Tagesbericht
1. Oktober 1953
Information Nr. 1082
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
a) Industrie und Verkehr
Über das Echo der neuen sowjetischen Note1 in den Betrieben liegen noch keine Berichte vor. Lediglich aus der Elbewerft Boizenburg/Schwerin wurde gemeldet, dass die Betriebsparteiorganisation Besprechungen mit den Agitatoren durchgeführt habe, dass aber bereits negative Elemente, vor allem solche, die in Westdeutschland waren, beginnen, die Meinung der Arbeiter zu beeinflussen.
Noch stehen materielle Fragen mehr oder weniger im Vordergrund des Interesses. In diesem Zusammenhang wird oft über die 16. ZK-Tagung gesprochen. Während große Teile der Arbeiterschaft über die Perspektiven des steigenden Wohlstandes unseres Volkes, die die 16. ZK-Tagung gab, erfreut sind, haben die negativen, die ungeduldigen und unzufriedenen Diskussionen doch mindestens ebenso große Teile der Arbeiterschaft erfasst.
So diskutieren Arbeiter im VEB TEWA Schrauben in Finsterwalde/Cottbus anhaltend, die Preise stünden in keinem Verhältnis zu ihrem Verdienst. Im Elektromotorenwerk Grünhain/Karl-Marx-Stadt zweifeln große Teile der Belegschaft an der Abschaffung der Rationierung im Sommer 1954;2 sie sagen, im Gesetz über den Fünfjahrplan sei die Aufhebung der Rationierung bereits für das Jahr 1953 versprochen worden.3 Im gleichen Atemzug wird aber oft auch Kritik geübt, die durchaus berechtigt ist. So sagt z. B. eine Arbeiterin aus Pößneck/Gera: »Es ist eine Schweinerei, dass es in Pößneck dauernd ranzige Butter gibt und noch dazu auf Marken.« In einer Parteiversammlung im VEB Thermometerfabrik Ilmenau/Suhl sagten viele Genossen, es sei schwer, unter der Bevölkerung zu agitieren, weil immer wieder ernste Mängel und Schwächen wie die Stromsperren u. Ä. als Gegenargumente gebracht werden würden, denen sie meistens machtlos gegenüberstünden.
In dem Komplex der Diskussionen über die materiellen Fragen müssen auch die Tendenzen der Gleichmacherei eingeordnet werden, die jetzt oft bei den Aktivistenvorschlägen zum 13. Oktober auftauchen. Im Leipziger Eisen- [und] Stahlwerk haben sich in einer Abteilung die Arbeiter gegenseitig zur Prämierung vorgeschlagen. Dabei haben sie so kalkuliert: »Einige werden schon durchkommen, dann teilen wir uns die Prämien.«
Oft werden Stimmen laut, die da meinen, unser Verwaltungsapparat, die Ministerien, sonstigen Behörden und die Verwaltungsabteilungen in den Betrieben seien zu groß. So sagte z. B. ein Genosse Objektleiter der Mathias-Thesen-Werft in Wismar: »Der Verwaltungsapparat wird immer komplizierter auf Kosten der Arbeiter. Früher wurden die Schiffe genauso gut gebaut, wo nur halb soviel Angestellte vorhanden waren.«
Ernste Mängel sind in den Bezirken Potsdam, Cottbus und Dresden in der Waggonbereitstellung zu verzeichnen. Der VEB Holzchemie in Mellensee, [Kreis] Zossen, [Bezirk] Potsdam, muss seine Produktion stilllegen, weil mangels Waggons keine Rohstoffe antransportiert werden können. Der Reichsbahnbezirk Cottbus erhält täglich von der RBD Berlin 800 Waggons zu wenig. Dadurch ist die Kohlenversorgung der Betriebe und der Bevölkerung arg gefährdet, und die Kohlengruben stapeln die Kohlen, die so dem Wetter ausgesetzt sind.
Das Edelzellstoffwerk Peschelmühle [bei] Dohna/Dresden muss die Produktion einstellen, weil die Fertigproduktion nicht abtransportiert werden kann und die Lagerräume erschöpft sind. Der gleiche Zustand herrscht im Zellstoffwerk Gröditz/Dresden.
In einigen Betrieben des Bezirkes Dresden gibt es Genossen, denen die Parteibeiträge zu hoch sind. Sie weigern sich, die Beiträge nach ihrem Leistungslohn berechnen zu lassen und meinen, dabei müsse der Grundlohn zugrunde gelegt werden. Im VEB Polygraph Heidenau und in den Glashütter Uhrenwerken sind aus diesem Grunde einige Mitglieder ausgetreten.
In einigen Parteiversammlungen der Wismut AG forderten Genossen Arbeiterkampfgruppen zu bilden. In zwei Schächten bei Aue wurden bereits solche Gruppen gebildet.4
In Betrieben des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, besonders in [den] Kohlengruben, kritisieren die Arbeiter die ungenügende Publizierung des Steinkohleprozesses in der Presse, wobei sie über die Urteile positiv diskutieren.5
Im Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« Schwarza/Gera sprechen Arbeiter negativ über ungebührliches6 Verhalten sowjetischer Soldaten gegenüber Frauen. Trotz Rücksprache der örtlichen Parteileitung, des Rates des Kreises und des VPKA mit der Stadtkommandantur hat sich in dieser Beziehung noch nichts geändert.
b) Handel und Versorgung
Im Kreis Parchim/Schwerin bestehen Schwierigkeiten im Abtransport der Kartoffeln, im Bezirk Gera teilweise schlechte Versorgung mit Lebensmitteln. So wurde in Bad Köstritz/Gera sowjetische Butter verkauft, die nach zwei Tagen ranzig war und Schimmelbildung zeigte. In Pößneck/Gera fehlt seit acht Tagen Speck. Der gesamte Bezirk Dresden ist mit [zu wenig] HO-Butter und einige Gemeinden des Bezirkes Erfurt sind mit zu wenig Frischfleisch und Käse beliefert worden. Weiterhin fehlen Einweckgläser und Berufskleidung.
Die Brikettzuteilung (29 000 t) für den Bezirk Rostock ist nicht ausreichend. Im Bezirk Potsdam wurde vom Rat des Bezirkes die Anweisung herausgegeben, dass die Belieferung der Kohlensonderkarte ab sofort einzustellen ist. Die Versorgung der Bevölkerung mit Brennstoff wird zugunsten der Industrie abgestoppt, trotzdem in Luckenwalde 5 000 Ztr. lagern und zerfallen.
Die Gegenüberstellung des Warenbereitstellungsplanes und der Umsätze im Warenhaus HO Berlin, Alexanderplatz, zeigt, dass rund 15 % Warendecke fehlen. Die vereinbarten Lieferungen der Industrie sind bis 31.8.1953 nur zu 65 % eingegangen. Aus diesem Grunde konnten seit dem II. Quartal 1953 die Umsatzpläne nicht mehr erfüllt werden. Die erfolgte Umstellung der Industrie zur besseren Versorgung der Bevölkerung ist bis jetzt kaum zu spüren. Weiterhin ist das Angebot der Waren qualitätsmäßig nicht ausreichend. Durch Nichterfüllung der Pläne fehlt es an Geldern, um fällige Rechnungen zu begleichen.
Wie der Umsatz der HO im Bezirk Leipzig zurückgegangen ist, zeigen folgende Zahlen:
Industriewaren Land
1. Dekade August: 326 000 DM
2. Dekade August: 280 000 DM
1. Dekade September: 214 000 DM
Lebensmittel Kreis Oschatz
1. Dekade August: 461 000 DM
1. Dekade September: 274 000 DM
2. Dekade September: 250 000 DM
c) Landwirtschaft
In den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden, Erfurt und Gera wird unter der Landbevölkerung stark über Stromabschaltungen diskutiert, da der Strom immer dann abgeschaltet wird, wenn die Bauern vom Feld kommen und das Vieh füttern müssen.
Im Bezirk Potsdam, Schwerin und Rostock bestehen teilweise Schwierigkeiten mit Ersatzteilen für landwirtschaftliche Maschinen. Unzufriedenheit besteht durch dauernden Ausfall von Kartoffelrodern.
Die freiwilligen Erntehelfer im Bezirk Schwerin zeigten eine gute Arbeitsmoral und verpflichteten sich, noch länger im Einsatz zu bleiben. Dagegen zeigen solche Erntehelfer, [bei] denen man [die] Arbeitsvermittlung von der Teilnahme am Ernteeinsatz abhängig machte, eine schlechte Arbeitsmoral. So erklärte der Leiter des Arbeitsamtes in Immelborn/Suhl: »Wenn ihr nicht nach Mecklenburg zum Kartoffelsammeln geht, seid ihr nicht wert, hier Arbeit zu erhalten.«
Der Drusch in der Gemeinde Waschow/Schwerin erfolgt immer noch schleppend. Es besteht die Tendenz, dass nach der Verkündung des neuen Kurses die Ablieferung nicht mehr so pünktlich zu erfolgen brauche.
Im Bezirk Cottbus verlangen Bauern Zuteilung des notwendigen Düngers (Phosphorsäure).
Im Bezirk Neubrandenburg sind werktätige Bauern über den Anbauplan 1954 unzufrieden, da mehr Hackfrüchte angebaut werden sollen als dieses Jahr, jedoch die Futtergrundlage nicht vergrößert wird. Die Wünsche der Bauern sind nicht berücksichtigt worden.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
In den Bezirken Neubrandenburg, Schwerin, Suhl, Gera und Erfurt stehen bei der Bevölkerung Diskussionen über Stromabschaltungen im Vordergrund. So wird im Kreis Parchim/Schwerin das kulturelle Leben durch Stromsperren stark beeinträchtigt. Die Bevölkerung zweifelt am neuen Kurs. Besondere Verärgerung rufen die abendlichen Abschaltungen hervor. Ein Glasschleifermeister aus Jena/Gera sagte: »Jetzt ist es noch schlimmer mit den Stromsperren als vor dem 17.6.1953, sogar sonntags ist der Strom weg. Horcht nur einmal hinein in das Volk, dann wisst ihr alles.«7
In der Bevölkerung wird immer noch über eine Preissenkung gesprochen (Bezirk Halle, Leipzig, Schwerin). Zur HO Industriewaren in Schmölln/Leipzig kommen Personen, erkundigen sich nach den Preisen und gehen, ohne etwas zu kaufen. In einzelnen Orten des Kreises Bitterfeld kursieren Gerüchte über eine baldige Preissenkung. Danach soll die Margarine ab 1.10.1953 nur noch 1,80 DM kosten.
Große Unzufriedenheit, besonders unter den Hausfrauen, wird in den Bezirken Erfurt und Rostock durch die unterschiedliche und herabgesetzte Rückvergütung im Konsum hervorgerufen. In einzelnen Verkaufsstellen des Bezirkes Rostock sollen statt der zugesagten 3 % nur 1,8 % Rückvergütung ausgezahlt werden. Im Bezirk Erfurt schwanken die Sätze zwischen 1,5 und 3 %. So äußerte eine Hausfrau aus Erfurt: »Na, die bescheißen uns ganz schön. Es wird von Jahr zu Jahr weniger. Da lassen wir uns lieber unser Geld wieder zurückgeben.«
Von illegalen Grenzgängern wird in der 5-km-Sperrzone8 des Bezirkes Erfurt das Gerücht verbreitet, unsere Regierung habe das Angebot Adenauers über den Wegfall der Interzonenpässe abgelehnt.9
Am 30.9.1953, 9.30 Uhr, erhoben sich die Schüler der 7. Klasse der Diesterweg-Schule in Strausberg/Frankfurt/Oder anlässlich des Todes des Westberliner Bürgermeisters Reuter10 von ihren Plätzen. Der Sohn eines Kaufhausbesitzers war der Anführer.
Feindtätigkeit
a) organisierte
Vereinzelte Flugblatttätigkeit in den Bezirken Dresden, Potsdam, Karl-Marx-Stadt, Suhl, Neubrandenburg, Halle und Cottbus.
Am 27.9.1953 wurde auf einem Erntefest in Jocksdorf/Cottbus ein VP-Angehöriger niedergeschlagen.
Am 30.9.1953, 12.30 Uhr, wurde über den Kalischacht Bismarckshall/Erfurt11 in einer Höhe von ca. 1 000 m ein Flugzeug gesichtet, welches drei Fallschirme absetzte.
In einer Hetzsendung des RIAS (»Werktag der Zone«) werden die Arbeiter indirekt aufgefordert, gegen Wettbewerbe und Normerhöhung zu arbeiten. So heißt es z. B.: »Diese Aktion zielt also wieder auf die Lohntüte und die Arbeitsnormen. An die Betriebsleitungen sind bereits vor vier Wochen vertrauliche Anweisungen gegangen, sich unauffällig einen Überblick zu verschaffen, wo Arbeitsnormen zu hoch übererfüllt werden. Gleichzeitig lief der Wettbewerbsrummel an. Der FDGB soll versuchen, Arbeiter zu Sonderleistungen und Übererfüllung der Normen zu veranlassen. Wenn beide Aktionen abgelaufen sind, will man zuschlagen und zunächst auf betrieblicher Basis die Normen erhöhen.«
Einschätzung der Situation
Eine wesentliche Veränderung der Lage ist nicht eingetreten. Der große Teil der Werktätigen beschäftigt sich wenig mit politischen Problemen. Ihn interessieren hauptsächlich die materiellen Fragen. Dabei ist die Tendenz am stärksten vertreten, auf die Verbesserung der Lebenshaltung zu warten und oft negativ über auftretende Schwierigkeiten bei der Durchführung des neuen Kurses zu diskutieren. Aufgabe der Partei und Massenorganisationen muss es sein, durch verbesserte Aufklärungsarbeit die Werktätigen zu überzeugen, dass die Besserung der Lebenslage nur mit voller Unterstützung der Werktätigen und durch Erhöhung und Verbesserung der Produktion möglich ist.