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Tagesbericht

28. November 1953
Informationsdienst Nr. 2033 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Zur Regierungserklärung der DDR1 wird immer noch verhältnismäßig wenig von den Betriebsarbeitern Stellung genommen. Der größte Teil der bekannt gewordenen Stimmen hat positiven Inhalt. Ein Teil der Arbeiter begrüßt zwar den Schritt der Regierung der DDR, betrachtet aber diese Maßnahme, da die »Westmächte sowieso nicht darauf eingehen«, als zwecklos. Nur ein geringer Teil steht dieser Erklärung ablehnend gegenüber und diskutiert negativ.

Eine Arbeiterin aus dem VEB Oberlausitzer Baumwollweberei Neusalza/Dresden: »Ich begrüße die Regierungserklärung. Wenn die im Westen diese Vorschläge annehmen, kommen wir auf friedlichem Wege zur Einheit Deutschlands und wir können alle in Frieden leben.«

In einer Kurzversammlung über die Regierungserklärung fragte eine Angestellte des Wismut-Objektes Oberschlema: »Werden wir nach dem Abschluss eines Friedensvertrages wieder in unsere Heimat kommen, natürlich ohne Krieg?« Daraufhin wurde vom Parteisekretär, der selbst Umsiedler ist, der Kollegin Aufklärung über die Oder-Neiße-Friedensgrenze gegeben, was sie dann auch verstand.

Ein Arbeiter der Farbenfabrik Wolfen/Halle: »Die Vorschläge von Walter Ulbricht sind so konkret, dass sie ohne Weiteres annehmbar wären. Doch ich bin der Überzeugung, dass von den Westmächten diese Vorschläge ignoriert werden.«

Bei einer gemeinsamen Rundfunkübertragung der Volkskammertagung im VEB Plasta Auma2/Gera sagte eine Arbeiterin, Mitglied der »Jungen Gemeinde«, zu dem Brigadier: »Schalt nur den Kasten aus, diesen Scheißdreck von der Volkskammer will ich nicht hören. Stelle lieber den RIAS ein, da kann man wenigstens vernünftige Musik hören.« Außer dem Brigadier nahm keiner der übrigen 30 anwesenden Kollegen gegen derartige feindliche Äußerungen Stellung, sondern sie ließen es sogar zu, dass diese Person das Radio abstellte.

Über die Abschaffung der Interzonenpässe3 sowie über den Brief der Regierung der DDR an die Bonner Regierung4 werden aus verschiedenen Bezirken vereinzelte Stimmen mit größtenteils positivem Inhalt berichtet. So sagte ein Arbeiter des Gaswerkes Leipzig: »Das Schreiben unserer Regierung an die Adenauer-Regierung ist ein weiterer Schritt zur Einheit Deutschlands.«

In Einzelfällen wird, wie von einem Arbeiter aus dem Privatbetrieb Sachs & Grimm in Triebes/Gera, gesagt: »Der Westen ist erst dann bereit zu verhandeln, wenn bei uns freie Wahlen stattgefunden haben und eine neue Regierung gewählt wurde.«

Ein Wismut-Arbeiter aus Freital/Dresden sagt zur Abschaffung der Interzonenpässe: »Der Wegfall der Interzonenpässe ist ein weiterer Schritt auf dem Wege zur Einheit Deutschlands und deshalb ist die Maßnahme so gut.«

Über die Entlarvung der Agentengruppen in der DDR werden positive Diskussionen, besonders nach aufklärenden Versammlungen mit Vertretern des SfS, aus Karl-Marx-Stadt und Gera berichtet. So sagte z. B. ein Arbeiter (SED) im VEB ABUS Aue/Karl-Marx-Stadt: »Die Ausführungen des Genossen Wollweber5 hatten wohl etwas für sich. Mir gingen die Augen auf über die gezeigten Methoden der Spionagezentralen. Ich habe nicht gedacht, dass sie schon wieder mit allen Raffinessen arbeiten.«

Beispiele über zusätzliche Produktion von Massenbedarfsartikeln: Nachdem das Dübelwerk Loitz/Neubrandenburg den Jahresplan erfüllt hat, verpflichtete sich der Betrieb für 300 000 DM Holzwannen und Holzeimer u. a. zusätzlich herzustellen. Das Kleiderwerk Altentreptow/Neubrandenburg will 500 Arbeitshosen zusätzlich herstellen.

Verschiedene Ursachen, wie Waggonmangel, Materialmangel u. a., führen zu Schwierigkeiten in den Betrieben. Der VEB Meisterstück-Backpulver Baruth/Potsdam hat seinen Plan bis Dezember übererfüllt. Da alle Lager gefüllt sind, wird am 28.11.1953 von 60 Belegschaftsmitgliedern 30 Kollegen (Frauen) gekündigt. Bei den betreffenden Frauen herrscht darüber starke Unzufriedenheit, besonders auch deshalb, weil, wie eine aktive FDJ-lerin des Betriebes sagte, »ausgerechnet die FDJ- und DFD-Mitglieder entlassen werden, wogegen die nichtorganisierten Frauen im Betrieb bleiben«.

Bis zum 25.11.1953 wurden vom Förderwagenbau Lößnitz, Aue/Karl-Marx-Stadt, bei der Reichsbahn 61 Waggons angefordert, wovon nur 51 dem Betrieb gestellt wurden. Durch Nichtstellung dieser Waggons entsteht dem Werk wegen Nichteinhaltung der Lieferverträge ein Schaden von 100 000 DM.

Aus dem Betrieb Kalichemie Berlin wird berichtet, dass die dortigen Lehrlinge faschistischem Einfluss unterliegen. Sie verherrlichen die Taten der »SS« und singen Lieder wie »Die Fahne hoch« und »Es zittern die morschen Knochen«. Im gleichen Betrieb soll ab 1.12.1953 ein Wettbewerb anlaufen, wogegen sich ein großer Teil der Kollegen mit der Begründung stellt, dass erst von der Werksleitung die nötigen Voraussetzungen wie Roh- und Hilfsmaterial zur Verfügung gestellt werden sollen. Trotz dieser Meinungen wurde weder von der Werksleitung, der BPO und der BGL eine Aufklärung den Arbeitern darüber gegeben.

Handel und Versorgung

Wie aus den einzelnen Bezirken berichtet wird, äußerte die Bevölkerung immer wieder ihre Missstimmung über die mangelhafte Warenstreuung (besonders in ländlichen Kreisen). Im Bezirk Frankfurt/Oder und Schwerin fehlt es z. B. an Arbeitskleidung, in den Bezirken Neubrandenburg, Suhl und Leipzig an Margarine, Winterbekleidung in fast allen Bezirken. Solche Beispiele (die erweitert werden können) werden täglich in sehr vielen Warensortimenten berichtet und treten fast ausschließlich örtlich begrenzt in Erscheinung. In den Kreisen Demmin [und] Altentreptow, [Bezirk] Neubrandenburg, besteht z. B. ein Engpass an Margarine auf Marken, demgegenüber ist in [den Kreisen] Neubrandenburg, Waren und Teterow genügend Margarine vorhanden.

Schwierigkeiten in der Versorgung mit Einkellerungskartoffeln werden aus den Bezirken Schwerin, Magdeburg, Karl-Marx-Stadt, Cottbus, Leipzig, Frankfurt/Oder und Halle berichtet. In Dahlwitz/Frankfurt/Oder wurde die Bevölkerung z. B. erst zu 60 % mit Einkellerungskartoffeln beliefert.

In fast allen Bezirken wird stark nach Mandeln, Rosinen und anderen Waren für die Weihnachtsbäckerei gefragt.

Auf dem Güterbahnhof Halle sind bereits vier Waggons erfrorene Kartoffeln eingetroffen. Ob die Kartoffeln für den menschlichen Verbrauch noch verwendet werden können, ist noch nicht festgestellt.

Landwirtschaft

Schwierigkeiten in der Ablieferung landwirtschaftlicher Produkte werden aus den Bezirken Schwerin, Potsdam und Rostock berichtet. Die Erfassungsaktion wird von vielen Bauern als »Zwangsmittel« angesehen, womit sie nicht einverstanden sind. So äußerte ein Kleinbauer aus Wittstock/Potsdam: »So wie dieses Jahr ist es noch nie gewesen. Jetzt holt man schon die Kartoffeln aus dem Keller, was sollen denn die Bauern machen, wenn sie keine Futtergrundlage haben. Es liegt nicht im Sinne der Regierung, dass Bauern ihre Schweine verhungern lassen müssen. Mann muss unterscheiden, wo Böswilligkeit vorliegt und wo wirklich nicht abgeliefert werden kann.«

Ein werktätiger Bauer aus Stolpe/Rostock: »Erst habt ihr die Großbauern fertiggemacht und jetzt macht ihr uns fertig. Es bleibt ja nichts anderes übrig als abzuhauen.« In Zützen/Frankfurt/Oder wird das Gerücht verbreitet, dass die Organe der Staatssicherheit in Zukunft die Kartoffeln erfassen werden und dass man deshalb bei Äußerungen vorsichtig sein soll.

Über die Stromabschaltungen treten im Bezirk Karl-Marx-Stadt, besonders unter den Bauern, verstärkt Diskussionen auf. Der VdgB-Vorsitzende aus Stollberg sagt: »Bei mir häufen sich die Beschwerden der Bauern aus dem Kreis über die Stromabschaltungen. Ausgerechnet zu Futterzeiten werden diese vorgenommen. Wenn etwas passiert, wer trägt die Verantwortung?«

Aus dem Kreis Langensalza/Erfurt wird bekannt, dass dort noch große Mengen Zuckerrüben lagern, die durch Waggonmangel nicht abtransportiert werden können. Ähnliche Beispiele werden aus dem Bezirk Neubrandenburg gemeldet.

Im Kreis Ilmenau/Suhl ist die Verteilung der Ernte in den LPG abgeschlossen. Der übergroße Teil der Mitglieder ist zufrieden. Diejenigen, die nur wenige Arbeitseinheiten geleistet haben, verpflichteten sich, im nächsten Jahr mehr zu leisten. Aus den Bezirken Schwerin und Gera werden ähnliche Beispiele berichtet.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Allgemein wird berichtet, dass über politische Tagesfragen nur sehr wenig diskutiert wird. Zur Regierungserklärung der DDR wurden z. B. nur vereinzelt Meinungsäußerungen bekannt, die in der Mehrzahl positiv sind.

Eine Krankenschwester aus Demmin: »Unsere Regierung nutzt alle Möglichkeiten aus, um die Einheit Deutschlands so schnell wie möglich zu erringen. Das beweist uns der Brief an die Bonner Regierung sowie die Erklärung Walter Ulbrichts auf der letzten Volkskammertagung.«

Ein Arbeiter aus Petershain/Dresden: »Wenn alle ein bisschen nachgeben würden, dann hätten wir schon die Einheit Deutschlands. Jeder will aber für sich das Beste herausholen.«

Auch über die Aufhebung der Interzonenpässe und den Brief unserer Regierung an die Regierung in Bonn wird nur gering diskutiert. Negative Äußerungen wurden nur ganz vereinzelt bekannt.

Wie aus vorliegenden Berichten zu ersehen ist, werden mehr wirtschaftliche Fragen diskutiert. Anlass dazu sind zum großen Teil Mängel in der Versorgung, besonders die schlechte Warenstreuung in den ländlichen Kreisen. Eine besonders negative Stimmung ist unter dem Teil der Bevölkerung zu verzeichnen, der noch nicht mit Einkellerungskartoffeln beliefert wurde. Von Hausfrauen wird die Befürchtung ausgesprochen, dass die in der Presse veröffentlichten Waren aus den Volksdemokratien, wie Mandeln, Rosinen und dgl., erst wieder nach Weihnachten in die Geschäfte kommen. Nachfolgend einige Beispiele:

Ein Arbeiter aus Leipzig: »Die Kartoffelversorgung ist eine große Schweinerei. Von den ›Großen‹ kümmert sich ja keiner drum, die haben ja ihre Kartoffeln.«

Eine Hausfrau aus Reichstädt/Dresden: »Ich verstehe nicht, warum man nicht endlich begreift, dass die Kinder auch Wintermäntel brauchen.«

Eine Hausfrau aus Magdeburg: »Ich bin nur gespannt, ob es dieses Jahr Kakao, Mandeln, Apfelsinen und dgl. auch wieder erst nach Weihnachten gibt?«

Über die Weihnachtszuwendungen6 hält die negative Stimmung unter den Arbeitern und Angestellten staatlicher Verwaltungen und Institutionen weiterhin an. Änderungen in der Argumentation gegenüber den Vortagen sind nicht zu verzeichnen.

Organisierte Feindtätigkeit

Verstärkte Verbreitung von Flugblättern wird aus den Bezirken Neubrandenburg, Gera und Potsdam berichtet, vereinzelt aus Rostock, Karl-Marx-Stadt, Halle, Frankfurt/Oder, Berlin, Cottbus und Suhl. Auf den Flugblättern, die im Bezirk Suhl gefunden wurden, sind sämtliche Mitarbeiter der Bezirksverwaltung und Kreisdienststellen des SfS Potsdam namentlich angeführt und die Bevölkerung wird vor ihnen gewarnt. Es handelt sich hierbei um Flugblätter der KgU.7 Die übrigen Flugblätter sind vom Ostbüro der SPD8 und NTS.9

Am 27.11.1953, gegen 16.00 Uhr, landete ein Ballon mit Flugblättern mit Sprengsatz auf dem Dach der Berliner Hubertusstraße 40 c. Nach der Explosion des Sprengsatzes wurden das Dach und ein Dachbalken durchschlagen.

Die Gemeindeverwaltung Demmin/Neubrandenburg erhielt ein gefälschtes Schreiben mit acht Kohlenscheinen. Absender: Ministerium Handel und Versorgung Berlin.

Aus der Stadt Magdeburg wird berichtet, dass ein von feindlichen Elementen verbreitetes Gerücht an verschiedenen Stellen der Stadt und in Betrieben auftaucht. Darin kommt zum Ausdruck, dass am 15. Dezember bzw. spätestens im Januar oder Februar vom Gegner ein neuer »Tag X«10 geplant ist.

In der Gemeinde Bernsgrün/Gera wird zzt. verstärkt für die »Zeugen Jehovas«11 geworben.

Aus den Bezirken Halle, Cottbus und Karl-Marx-Stadt wird berichtet, dass in verstärktem Maße Postsendungen an die Bevölkerung, Verwaltungen und Massenorganisationen verschickt werden. Der Inhalt sind Flugblätter der KgU und NTS.

Einschätzung der Situation

Die Lage hat sich gegenüber dem Vortage nicht verändert.

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