Tagesbericht
2. November 1953
Informationsdienst Nr. 2009 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
a) Industrie und Verkehr
Wenn auch die Diskussionen über die Steuer-1 und Preissenkung2 langsam abflauen, so sind diese Maßnahmen der Regierung doch noch die am meisten diskutierten Probleme in den Betrieben. Anhaltend sind auch noch die mannigfaltigsten Verpflichtungsbewegungen, mit denen die Arbeiter der Regierung für die großzügigen Maßnahmen danken und ihrerseits alles versuchen, die Voraussetzungen für die weitere Hebung des Volkswohlstandes zu schaffen. Die negativen, die zweifelnden und misstrauischen Meinungen, die hier und da zweifellos auftauchen, gehen in der Masse der Zustimmung unter. Lediglich aus dem Bezirk Frankfurt wird berichtet, dass dort die negativen Stimmen allem Anschein nach zunehmen. Sicher ist dies auf RIAS-Propaganda zurückzuführen.
Die folgenden Beispiele charakterisieren die Stimmung in den Betrieben über Steuer- und Preissenkung: Im Textilkombinat Spremberg/Cottbus leisteten 45 % der vorwiegend aus Frauen bestehenden Belegschaft eine Sonderschicht, um der Regierung für die Preissenkung zu danken. Einige Arbeiterinnen verpflichteten sich, die Webstühle ihrer Kollegen an deren Haushaltstag3 mit zu bedienen.
Im VEB Gärungschemie Dessau/Halle wurden 20 Franik-Verträge4 abgeschlossen.
Ein parteiloser Arbeiter vom Kreisbauhof Waren/Neubrandenburg sagte: »Durch die Lohnsteuersenkung bekomme ich monatlich 35,00 DM mehr. Durch die große Preissenkung bin ich in der Lage, mir noch mehr als bisher leisten zu können.«
In der Porzellanfabrik Kloster Veilsdorf/Suhl leisteten 80 % der Belegschaft am 31.10.1953 eine freiwillige Sonderschicht, um Planrückstände aufzuholen. Die Arbeiter ließen sich dabei auch nicht durch die Einwände des Dorfpfarrers beirren, der darauf beharrte, der 31.10. sei gesetzlicher Feiertag.
Ein Brigadier vom Block 40 der Berliner Stalinallee sagte: »Ich mache mir Gedanken, wie unsere Regierung den neuen Kurs Zug um Zug verwirklichen kann, wenn wir doch so ungeheuere sinnlose Nebenausgaben haben. Da werden Karren gebaut, die wir auf dem Bau gar nicht gebrauchen können. Da werden schlechte Werkzeuge geliefert, die eine flüssige Arbeit nicht ermöglichen, und viele Arbeiten werden zweimal gemacht, weil der Arbeitsablauf nicht richtig geplant und organisiert ist.«
Ein Angestellter aus dem Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« sagte: »Die Summe, um die die Preise gesenkt wurden, entspricht nicht der, die in der Presse bekannt gegeben wurde, und überdies ist sie, umgerechnet pro Kopf der Bevölkerung, so niedrig, dass sie gar nicht erwähnenswert ist. Die Preise für verschiedene Waren (Butter, Fleisch) sind höher als in Westdeutschland.«
In einigen Betrieben klappt es mit den Wettbewerben nicht recht, weil die Arbeiter auf sich selbst gestellt sind und weder durch die BPO noch durch die Werksleitung oder die Gewerkschaften unterstützt werden. Das kritisieren z. B. die Hochöfner im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin«. BGL und Werksleitung lassen sich kaum bei den im Wettbewerb stehenden Arbeitern sehen, der Sekretär der SED-Grundorganisation leitet den Wettbewerb nur per Telefon an.
Ähnlich sieht es im Funkwerk Köpenick aus. Dort ist der Wettbewerb nur durch Sichtwerbung bekannt, praktisch wird er gar nicht durchgeführt. Der zuständige Kollege in der Abteilung Arbeit sagte, er habe keine Zeit, sich um den Wettbewerb zu kümmern.
Anmerkung: In einer Reihe von Betrieben, besonders in den sächsischen Bezirken, ruhte am 31.10.1953 die Produktion wegen des sogenannten Reformationsfestes.
b) Handel und Versorgung
In der Versorgung der Bevölkerung mit Einkellerungskartoffeln treten in den Bezirken Potsdam, Frankfurt/Oder, Magdeburg, Halle, Karl-Marx-Stadt und Gera zum Teil noch erhebliche Schwierigkeiten auf, die größtenteils auf fehlenden Transportraum zurückzuführen sind. So ist z. B. der Stand vom 28.10.1953 bei der Kartoffelbelieferung im Bezirk Magdeburg 68,5 %, davon für die Bevölkerung 72,7 %, für Großverbraucher 33,2 %, für Gaststätten 7,7 %. Von den täglich benötigten 50 Waggons Kartoffeln für die nächsten 14 Tage, erhielt der Bezirk Magdeburg am 26.10.1953 fünf Waggons, am 27.10. einen Waggon Kartoffeln. Dadurch entsteht starke Unzufriedenheit unter der Bevölkerung.
In Falkensee/Potsdam fehlen in den Konsumgeschäften seit drei Wochen Kartoffeln und bei der HO muss die Bevölkerung 8 bis 10 Stunden nach diesen anstehen. Allein im Kreis Eberswalde/Frankfurt fehlen 4 000 t Kartoffeln.
Im Bezirk Karl-Marx-Stadt sind immer noch Schwierigkeiten in der Fleischversorgung vorhanden. Im Schlachthof Plauen ist zzt. fast kein Vieh. Die Lieferungen sind sehr unregelmäßig.
Im Kreis Meißen/Dresden muss die Schokoladenproduktion wegen Rohstoffmangel gedrosselt werden und es besteht die Gefahr, dass die für die Weihnachtszeit notwendigen Erzeugnisse nicht ausreichen.
Im Bezirk Neubrandenburg ist der Umsatz bei größeren Radiogeräten und bei Fleisch- und Wurstwaren beträchtlich gestiegen.
c) Landwirtschaft
Über die Preissenkung wird in der Mehrzahl positiv diskutiert. Während in den MTS und LPG sich die positiven Meinungen über die Preissenkung zeigen, werden die negativen Diskussionen in der Mehrzahl von Einzelbauern geführt. Sie befürchten, dass nun die Preise für freie Spitzen niedriger werden oder ganz wegfallen.
Ein Maschinenschlosser der MTS Neuboltenhagen/Rostock: »Die Steuersenkung und jetzt gleich die Preissenkung sind doch Beweise, dass der neue Kurs doch kein leeres Gerede ist.«
Werktätiger Bauer aus Flieth/Neubrandenburg: »Ich begrüße die Preissenkung, aber jetzt werden die Preise für freie Spitzen ebenfalls niedriger bzw. ganz wegfallen.«
Aus den Bezirken Halle und Cottbus wird gemeldet, dass die Rübenernte fast abgeschlossen ist, das ist zum Teil auf den guten Einsatz freiwilliger Erntehelfer zurückzuführen.
Im Bezirk Frankfurt/Oder bestehen Schwierigkeiten in einigen Kreisen bei der Erfassung der Kartoffeln. So z. B. wurden abgeliefert im Kreis Fürstenwalde 38 %, im Kreis Freienwalde 54,4 %, in einigen Kreisen liegt die Ablieferung einzelner Gemeinden noch niedriger (Prenden, [Kreis] Bernau 9,3 %). Der Kreis Eberswalde wurde vom Bezirk angewiesen, bis 30.11.1953 100%ig die Kartoffeln abzuliefern. Vom Rat des Kreises wurde der Rat des Bezirkes verständigt, dass dadurch viele Bauern alle vorhandenen Kartoffeln abliefern müssen und dann wahrscheinlich ihr Vieh abschlachten oder illegal die DDR verlassen. Einige Bauern sind bereits republikflüchtig geworden.
Im Bezirk Potsdam zeigt sich im Allgemeinen eine Festigung der LPG. Dort aber, wo Unstimmigkeit und Unzufriedenheit herrschen, liegt die Ursache meist an der schlechten Leitung der LPG. So z. B. in der LPG in [Ort]/Potsdam, wo der Vorsitzende stark trinkt, einen unmoralischen Lebenswandel führt und jede Kritik unterdrückt, indem er äußert: »Ihr habt mich gewählt und jetzt bestimme ich.«
Im Bezirk Dresden macht sich in mehreren LPG Futtermangel bemerkbar. Ein Mitglied der LPG Prachenau: »Die LPG hat kaum noch etwas zu füttern, wo soll das nur noch hinführen? Im Sommer aber mussten wir vier Waggons Rapsstroh abliefern, die wir jetzt selbst dringend benötigen. Durch den Futtermangel wird das Vieh weniger und der Milchertrag sinkt.«
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Die Diskussionen über die Preissenkung werden weiterhin in starkem Maße unter der übrigen Bevölkerung geführt, worin die positiven Stimmen weit stärker sind als die negativen. In den positiven Stimmen kommt zum Ausdruck, dass damit die Regierung hält, was sie verspricht, und das Vertrauen festigt sich. Die negativen Stimmen haben im Allgemeinen zum Inhalt, dass diese Preissenkung nicht die wichtigsten Nahrungsmittel erfasse und somit keine allzu großen Vorteile bringe.
Hausfrau, parteilos, aus Klein Lunow/Neubrandenburg: »Die Preissenkung zeigt, dass die Regierung hält, was sie verspricht. Dadurch können wir mehr einkaufen und den Tisch reichlicher decken. Die ist wieder ein Schlag gegen die Kriegstreiber, die davon faseln, dass wir am Hungertuche nagen und ihre Bettelpakete5 brauchen.«
Einwohner, parteilos, aus Wolgast/Rostock: »Ich bin Umsiedler und musste 1945 in Bansin von vorn anfangen. Durch Kredite hat die Regierung uns schon viel geholfen, doch fehlt noch manches. Die neue Preissenkung ermöglicht es uns, jetzt diese Sachen zu kaufen.«
Angestellte des Rates des Kreises Ueckermünde (SED): »Die Preissenkung ist nicht so erheblich, man sollte lieber für den Papieraufwand das Brot einen Groschen billiger machen. In meinem Geldbeutel verspüre ich jedenfalls nichts von diesem ganzen Rummel. Butter, Süßwaren und Dauerbackwaren, welche die Kinder brauchen, haben diese sowieso nicht gesenkt.«
Hausfrau, parteilos, aus Schwarzenberg/Karl-Marx-Stadt: »Das bisschen, was es billiger wurde, betrifft ja bloß das schlechte Zeug, das gute ist sowieso teurer geblieben.«
Negative Diskussionen treten weiterhin über die Stromabschaltungen und der teilweise mangelhaften Kartoffelversorgung auf.
In einzelnen Kreisen des Bezirkes Dresden versucht die Kirche ihren Einfluss unter der Bevölkerung, besonders bei den Schulkindern, zu verstärken. So hat sich der Kirchenbesuch in Zittau, besonders durch die zurückgekehrten Personen aus Ungarn, so verstärkt, dass die katholische Kirche wegen Überfüllung jeden Sonntag dreimal Gottesdienst durchführt. Ein Beauftragter der Kirche versuchte, in der 5. Grundschule in Zittau die Kinder für den Religionsunterricht zu gewinnen. Die gleiche Person verstand es, in der Parkschule eine Klasse so zu beeinflussen, dass diese geschlossen am Religionsunterricht teilnehmen will.
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblatttätigkeit vereinzelt in den Bezirken Frankfurt/Oder, Cottbus, Halle, Gera, Karl-Marx-Stadt und in Berlin, stärker in den Bezirken Rostock und Schwerin. Es handelt sich fast ausschließlich um Flugblätter der NTS.6 Die in Schwerin gefundenen sind in tschechischer Sprache.
In Bad Frankenhausen/Halle wurden in einer Nacht sämtliche Plakate über die Preissenkung abgerissen.
In einigen Kreisen des Bezirkes Potsdam häufen sich Einbruchsdiebstähle in HO und Konsum. Es ist offensichtlich, dass es sich hierbei um organisierte Aktionen handelt.
Einschätzung der Situation
Diskussionen über die Preissenkung lassen nach, durch weitere Produktionsverpflichtungen verstärkt sich die Unterstützung des neuen Kurses. Sonstige Lage unverändert.