Tagesbericht
30. November 1953
Informationsdienst Nr. 2034 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über den neuen Vorschlag der SU zur Abhaltung einer Viermächtekonferenz1 liegen bis jetzt erst nur vereinzelte Stellungnahmen vor, die jedoch alle einen positiven Inhalt haben. Ein parteiloser Straßenbauarbeiter aus Hohenstein-Ernstthal/Karl-Marx-Stadt: »Endlich steht die langersehnte Viererkonferenz in Aussicht. Ich erwarte hiervon wichtige Beschlüsse für die Einheit Deutschlands und für den Weltfrieden.«
Ein Arbeiter des BKW »Jonny Scheer« Cottbus: »Wenn die SU bereit ist an der Viererkonferenz teilzunehmen, dann geht bestimmt alles noch in Ordnung. Es darf aber nicht nur verhandelt, sondern es muss eine Einigkeit erzielt werden.«
Zur Erklärung der Regierung der DDR2 wird weiterhin von den Arbeitern, jedoch nicht von der Mehrzahl, diskutiert. Mit wenigen Ausnahmen haben die bekannt gewordenen Stimmen zum überwiegenden Teil einen positiven Inhalt. Ein Arbeiter des Schamottwerkes Thonberg3/Dresden: »Es ist wirklich anzuerkennen, dass unsere Regierung laufend Angebote an die Westmächte macht, um die Lage in Westdeutschland zu lösen und die Einheit zu erzielen.«
Die Kollegen der Abteilung Gießerei im VEB MAFA Wurzen/Leipzig verpflichteten sich nach einer Kurzversammlung und durchgeführten Agiteinsätzen über die Regierungserklärung, zur Unterstützung des neuen Kurses zusätzlich Kochplatten und andere Dinge als Zeichen ihrer Verbundenheit zur Regierung herzustellen.
Ein Arbeiter des VEB Kalichemie, Berlin-Niederschöneweide: »Solche Erklärungen sind Mist. Man muss den Menschen erst die Freiheit wiedergeben und dann können wir über die Einheit Deutschlands diskutieren. Auf der Grundlage, weil es der Osten will, wird die Einheit sowieso nicht hergestellt.«
Zum Brief der Regierung der DDR4 sowie über die Abschaffung der Interzonenpässe5 werden noch verschiedentlich Diskussionen geführt. In beiden Fällen werden diese Maßnahmen vom größten Teil der bekannten Meinungsäußerungen zustimmend aufgenommen. In Einzelfällen wird zur Abschaffung der Interzonenpässe die Meinung vertreten, dass dies »nur durch Druck des Westens erreicht« wurde.
Zum Brief der Regierung der DDR sagt ein Meister des VEB »Heinrich Rau«/Potsdam: »Es ist doch erstaunlich, was unsere Regierung für eine Ausdauer hat, um dem deutschen Volk zu seinem Recht zu verhelfen.«
Zur Abschaffung der Interzonenpässe sagt z. B. ein Jugendlicher aus dem VEB Weberei Mittweida/Karl-Marx-Stadt: »Seit dem die SU die Angelegenheit mit den Interzonenpässen den deutschen Behörden übergeben hat, muss es doch den Westmächten klar werden, dass unser Weg der richtige ist, dass die Einheit Deutschlands auf friedlichem Wege erreicht werden kann.« In den Sperrgebieten der Wismut AG6 wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, auch die Sperrgebietsgrenzen aufzuheben.
Negative Meinungsäußerungen dazu: Ein Eisenbahner vom Bw Friedrichsfelde: »Das ist ja nun was Halbes, warum hat man nicht wie der Westen alles aufgehoben?«
Ein Arbeiter des Mansfeld-Kombinates »Wilhelm Pieck«: »Die Regierung bei uns hat diese Maßnahme nur auf Druck des Westens durchgeführt. Ich habe es selbst durch den Hamburger Rundfunk gehört.«
Zu Ehren des IV. Parteitages der SED7 leisteten zwölf Arbeiter des VEB Presswerkes Spremberg/Cottbus eine Hochleistungsschicht.
Anlässlich des Monats der deutsch-sowjetischen Freundschaft wurden verschiedene Verpflichtungen von Kollegen des Thälmann-Werkes Suhl übernommen. 71 Kollegen einer Abteilung verpflichteten sich zu freiwilligen Aufbaustunden innerhalb des Betriebes. In einer anderen Abteilung wurden 142 DM aus dem Erlös von Überstunden dem Nationalen Aufbauwerk zur Verfügung gestellt. Im gesamten Werk wurden 87 neue Mitlieder für die DSF geworben.
Materialmangel wird aus dem VEB Garnveredlungswerk Sehma/Karl-Marx-Stadt, wo es zzt. an Kunstseide fehlt, berichtet. Dadurch mussten einige Maschinen stillgelegt werden. Im Bw Karl-Marx-Stadt fehlen zzt. Radsätze. Dadurch können z. B. acht Güterwagen nicht fertiggestellt werden.
Im Wismut-Gebiet werden auch heute wieder in größerer Anzahl Diskussionen, die sich wie in der letzten Zeit des Öfteren berichtet, mit der Umstellung der Wismut AG beschäftigen.8
Handel und Versorgung
In Königs Wusterhausen/Potsdam wurden von HO und Konsum zum Teil erfrorene bzw. angefrorene Kartoffeln verkauft, worüber die Frauen empört sind und den Kauf ablehnten. Im Bezirk Suhl wurde die Belieferung der Bevölkerung mit Einkellerungskartoffeln abgeschlossen.
Mangel an Winterbekleidung aller Art wird aus den Bezirken Neubrandenburg, Gera und Karl-Marx-Stadt berichtet.
Landwirtschaft
Wie aus vorliegenden Berichten zu ersehen ist, sind noch immer Schwierigkeiten in der Ablieferung landwirtschaftlicher Produkte zu verzeichnen. Wie aus Potsdam berichtet wird, gehen laufend Meldungen ein, dass Bauern, insbesondere Großbauern, ihre Kartoffeln in Mieten versteckt halten, trotzdem ihr Ablieferungssoll noch nicht erfüllt ist.
Im Kreis Kyritz/Potsdam hielt ein Altbauer, der 100%ig erfüllt hat, zwei Kartoffelmieten versteckt. Einem Neubauern machte er den Vorschlag, ihm Kartoffeln zu leihen, die dieser mit 50%igem Aufschlag zurückgeben sollte. Aufgrund dieses Wucherangebotes wurden die Kartoffeln beschlagnahmt.
Im Bezirk Leipzig macht sich besonders bei Großbauern immer wieder das Argument bemerkbar, dass sie mit der Ablieferung bis zum 31.12.1953 Zeit hätten.
So äußerte ein Altbauer aus Trages: »Es ist alles halb so schlimm, sie haben Angst vor uns und ich wette, wenn wir gar nichts abliefern, die sperren uns bestimmt nicht ein. Wir liefern ab, wenn es uns passt, bis zum 31.12. haben wir ja Zeit. Mal sehen, welche Austauschmöglichkeiten dann vorhanden sind.«
Im Bezirk Neubrandenburg liegt der Stand der Getreideablieferungen bei 93 %, Kartoffeln bei 86 %. Schlecht in der Ablieferung sind die VEG (Getreide 60,9 %, Kartoffeln 37,5 %) und Kreislandwirtschaftsbetriebe (Getreide 87 %, Kartoffeln 32,5 %). Als Grund wird schlechte Ernte durch minderwertiges Saatgut angegeben.
In den Kreisen Rochlitz und Hainichen/Karl-Marx-Stadt wurde dazu übergegangen, die säumigen Bauern zu einer Aussprache vor den Kreisrat zu laden. Diese Methode zeigt teilweise gute Erfolge. Zwei Mittelbauern, die das Soll erst zu 50 % erfüllt hatten, erklärten sich z. B. bereit, bis zum 30.11.1953 restlos abzuliefern.
Vom Rat des Kreises Pritzwalk/Potsdam wurde an die VEAB und Bürgermeister eine Anweisung gegeben, wonach listenmäßig Austauschprodukte für Getreideablieferung aufgeführt waren. Während in den Listen der VEAB alle Produkte, außer Kartoffeln, gestrichen waren, erhielten die Bürgermeister Listen ohne Streichungen. Dadurch wurde unnötig Missstimmung unter den Bauern erzeugt, da sie von der Bekanntgabe des Bürgermeisters Gebrauch machen wollten, die Produkte aber (außer Kartoffeln) von der VEAB nicht abgenommen wurden.
Durch Waggonmangel werden Schwierigkeiten im Abtransport von Zuckerrüben aus dem Bezirk Rostock berichtet. So liegen z. B. in der Gemeinde Petschow noch 8 000 Ztr. Zuckerrüben auf dem Feld. Bauern vertreten die Meinung, unter solchen Umständen keine Zuckerrüben mehr anzubauen.
Mangelhafte Waggongestellung macht sich immer wieder bei Viehtransporten bemerkbar. Von der VEAB Hettstedt/Halle wurden z. B. für den 27.11.1953 sechs Waggons zur Verladung von 110 Schweinen und 30 Rindern angefordert. Es wurden jedoch nur drei Waggons gestellt, die nur zur Verladung der Rinder reichten. Wenn die Schweine, die am 26.11.1953 bei der VEAB angeliefert wurden, erst am 28.11.1953 verladen werden können, sind diese frühestens am 30.11.1953 in Zittau, d. h. dass die Tiere vom 26. bis 30.11. ohne Futter sind und die Gefahr des Krepierens besteht.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Über die Regierungserklärung wird verhältnismäßig wenig diskutiert. Der Inhalt der bekannt gewordenen Meinungsäußerungen ist zum überwiegenden Teil positiv. Ein Angestellter der BHG aus Mittweida/Karl-Marx-Stadt: »Ich beschäftige mich zwar wenig mit Politik, aber es ist festzustellen, dass unsere Regierung nichts unversucht lässt, die Einheit Deutschlands wieder herzustellen.«
Hauptinhalt der Diskussionen unter der Bevölkerung sind, wie bereits an den Vortagen berichtet, wirtschaftliche Fragen. Ursache zu negativen Meinungsäußerungen sind, wie aus nachfolgend aufgeführten Beispielen zu ersehen ist, Mängel in der Versorgung. Die Belieferung mit Einkellerungskartoffeln löst unter dem Teil der Bevölkerung negative Diskussionen aus, die diese noch nicht erhalten haben oder, wie z. B. im Bezirk Potsdam, mit erfrorenen Kartoffeln beliefert werden.
Ein Arbeiter aus Stralsund/Rostock: »Erst prahlen sie mit der Margarine und Butter und dann haben sie keine, gerade jetzt vor Weihnachten.« Eine Hausfrau aus Hohenstein-Ernstthal/Karl-Marx-Stadt: »Es wird wohl genauso werden wie im vergangenen Jahr, Weihnachtseinkäufe können erst wieder nach Weihnachten gemacht werden.«
In Eberswalde, Fürstenwalde und Bernau/Frankfurt/Oder wird von der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht, dass die Versorgung mit Kartoffeln in diesem Jahr die schlechteste nach 1945 sei. In diesem Zusammenhang wird oft geäußert, dass sie volles Vertrauen zum neuen Kurs hatten, was aber durch die Kartoffelversorgung geschwunden ist.
Wie aus Karl-Marx-Stadt berichtet wird, werden in den neuen DPA der Umsiedler die Geburtsorte nicht mit Ostpreußen, Oberschlesien und dgl., sondern mit Polen, UdSSR usw. eingetragen. Darüber wird das Gerücht verbreitet, dass die Umsiedler bald zurück in ihre Heimat kommen.
Ereignisse von besonderer Bedeutung
Am 28.11.1953 kam ein Transport mit 300 Personen aus Volkspolen in Frankfurt/Oder an, der nach Bischofswerda weitergeleitet wurde. In den späten Abendstunden des 29.11.1953 traf auf dem Bahnhof Frankfurt/Oder ein Transport mit 202 Personen (Spezialisten) mit ihren Angehörigen, die aus der SU kamen, ein. Der Transport wurde nach Leipzig weitergeleitet.9
Organisierte Feindtätigkeit
Verstärkte Verbreitung (hauptsächlich durch Ballons) von Flugblättern wird aus den Bezirken Potsdam, Gera, Frankfurt/Oder und Berlin berichtet. Vereinzelt aus den Bezirken Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Halle, Cottbus und Dresden. In der Mehrzahl handelt es sich um Flugblätter der KgU,10 SPD11 und NTS.12
Der Vorsitzende der LPG Mützlitz/Potsdam erhielt durch die Post Hetzschriften des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen13 zugesandt (Überschriften: »Deutsche Männer und Frauen in der Sowjetzone«, »Bauernforderungen nach dem Kurswechsel« und »Raus aus der LPG«).
Aus dem Bezirk Frankfurt/Oder wird berichtet, dass verstärkt Hetzschriften an Funktionäre und andere Personen durch die Post zugeschickt werden. Darin werden Funktionäre als NKWD- und SSD-Spitzel bezeichnet.
Am S-Bahnhof Wilhelmsruh wurden am 27.11.1953 Hetzschriften in Form der Betriebszeitung des VEB Bergmann-Borsig verteilt.
Aus dem Bezirk Magdeburg wird heute wiederum berichtet, dass das Gerücht betreffs Wiederholung eines 17. Juni von feindlichen Elementen weiterhin verbreitet wird.
Am 27.11.1953 wurde die Schrankenbaubude 18 zwischen Wartenberg und Lindenberg/Berlin von unbekannten Tätern zertrümmert, wobei eine Frau schwer verletzt wurde.
Die Westberliner Zeitungen »Der Tag« und »Telegraf« vom 28.11.1953 veröffentlichen eine Mitteilung, dass zu Weihnachten 900 Oberschüler, die im demokratischen Sektor wohnen, in Westberlin zur Schule gehen, als Geschenk Bargeld erhalten sollen. Außerdem sollen 500 Kinder des demokratischen Sektors zu Weihnachtsfeiern nach Westberlin vom Hauptjugendamt eingeladen werden und dabei Geschenke erhalten.14
Vermutlich organisierte Feindtätigkeit
Aus der Schiffswerft Stralsund wird berichtet, dass die Rohre der Verteilerbatterie des Brennstofftankes für das Schiff »Sainer« vom Zubringerbetrieb, der Ernst-Thälmann-Werft Brandenburg, so stark mit Dichtungsmaterial bestrichen wurden, dass die Rohre zu 80 % verstopft waren. Dadurch wäre der Brennstoffzufluss verringert und das Schiff auf See zum Stillstand gebracht worden.
Einschätzung der Situation
Die Diskussionen über den Brief an Bonn, die Erklärung der Regierung der DDR und den Vorschlag der SU zur Viermächtekonferenz sind noch gering, aber überwiegend positiv. Die Bemühungen vonseiten der Regierung der SU und der DDR um eine friedliche Regelung aller Fragen werden allgemein anerkannt. Dagegen sind die Diskussionen der Bevölkerung über die bekannten Mängel in Handel und Versorgung umfangreicher. In einigen Bezirken halten die Schwierigkeiten bei der Ablieferung landwirtschaftlicher Produkte immer noch in beachtlichem Maße an.