Tagesbericht
17. November 1953
Informationsdienst Nr. 2023 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über die Weihnachtszuwendungen1 herrscht nach wie vor Freude und Genugtuung in den Betrieben. Negative Stimmen sind in den Betrieben nur in geringem Maße laut geworden. Ein Arbeiter aus dem Textilveredlungswerk Löbau/Dresden: »Wenn es so weitergeht im Sinne des neuen Kurses, kann man wieder Vertrauen zur Regierung haben.«
Viele Kumpel im Zwickauer Steinkohlenrevier meinen, man dürfe bei der Festlegung der 600 DM-Grenze2 nur die 48-Stundenwoche zugrunde legen. Die Sonntagsschicht dürfe nicht mit eingerechnet werden.
Ein Angestellter bei Zeiss Ikon Dresden: »Jetzt auf einmal sind Weihnachtszuwendungen keine Almosen mehr, wie man das voriges Jahr sagte,3 die bisher der Kapitalist bezahlt hätte. Jetzt werden auch in einem sozialistischen Staat Weihnachtsgelder gezahlt.«
Über die Erklärung Molotows4 wurden nur ganz vereinzelt Meinungsäußerungen bekannt. Diese sind positiv. Ein Eisenbahner aus Pasewalk/Neubrandenburg: »Ich habe mich nie um Politik gekümmert, aber den Frieden will ich auch. Ich bin der Meinung, dass die Westmächte auf die letzte Note der SU und die Vorschläge Molotows eingehen müssen, wenn sie tatsächlich den Frieden wollen.«
Zu der Verhaftung feindlicher Agenten5 wurden wiederum vereinzelt Stimmen laut, die das Eingreifen unserer Sicherheitsorgane begrüßen. Ein Wismut-Kumpel aus Oberschlema: »Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass unsere Republik auf einem festen Fundament steht. Ich verurteile die verbrecherischen Anschläge auf unseren Staat.« Des Öfteren werden unter den Wismut-Kumpeln Stimmen laut, die verlangen, dass bei Gerichtsverhandlungen in denen Agenten angeklagt werden, die früher bei der Wismut gearbeitet haben, Kumpel aus den Schächten der Wismut teilnehmen können.
Nach einer Versammlung in der Elbewerft Boizenburg/Schwerin, in der ein Mitarbeiter des SfS sprach, wurde kaum noch über diese Versammlung gesprochen. Betriebsleitung und Parteileitung haben noch nichts unternommen, um die Versammlung gründlich auszuwerten.
Über ungenügende Verbindung der Parteiorganisationen mit den Arbeitern beschweren sich die Arbeiter in einigen Berliner Betrieben. Im BMHW Berlin-Niederschöneweide sagten einige Arbeiter über den persönlichen Kontakt, den die leitenden Parteifunktionäre des Betriebes zu den Arbeitern haben: »Es genügt nicht, einmal im Vierteljahr durch die Abteilungen zu gehen, jedem die Hand zu schütteln, um dann wieder für ein Vierteljahr zu verschwinden.«
Im TRO »Karl Liebknecht« Berlin-Oberschöneweide sagten einige Arbeiter: »Damals nach dem 17. ist die Werksleitung mit der Partei gekommen und hat gesagt: ›Wir wollen uns aussprechen, und wir werden diese Aussprache fortsetzen; alle vier Wochen werden wir kommen.‹ Jetzt frage ich mich, wo sie wohl geblieben sind. Keiner ist nach vier Wochen gekommen, weil sie Angst hatten vor den Arbeitern. Jetzt laufen sie morgens durch den Betrieb und verlangen, dass wir sie ansprechen und ihnen unsere Sorgen mitteilen sollen. Wir arbeiten aber im Leistungslohn und haben während der Arbeitszeit für Diskussionen keine Zeit. Die Partei soll Ausspracheabende mit den Arbeitern durchführen.«
Mängel in der Planung führen zuweilen zu Entlassungen von Arbeitern und damit zu großer Unzufriedenheit in den betreffenden Betrieben. Das Sägewerk Malliß, [Kreis] Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin (VEB), hat für das Jahr 1954 ein Plansoll von 4 900 cbm erhalten, was seiner Kapazität entspricht. Vom Rat des Bezirkes wurde später das Plansoll auf 2 600 cbm herabgesetzt mit der Begründung, dass aufgrund des neuen Kurses die privaten Sägewerke berücksichtigt werden müssten. Dadurch kann der Betrieb nicht rentabel arbeiten (zwei Tage Arbeitsausfall pro Woche) und muss Arbeiter entlassen.
Schönfärberei in der Presse hat oft Unzufriedenheit von Arbeitern und eine Herabsetzung der Autorität und des Vertrauens unserer Presse bei den Arbeitern zur Folge. In einem Artikel der »Volkswacht« in Gera vom 12.11.1953 wird von einer großen Begeisterung der Arbeiter im VEB Jenapharm über die Wettbewerbsbewegung geschrieben.6 Die Arbeiter des Betriebes lachen darüber, weil der übertrieben ist und nicht den Tatsachen entspricht.
Ein Gerücht, wonach alle diejenigen, die an den Juniereignissen teilgenommen haben, in Kürze nach Sibirien verschleppt werden sollen, wird in Leipziger Betrieben verbreitet.
Handel und Versorgung
Mängel in der Kartoffelversorgung bestehen in den Bezirken Leipzig, Cottbus, Suhl und Groß-Berlin (Randgebiete). Äußerst schlecht ist die Versorgung mit Kartoffeln in einigen Ortschaften des Kreises Fürstenwalde. So haben zahlreiche Familien von Woltersdorf bisher noch keine Kartoffeln erhalten und leben seit Wochen nur von Teigwaren. Meldungen des Bürgermeisters an übergeordnete Stellen haben noch keine Änderungen gebracht. Es wird geäußert, dass dies seit 1945 die schlechteste Kartoffelversorgung im Ort ist.
Mangel an Lebensmitteln zeigt sich im Kreis Oelsnitz/Karl-Marx-Stadt. So fehlen für Monat November 1953 70 000 Eier im Kreisgebiet. Gleichfalls ist im Bezirk Schwerin die Versorgung mit Eiern unzureichend.
Überschuss an Lebensmitteln wird aus dem Bezirk Leipzig gemeldet. So besteht bei DHZ und Konsumgenossenschaft ein Überschuss bei Marmelade 120 t, Grieß 7 t, Gräupchen 80 t und Teigwaren 40 t.
Überschuss an Investitionsgeldern in Höhe von 1½ Mio. DM hat die DHZ Köthen/Halle, die sie erst jetzt erhielten und nicht zweckentsprechend verbrauchen können. Man versucht, alle möglichen Waren anzuschaffen (Lkw ohne Bereifung usw.), nur um das Geld unterzubringen.
Landwirtschaft
Gute politische Arbeit in LPG wirkt sich positiv auf die ganze Entwicklung aus. So wurde die LPG »Deutsch-Sowjetische Freundschaft« in Wilsickow/Neubrandenburg zum zweiten Male mit der Wanderfahne als beste LPG im Kreis ausgezeichnet. Diese LPG vom Typ III wuchs von 24 auf 39 Mitglieder, welche alle Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft sind. Sie verpflichteten sich, noch 24 weitere Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft außerhalb der LPG zu werben. Weiterhin haben sie noch in der Hackfruchternte und beim Bau der Schweinehütten große Erfolge zu verzeichnen. Ein Freundschaftsabend mit sowjetischen Freunden wurde zu einem vollen Erfolg.
Mängel in der Ablieferung von Getreide und Hackfrüchten zeigen sich in den Bezirken Rostock, Cottbus, Halle und Leipzig. Im Allgemeinen wird eine schlechte Ernte als Begründung angegeben. Großbäuerliche Elemente versuchen bewusst, nicht abzuliefern.
Ein Bauer aus Kropstädt/Halle: »Wenn ihr so weitermacht mit der Ablieferung, werden im Frühjahr noch mehr Bauern nach dem Westen abhauen, als das bisher der Fall war. Das Soll ist aufgrund der schlechten Ernte zu hoch.«
Bauer aus Spröda7/Leipzig: »Bei mir ist ja nichts gewachsen, deshalb bin ich auch mit allen Sachen im Rückstand. Wenn ihr mir das letzte Schwein noch herausholen wollt, könnt ihr auch die Kartoffeln und alles andere gleich haben, dann gehe ich eben arbeiten.«
Großbauer aus Alt Bukow/Rostock: »Seht ihr die Erfasser, das sind sie, die euch euer Brot wegnehmen. Die machen es genau wieder so wie letztes Jahr.«
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Zum Monat der deutsch-sowjetischen Freundschaft wurden im Allgemeinen die kulturellen Veranstaltungen in Verbindung mit sowjetischen Freunden gut besucht und waren ein voller Erfolg. So fand in Röbel/Neubrandenburg eine Kulturveranstaltung mit einem sowjetischen Ensemble statt. Der Saal war bis zum äußersten gefüllt (600 Personen), 300 Personen mussten wieder nach Hause gehen, da auch in den Vorräumen niemand mehr Platz finden konnte. Der Wunsch nach ähnlichen Veranstaltungen wird erhoben.
Negative Stimmung besteht in Plauen/Karl-Marx-Stadt, da die Ricarda-Huch-Straße für Angehörige der Sowjetarmee geräumt werden soll. Die Bevölkerung ist empört und wählte eine Delegation, die zum Oberbürgermeister geschickt werden soll. Am vergangenen Sonntag war eine Demonstration mit Transparenten geplant, die aber ausfiel.
Zur Auszahlung der Weihnachtszuwendungen wird unter den Arbeitern und Angestellten, welche keine Vergünstigungen erhalten, sehr negativ diskutiert. Moorarbeiter im Staatsbad Bad Elster/Karl-Marx-Stadt: »Wir treten aus dem FDGB aus, wenn wir kein Weihnachtsgeld erhalten.«
Angestellte vom Rat des Kreises Dippoldiswalde/Dresden: »Es wird jetzt von den Angestellten so diskutiert, dass man sagt: ›Die besten Arbeiter in die Verwaltungen.‹ Sind sie erst einmal Angestellte, dann werden sie zu Menschen zweiter Klasse gerechnet, das sieht man ja wieder an den Weihnachtszuwendungen.«
Leiter des Fernsprechtrupps Stadtroda/Gera: »Als der FDGB zu den Weihnachtszuwendungen zugestimmt hat, hat er etwas getan, was er nicht wiedergutmachen kann. Hier ist ein Fehler unterlaufen, denn diese Art von Anordnungen mit dem Unterschied der Auszahlungen führt zur Zersetzung in der Arbeiterschaft. So erhält ein Angestellter z. B. im VEB mit 560 DM Gehalt die Gratifikation und ein Angestellter bei der Post, der weniger Gehalt bekommt, erhält nichts. Ich hoffe, dass in dieser Hinsicht noch eine Änderung kommt.«
Zu den Entlarvungen der Agentengruppen sind die weiterhin bekannt gewordenen Stimmen positiv und fordern die strengste Bestrafung dieser Verbrecher. Arbeiter der DHZ Lebensmittel Demmin/Neubrandenburg: »Für uns ist es sehr gut, wenn alle diese Spione und Saboteure geschnappt werden, denn sie versuchen unseren Aufbau zu unterhöhlen. Man muss ihnen gleich die Rübe abnehmen, denn für solche Menschen darf es keine Gnade geben.«
Über die Erklärung des Genossen Molotow auf der Pressekonferenz in Moskau wurden erst wenige Stimmen bekannt, diese sind positiv. Angestellter beim Rat der Stadt Pasewalk/Neubrandenburg, NDPD: »Jeder Mensch, welcher sich auch nicht mit Politik befasst hat, muss sehen, dass die SU immer wieder für den Frieden und die Einheit Deutschlands eintritt. Dieses sieht man aus der vor kurzer Zeit erlassenen Note der SU und den Ausführungen des Genossen Molotow auf der Pressekonferenz.«
Zur Abschaffung der Interzonenpässe in Westdeutschland8 wird in den Bezirken Leipzig, Dresden und Suhl negativ diskutiert. Sekretärin vom VEB LOWA Waggonbau Niesky/Dresden: »Vonseiten Westdeutschlands wird alles unternommen, um die Einheit Deutschlands herzustellen, so wurden jetzt auch die Interzonenpässe von ihnen abgeschafft. Darin erkennt man einen Schritt zur Einheit Deutschlands. Nur die Russen sind schuld, dass bei uns noch nichts zur Einheit Deutschlands unternommen wurde. Dies hat auch der westdeutsche Rundfunk bekannt gegeben.«
Aus Berliner Kirchenkreisen wird bekannt, dass die Eingänge an Kirchensteuern sehr gering sind. Pfarrer warnen ihre Gläubigen vor einer ernsten finanziellen Notlage der Kirche. Pfarrer der Kirche Wisbyer Straße: »Wenn die Kirchensteuern weiterhin so schleppend bezahlt werden, besteht die Gefahr, dass ab 1954 für die Pfarrer bis zum Organisten das Gehalt von 50–75 % reduziert werden muss. Kommt eurer Pflicht nach, da sonst keine kirchliche Arbeit mehr möglich ist.«
Auf einer Sitzung des Gesamtverbands der katholischen Kirchen befasste man sich mit der schlechten finanziellen Notlage innerhalb der katholischen Kirche. Man verwies darauf, dass im letzten Monat nur 40 000 DM eingenommen wurden, jedoch werden 80 000 DM monatlich für Gehälter benötigt. Alle Pfarrer sollen sofort ihre Kartei in Ordnung bringen, um die Kirchensteuer besser einziehen zu können. Weiter wurden sie angewiesen, im Gottesdienst auf die ernste Situation der Existenzfähigkeit der Gemeinde hinzuweisen.
Über die Stromabschaltungen wird in der gesamten Bevölkerung (besonders Landbevölkerung) weiterhin negativ diskutiert.
Organisierte Feindtätigkeit
Geringere Flugblatttätigkeit in den Bezirken Rostock, Halle, Leipzig, Cottbus, Gera, Karl-Marx-Stadt und in Berlin.
In der Nacht des 12.11.1953 schlugen unbekannte Täter im Stadtteil Nord von Dessau/Halle 108 Fensterscheiben ein. Dabei wurden 52 Familien, verschiedener Bevölkerungskreise, darunter auch einige Funktionäre unserer Partei, geschädigt.
Einschätzung der Situation
Durch den Beschluss über die Weihnachtszuwendungen hat sich unter den Arbeitern und Angestellten der Betriebe das Vertrauen zur Partei und Regierung weiter gefestigt. Bei vielen Angestellten der öffentlichen Verwaltungen wächst jedoch die Unzufriedenheit über diese Maßnahme, da sie nicht verstehen, weshalb nur die Arbeiter und Angestellten in der Produktion die Zuwendung erhalten.
Der Gegner versucht, durch seine mit viel Propaganda begleitete Provokation der einseitigen Aufhebung des Interzonenpasszwanges, das Vertrauen der Bevölkerung zur Politik der SU und unserer Regierung zu untergraben. Diese Propaganda ist geeignet größere Teile der Bevölkerung zu verwirren, deshalb müsste sofort eine Entlarvung der wahren Absichten der Westmächte erfolgen.