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Tagesbericht

16. November 1953
Informationsdienst Nr. 2022 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Über die Weihnachtszuwendungen1 wird in der Mehrzahl der Betriebe nach wie vor freudige Zustimmung zum Ausdruck gebracht. Negative Stimmen sind nur ganz vereinzelt. Ein Angestellter des Kunstfaserwerkes »Wilhelm Pieck« in Schwarza/Gera: »Ich finde das sehr in Ordnung, dass man den Arbeitern in den VEB in diesem Jahr eine Weihnachtsgratifikation zahlt. Damit ist der Beweis erbracht, dass unser volkseigene Industrie gesund ist, sonst könnten wir uns das nicht leisten.«

Ein Rangierer vom Bahnhof Frankfurt/Oder: »Wenn man sieht, dass die Regierung an uns denkt, werden wir auch ein ganz anderes Leben entwickeln, und wir haben doch viel mehr Lust und Freude an unserer Arbeit.«

Im Kranbau Köthen bestand die Tendenz, langsamer zu arbeiten, um weniger als 600 DM2 zu verdienen und dadurch in den Genuss der Weihnachtszuwendung zu kommen. Als der Betriebsleiter bekannt gab, dass bei der Berechnung nicht nur der letzte Monat zugrunde gelegt werde, wurde gleich wieder normal gearbeitet.

Die Wettbewerbsbewegung hat sich vor allem im Bezirk Cottbus verbreitert. Fünf Schwerpunktabteilungen des VEM Firmag Finsterwalde setzten sich in einem Wettbewerb das Ziel, die Stromentnahme in den Spitzenzeiten in zwei Monaten um 30 % zu senken. Die Weberinnen der Flachsröste und Weberei Vetschau, Kreis Calau, verpflichteten sich, nach dem Beispiel der Weberin Frida Hockauf bis zum 31.12.1953 5 000 qm Gewebe zusätzlich zu produzieren.

Durch bürokratische Maßnahmen von Betriebsgewerkschaftsleitungen und auch Betriebsparteiorganisationen werden leider noch zu oft Unzufriedenheit und schlechte Arbeitsmoral erzeugt. Auf dem Personenbahnhof Frankfurt/Oder hat die BGL angeordnet, dass die Kaltverpflegung, die dem Zugpersonal zusteht, nur noch nach regelmäßiger Beitragszahlung ausgegeben werden darf. Außerdem wird den Eisenbahnern mit einer schlechteren Arbeitsstelle gedroht, wenn sie nicht ihren FDGB-Beitrag bezahlen.

Materialmangel wird nach wie vor aus nicht wenigen Betrieben gemeldet. Im VEB MEWA Lauter/Karl-Marx-Stadt fehlen für einen Regierungsauftrag von 23 000 Stahlhelmen das benötigte Stahlblech vom Walzwerk Thale und die erforderlichen Werkzeuge aus dem Schnitt- und Stanzenwerk Schwarzenberg/Karl-Marx-Stadt.

Im RFT Funkwerk Erfurt hat der Materialmangel, der bisher nur in den Fertigungsabteilungen herrschte, auch auf die Entwicklungsabteilungen übergegriffen. Dadurch sind bereits mehrere Spezialisten republikflüchtig geworden. Wenn die Materialzuteilung nicht besser wird, verlassen wahrscheinlich noch mehrere Spezialisten ihren Arbeitsplatz und gehen nach dem Westen; dort soll auf die Entwicklung und Forschung der betreffenden Geräte großer Wert gelegt werden, so wird uns berichtet. Es handelt sich hierbei vor allem um Transistoren und andere Geräte. Dagegen lagern im Kirow-Werk Leipzig Überplanbestände an Material im Werte von 4 112 000 DM. Davon kann das Werk im Jahre 1954 höchstens für 2 660 000 DM verwenden.

Über die Entlarvung von Agenten und Spionen3 werden in den Schwerpunktbetrieben des Bezirkes Leipzig weiterhin zahlreiche positive Meinungen laut. Im Kombinat »Otto Grotewohl« in Böhlen wurde in einer Abteilung, in der ein Agent von unseren Organen verhaftet wurde, eine Kurzversammlung durchgeführt, in der alle Arbeiter tiefe Verachtung und Abscheu dem Agenten gegenüber zum Ausdruck brachten.

Über die Ausweisaktion der VP4 wird in Leipzig vereinzelt negativ diskutiert. Ein Arbeiter aus dem Elektrostahlgusswerk Leipzig meinte: »Die Hunde haben die Kassen wieder leer, und jetzt wollen sie sie wieder mit der Ausweisaktion füllen.«

Ein Gerücht, das im SAG-Betrieb EHW Thale/Halle kursiert, besagt, dass ab 1.1.1954 nach Überführung des Betriebes in Volkseigentum Arbeiter entlassen werden sollen und zwar diejenigen, die älter als 60 Jahre sind, und die, die zuletzt im Betrieb eingestellt wurden.

Handel und Versorgung

Schwierigkeiten in der Kartoffelversorgung werden aus den Bezirken Cottbus, Halle, Gera und Suhl bekannt, die zu einer sehr negativen Stimmung der betroffenen Personen führen. In Bad Salzungen/Suhl fehlen noch immer 2 000 t Kartoffeln.

Fehlen von Lebensmitteln zeigt sich im Bezirk Halle in einigen Kreisen bei Fischwaren, im Bezirk Frankfurt/Oder bei Arbeitskleidung, Kinderwäsche, echten Gewürzen. Einige HO-Gaststätten müssen [bis zu]5 30% Fleischkonserven mit ausgeben[, weil Frischfleisch fehlt].6 Im Bezirk Karl-Marx-Stadt besteht große Nachfrage bei Rosinen, Mandeln und Nüssen.

Gefahr des Verderbens von Pralinen aus der ČSR besteht in der DHZ in Parchim/Schwerin. Hier lagern 4 648 kg Pralinen, die zum Teil schon jetzt nicht mehr im Handel zu verwerten sind. Es wurden bereits mehrere Stellen davon unterrichtet, ohne dass eine Änderung eintrat. Sollte nichts Entsprechendes geschehen, so verderben Pralinen im Werte 30 000 DM. Verantwortlich ist der DIA.

Landwirtschaft

Zum Monat der deutsch-sowjetischen Freundschaft werden verschiedentlich Produktionsverpflichtungen übernommen. Von den bekannten Stimmen sind nur vereinzelte negativ. In der MTS Malschwitz/Dresden verpflichteten sich 16 Traktoristen, 1 050 ha zu bestellen, um ihren Kampfplan zu erfüllen. In der MTS Jänkendorf/Dresden verpflichtete sich ein Traktorist, sein Tagessoll mit 130 % zu erfüllen und bat gleichzeitig um Aufnahme als Kandidat in die SED.

Die Genossenschaftsbauern der LPG »Rotes Banner« im Streufdorf/Suhl wollen bis zum 21.12.1953 für den freien Aufkauf u. a. 1 000 Eier, 5 000 kg Milch zur Verfügung stellen. Weiterhin wollen sie ihr Rindfleischsoll für das 1. Quartal 1954 bis zum 1.1.1954 vorfristig abliefern. Ein Bauer aus Wellnitz/Frankfurt/Oder verpflichtete sich 20 Ztr. Kartoffeln, 150 kg Fleisch und 500 kg Milch über das Soll zu liefern.

In der MTS Jüterbog/Potsdam diskutiert man, dass zwar die Reparationen ab Januar 1954 wegfallen, jedoch seit vier bis fünf Monaten die Ersatzteile aus der SU mit höherer Akzise berechnet [werden], um so auch zu dem Geld zu kommen.

In der Ablieferung und im Abtransport der Hackfruchternte bestehen in den Bezirken Neubrandenburg, Cottbus, Halle und Erfurt noch teilweise Schwierigkeiten. Als Begründung wird [sic!] im Allgemeinen zu hohe Sollveranlagung und fehlende Futtergrundlage angegeben. Vereinzelt wird von Bauern die Forderung nach »freier Wirtschaft« gestellt. Im Abtransport, besonders bei Zuckerrüben, zeigt sich teilweise noch immer ein Mangel an Waggons.

Bauer aus Roßlau/Halle: »Wir können unser Soll nicht erfüllen, da es zu hoch festgelegt ist.« Bauer aus Streetz/Halle: »Wenn wir unser Soll erfüllen, haben wir keine Futtergrundlage für unser Vieh.«

Ortsparteisekretär aus Leibsch/Cottbus: »Die DDR ist ein Beamtenstaat, man sollte die ›freie Wirtschaft‹ einführen und nicht so viel Beamte herumlaufen lassen, dann würde es auch nicht vorkommen, dass, wenn man sich zwei Paar Socken kaufen will, man einen Ztr. Roggen verkaufen muss.«

LPG-Bauer aus Schwarzensee/Neubrandenburg: »Wir kommen in unserer Arbeit überhaupt nicht vorwärts, da der Abtransport der Zuckerrüben infolge Mangel von Waggons dauernd stockt.«

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Über die Weihnachtszuwendungen wird von den Personen, die nicht diese Vergünstigungen erhalten in Verwaltungen und staatlichen Einrichtungen, negativ gesprochen. Teilweise kommt es zu Drohungen mit Nichtzahlung der FDGB-Beiträge bzw. mit Streik.

Angestellter der Kreissparkasse Erfurt: »Wir müssen wieder einmal murren oder streiken, dass alle in den Besitz der Weihnachtszuwendungen kommen.«

Angestellter der Deutschen Notenbank Erfurt: »Wenn wir keine Weihnachtszuwendungen bekommen, zahlen wir einfach acht Monate keine FDGB-Beiträge.«

Gartenarbeiter der Stadtverwaltung Wernigerode/Magdeburg: »Wenn wir keine Weihnachtszuwendungen bekommen, werden wir streiken.«

Angestellter im Kreisgericht Oschersleben: »Wenn man uns keine Weihnachtszulage gibt, werden wir keine Beiträge für den FDGB zahlen.«

Über die Rückkehr des ehemaligen Generalfeldmarschalls Paulus7 wird im Bezirk Dresden weiterhin, zum Teil in stärkerem Maße, negativ diskutiert. Arbeiter des VEB Lausitzer Leder- und Kofferfabrik8 Neukirch/Dresden: »Alle diese Offiziere müsste man vergiften, um nicht neues Elend über die Menschheit zu bringen.«

Arbeiter des Sachsenwerkes Radeberg/Dresden: »Ich hatte Besuch aus dem Westen und dieser erzählte mir, dass Paulus in Korea sowie in China auf der Seite der demokratischen Truppen im Generalstab verankert war. Ich denke, Paulus wird in die Leitung der KVP eingesetzt werden und einen höheren Offiziersrang einnehmen.«

In den Universitäten der DDR wird der gesellschaftswissenschaftliche Unterricht nicht oder nur schlecht besucht. Teilweise versucht man, diesen auch zu stören. Ebenfalls ist die Parteiarbeit auf den Universitäten noch schwach und von einer FDJ-Arbeit ist nicht viel zu verspüren. Teilweise werden von Studenten Forderungen gestellt, wie: »Alle Studenten müssen ein Stipendium erhalten.« An der Universität Rostock ließ man während des gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichts zwei Katzen laufen. An der Technischen Hochschule Dresden, wo Anfang November 1953 Minister Selbmann9 sprechen sollte, waren nicht ein einziger Student und nur wenige Personen erschienen.

Organisierte Feindtätigkeit

Geringere Flugblatttätigkeit in den Bezirken Gera, Dresden, Neubrandenburg, Cottbus, Potsdam, Karl-Marx-Stadt und Rostock. Im Bezirk Leipzig sind Anzeichen von Bandentätigkeit vorhanden. Verschiedentlich wurden Zivilpersonen durch bewaffnete Personen bedroht.

Einschätzung der Situation

Gegenüber den Vortagen zeigt sich keine wesentliche Veränderung der Lage.

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