilosen Vorstandsmitgliedern, welche ca. 60 % ausmachen, ist ein großer Teil Altbauern (5–10 ha), ehemalige Offiziere und Umsiedler darunter. Mitglieder der SED sind ca. 20 %. Die übrigen 20 % setzen sich aus Mitgliedern der CDU, LDP, NDPD und DBD zusammen.
Verschiedentlich mangelt es auch an einer guten Unterstützung und Anleitung durch die örtlichen Parteileitungen. So lehnte der Sekretär für Landwirtschaft in der SED-Kreisleitung Strausberg/Frankfurt/Oder es ab, der VdgB eine Anleitung zu geben. Dies begründete er damit, da er sonst keine Zeit mehr für seine anderen Arbeiten hat.
In der Gemeinde Weichensdorf/Frankfurt/Oder wurden bei fünf Vorstandsmitgliedern vier Großbauern gewählt. Der Beauftragte der Kreisvereinigung der VdgB, welcher Mitglied der SED ist und für die Wahl verantwortlich war, unternahm nichts, um eine bessere Zusammensetzung herbeizuführen.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Über die bevorstehende Viermächtekonferenz wird unter der übrigen Bevölkerung sowie Landbevölkerung wie bisher mit den gleichen Argumenten diskutiert. Während ein großer Teil einen weiteren Schritt zur Einheit Deutschlands darin sieht, steht ein anderer Teil dieser Konferenz abwartend gegenüber.
Einwohner aus Lindenhorst/Neubrandenburg: »Auf die letzte Note der SU müssen die Westmächte zur Verhandlung kommen. Adenauer vertritt dieselben Ansichten wie Hitler, und die Menschen müssten doch nun endlich aus dem letzten Krieg gelernt haben und sich alle für die Einheit Deutschlands einsetzen. Hoffentlich kommen wir einen Schritt vorwärts auf dieser Konferenz.«
Bauer aus Oberoppurg/Gera: »Hoffentlich wird nicht wieder wie seinerzeit in Paris über die Tagesordnung monatelang verhandelt, denn wir brauchen die Einheit Deutschlands.«
Zur Regierungsverordnung wird von der übrigen Bevölkerung und Landbevölkerung in gleichem Maße wie bisher in der Mehrzahl positiv Stellung genommen.
Einwohner aus Annarode/Halle: »Solche Maßnahmen wie die Bauerleichterungen in der Regierungsverordnung sind vor allem etwas für die Umsiedler. Wären diese Sachen schon früher gekommen, so würden viele Umsiedler noch in der DDR sein.«
Arzt (Lungenspezialist) vom Tbc-Heim Wertlau/Magdeburg äußerte zum Ministerratsbeschluss: »Wenn ich nicht wüsste, dass es unsere Regierung ehrlich meint und diese bestimmt nicht daran schuld ist, dass unsere Probleme so schlecht gelöst werden, so wäre ich schon längst abgehauen.«
Aufenthaltsgenehmigungen für Interzonenreisende fehlen jetzt auch im Kreis Pößneck/Gera. Dies führte zu heftigen Diskussionen unter der Bevölkerung. Feindliche Elemente nützen diese Situation für ihre Hetze aus, indem sie die Erklärung über die Verbesserung im Interzonenverkehr als Lüge hinstellen.4
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter geringer in den Bezirken Frankfurt/Oder, Cottbus, Rostock, Dresden, stärker in Berlin, Karl-Marx-Stadt, Gera, im Kreis Saalfeld/Gera allein 20 0005 Stück. Überwiegend NTS,6 KgU7 und SPD.8
Die Westberliner Presse vom 14.12.1953 meldet, dass Besucher aus der DDR, die sich im Dezember in Westdeutschland aufhalten, bei den Fürsorgeämtern ihres Aufenthaltsortes gegen Vorzeigen der Personalbescheinigung DM 20,00 aus amerikanischen Mitteln geschenkt erhalten können.9
»Der Tag« vom 12. Dezember schreibt über die Einrichtung von zwei Wärmestuben im Bezirk Kreuzberg an der Sektorengrenze für Bewohner des demokratischen Sektors und der DDR, in denen es »Lektüre« und Eintopfessen für 30 Pfennig Ost gebe.10
Überfälle: In Neustrelitz wurden am 10.12.1953 nach einer Tanzveranstaltung drei Instrukteure und zwei Sekretärinnen der SED-Bezirksleitung von fünf Boxern der BSG Lokomotive Neustrelitz tätlich angegriffen. Einer von diesen Personen war vorher im Tanzsaal von zwei der Genossen aufgefordert worden, sein amerikanisches Tanzen zu unterlassen. Am 12.12.1953 wurde in Brinckmansdorf11/Rostock ein Parteiinstrukteur von drei Banditen niedergeschlagen.
Dem Bürgermeister von Grimmen/Rostock wurde in der Nacht vom 12. zum 13.12.1953 ein Ziegelstein durchs Fenster in die Wohnung geworfen.
Durch Vergiftung verendeten im VEG Cambs/Schwerin an einem Tag 34 Schweine.
Stimmen aus Westberlin
Ein SPD-Funktionär, Geschäftsführer beim Konsum im Bezirk Reinickendorf, äußerte sich: »Uns alte Funktionäre, die 1945 alles wieder aufgebaut haben, wirft man heute aus den Stellungen und setzt dafür CDU-Leute ein. Die SPD ist gar keine Arbeiterpartei mehr, sondern eine echt bürgerliche oder, wenn man ganz klar sprechen darf, eine amerikahörige Partei. Die SPD hat so viel gesündigt. Wenn wir damals 1933 mit den Kommunisten zusammengegangen wären, wäre ein Hitler nicht an die Macht gekommen und wir bräuchten heute nicht wieder an einen Krieg denken oder davor zittern.« Er erklärte weiter, dass er gern mit SED-Genossen sprechen möchte. Auch andere SPD-Mitglieder seien über das schändliche Spiel der rechten SPD-Führung empört und es besteht vielfach der Wunsch, sich auszusprechen und der SED anzuschließen.
Einschätzung der Situation
Durch die neue Regierungsverordnung erhöhte sich das Vertrauen zur Regierung und der neue Kurs wird in den Betrieben noch aktiver unterstützt. Die Diskussionen über die Viermächtekonferenz sind weiterhin zum Teil hoffnungsvoll und zum Teil skeptisch. Großbauern und andere feindliche Elemente versuchen zzt. sich durch die VdgB-Wahlen in einflussreiche Positionen zu bringen.
Anlage vom 15.12.1953 zum Informationsdienst Nr. 2047
Bericht über die Äußerungen von Republikflüchtigen über ihre Lage in Westdeutschland und Westberlin
Die Mehrzahl der zzt. bekannten Äußerungen von Republikflüchtigen beinhaltet, dass es ihnen im Westen nicht gefällt und ein Teil deswegen in die DDR zurückkehren möchte. Bei einer Rückkehr befürchten sie jedoch, beeinflusst durch die Westpresse, dass man sie hier wegen ihrer Republikflucht bestrafen würde. Sie sind von den Verhältnissen in Westdeutschland enttäuscht. Zwar gibt es dort viel zu kaufen, jedoch nur für diejenigen, die Geld haben. Und das sind Wenige.
Ein Geschäftsmann aus München erklärt Folgendes: »Es ist mir sehr viel daran gelegen, dass ich wieder in die DDR zurückkehren darf. Ich habe mich vom Glanz des Westens blenden lassen, da ich mich zu wenig um die ganze Entwicklung gekümmert habe.«
Ein anderer Geschäftsmann aus Bremen äußerte sich ähnlich und fügte noch hinzu: »Am liebsten würde ich wieder zurückkommen, verbrochen habe ich ja nichts. Aber was machen die dann mit mir?«
Ein Jugendlicher aus Wuppertal äußerte sich: »Hier muss man die Zähne fest aufeinanderbeißen, sonst geht man unweigerlich vor die Hunde. So ›golden‹ ist der Westen gar nicht, wie man sich den vorstellt. Ja, wenn man Geld hat, kann man hier prima leben, aber das Geld fehlt.«
Ein Arbeitsloser aus Frankfurt/Main: »Ich bedaure es heute sehr, dass ich aus der DDR geflüchtet bin, denn das Elend, was uns hier geboten wird, übersteigt alle Vorstellungen. Niemand unterstützt uns. Bei allen Regierungsstellen stoßen wir auf Ablehnung.«
Eine Hausfrau aus Westberlin äußerte sich: »Als wir hierherkamen, versprach man, uns sofort nach Westdeutschland zu bringen. Aber man hat uns betrogen. Wir sind immer noch im Lager. Hier wird man bald verrückt: kein Geld, keine Arbeit. Hätten wir das vorher gewusst, dann wäre alles anders gewesen. Was macht man mit den Leuten aus dem Westen?«
Ein Teil Republikflüchtiger möchte nicht mehr in die DDR zurück. Sie haben sich in Westdeutschland eingelebt und werden von der Bundesrepublik unterstützt. Eine Angestellte erklärte Folgendes: »Mir gefällt es hier ausgezeichnet. Ich habe eine schöne Arbeit bekommen beim Amerikaner. Sie sind alle sehr nett zu mir und schenken mir Kaugummi und Coca-Cola. Jeden Abend lädt mich einer zum Essen ein. Ich habe mich hier sehr schnell eingelebt.«
Eine Hausfrau aus Regensburg sagte: »Wir leben ohne Sorgen in den Tag hinein. Eines steht fest, wir leben hier besser als drüben. Denn so viel konnten wir uns drüben nicht kaufen. Jeden Tag kaufe ich drei Pfund Brot, das wir natürlich nicht alles brauchen. Ich bin gespannt, was wir Weihnachten erhalten. Hier ist nicht viel los mit den Spenden.«
Ein Bauer aus Frankenhausen äußerte sich: »Bisher haben wir uns schon ganz gut eingelebt. Jedenfalls können wir hier ruhig schlafen und brauchen uns nicht Tag und Nacht bespitzeln lassen.«