Bezirksversammlung der Zeugen Jehovas in Westberlin
27. Juli 1956
Information Nr. 102/56 – Betrifft: Bezirksversammlung der »Zeugen Jehovas« im Olympiastadion in Westberlin
Die Bezirksversammlung 1956 der Sekte »Zeugen Jehovas« in Westberlin unterscheidet sich von den bisherigen Bezirksversammlungen in der Form, dass von ca. 30 Rednern nur Pohl1 und Thiele2 versteckte Hetze gegen die DDR bzw. gegen die Volksdemokratien gebracht haben. Im Gegensatz dazu muss man die Reden von Frost3 (Stellvertretender Zweigdiener in Wiesbaden und verantwortlich für Literaturwesen) und Wauer (Leiter des Büros Berlin-Charlottenburg, Kastanienallee 16)4 auf vorherigen Versammlungen beachten, wo sie ganz offen gegen die DDR hetzten und ihre Anhänger in dieser Richtung beeinflussten. Wie aus Informationen hervorgeht, wurden vonseiten der Versammlungsleitung die Angebote, die die »Ostbüros«5 oder »UfJ«6 gemacht haben, unter den Versammlungsteilnehmern zu arbeiten, abgelehnt. In Gesprächen mit führenden Funktionären der Sekte kam zum Ausdruck, dass man mit diesen Stellen trübe Erfahrungen gemacht hat und man jetzt auf dem Standpunkt steht, dass die Organisation der »ZJ« mit diesen Agentenzentralen7 nichts gemein haben kann. Der Kongress zeigt, dass die Sekte »ZJ« bemüht ist, durch keinerlei Hetzreden Voraussetzungen zu schaffen, um mit den Regierungen der sozialistischen Staaten in Verhandlungen zu kommen, dabei spielt die Behandlung der »ZJ« in Volkspolen eine Rolle, da man bereits auf dem Kongress davon sprach, dass ihre »Brüder« und »Schwestern« in Volkspolen wieder ungehindert arbeiten können.8
Durch die Anweisungen an ihre Anhänger in der DDR, so zu arbeiten, dass sie mit dem Verbot nicht in Konflikt kommen,9 hoffen sie, Voraussetzungen für eine von der DDR gebilligte Tätigkeit zu schaffen. Dies wurde durch informatorische Befragung von Kongressteilnehmern, die von der VP angehalten wurden, bestätigt, dass sie die Anweisung haben, keinerlei organisierte Tätigkeit innerhalb der DDR durchzuführen, sondern lediglich jeder für sich selbst verantwortlich ist. Es wurde bekannt, dass viele Anhänger der »ZJ« in Westdeutschland mit dem Verbot der Sekte im Westen rechnen. Es ist möglich, dass die »ZJ« nach der Annahme des Wehrpflichtgesetzes in Westdeutschland10 versuchen, sich in der DDR wieder eine legale Basis zu schaffen. Durch bisher nicht überprüfte Angaben wurde bekannt, dass auch die personelle Zusammensetzung der Leitung verändert wurde. So wurde u. a. ein selbstständiger »Berliner Zweig« gebildet, der direkt der Hauptzentrale in Brooklyn (USA) unterstellt sein soll (Sitz des »Berliner Zweiges« ist Berlin-Charlottenburg, Bayernallee 47).11 Verschiedene führende Funktionäre wurden wegen Unterschlagung von Geldern entfernt.
Zum Verlauf der Bezirksversammlung
Vom 19.7. bis 22.7.1956 fand im Olympia-Stadion die Bezirksversammlung der »ZJ« statt, wo auch aus der DDR und dem demokratischen Sektor von Berlin Angehörige der »ZJ« teilnahmen. Am Donnerstag, 19.7.1956, waren ca. 10 000 Teilnehmer anwesend, darunter etwa 800 Gäste aus Westdeutschland und dem Ausland, ca. 500 aus dem demokratischen Sektor von Berlin und ca. 1 000 aus der DDR. Freitag, 20.7.1956, waren es insgesamt ca. 12 000, darunter 900 aus Westdeutschland, 600 aus dem demokratischen Sektor von Berlin und 1 200 aus der DDR. Sonnabend, 21.7.1956, nahmen neben 100 Gästen aus Westdeutschland 700 bis 800 aus dem demokratischen Sektor und 1 500 aus der DDR teil. Am Sonntag war die Teilnehmerzahl ca. 15 000, davon ca. 9 000 aus der DDR. Sämtliche Gäste wurden in Privatquartieren bei Angehörigen der »ZJ« in Westberlin untergebracht.
Um die Besucher aus der DDR und dem demokratischen Sektor von Berlin nicht zu gefährden, wurden folgende »Sicherheitsmaßnahmen« getroffen:
- 1.
Die Besucher aus der DDR und dem demokratischen Sektor von Berlin werden soweit sie Mitglieder der »ZJ« sind im Organisationsbüro registriert, wurden aber streng angewiesen, niemandem mehr als ihre Vornamen zu nennen.
- 2.
Anträge der Ostbüros der CDU und FDP und einiger anderer Stellen, darunter UfJ, im Stadion Büros einzurichten, sind zurückgewiesen worden, weil man 1954 und 1955 damit »schlechte Erfahrung« gemacht habe.
- 3.
Jeder Vertrieb – auch kostenlos – von Zeitungen, Flugblättern usw. war im Stadion verboten. An den Bücherständen wurde an Bewohner der DDR nichts verkauft, da man den Ausweis vorzeigen musste. Auch wurde über Stadion-Sprecher bekannt gegeben, dass man kein Material mit in die DDR nehmen soll; auch keine Notizen, da, wie bereits bekannt geworden sei, Zugkontrollen durchgeführt worden wären.
Zum Verlauf der Bezirksversammlung selbst ist zu sagen, dass man sich in der Hauptsache mit der Tätigkeit und den Erfahrungen der Organisation beschäftigte. Es wurden Beispiele von Hausbesuchen demonstriert, vor allem wenn man sich abweisend verhält, wie man dann diese Menschen durch persönliche Gespräche gewinnen kann. Auf der Versammlung wurde immer wieder hingewiesen, dass man die Lehre »Jehovas« nur verbreiten kann, wenn man sich diese durch reichliches Studium genau aneignet. Weiter wurde gefordert, durch ständiges Lesen diese zu erweitern und zu festigen. Zu bemerken ist, dass die Hinweise für die weitere Arbeit auf Westberlin und Westdeutschland zugeschnitten waren und über die Arbeit der »ZJ« innerhalb der DDR nicht gesprochen wurde. Es wurde lediglich zum Ausdruck gebracht, dass neuerdings die »ZJ« in Volkspolen ohne Behinderung arbeiten können, was man auch in Kürze von der DDR erhoffe.
Am 21.7.1956 wurde eine Resolution verlesen, die an Genossen Bulganin12 gerichtet war, und folgenden Inhalt hatte:
- 1.
In der UdSSR hätten sich etwa 2 000 »ZJ« in Workuta13 befunden und 7 000 »ZJ« wären in die östlichen Gebiete jenseits des Urals deportiert worden.
- 2.
Die »ZJ« hätten nie und nirgendwo politische Ziele gehabt, lehnten überall Spionage und Sabotage ab und forderten von ihren Gläubigen überall Gehorsam der Obrigkeit gegenüber, treue Mitarbeit am Arbeitsplatz, aber auch den Dienst der Verkündung des »echten Christentums«.
- 3.
Die »ZJ« seien eine in 160 Ländern vertretene religiöse Gemeinschaft mit etwa 640 000 Predigern.
- 4.
Die »ZJ« lehnen immer und überall den Kriegsdienst ab und setzen sich für den Frieden ein.
- 5.
Die »ZJ« treten für keine der bestehenden politischen Systeme ein, sondern für »Koexistenz«. Die »ZJ« erbitten von der Regierung der UdSSR die Freilassung der Inhaftierten und Zwangsverschickten und für [ihre] religiöse Organisation die »Freiheit der Verkündung« in allen Gebieten der UdSSR. Sie fordern, dass die Anhänger der »ZJ« sich in der UdSSR versammeln können und mit ihren Glaubensfreunden in anderen Ländern und mit der Leitung der »ZJ« in Brooklyn (USA) in Verbindung treten können. Sie erbitten die Möglichkeit, wie andere Organisationen aus vielen Ländern der Welt, eine Delegation in die UdSSR entsenden zu dürfen, um mit der Regierung der UdSSR sachlich zu verhandeln und mit den inhaftierten Anhängern der »ZJ« sprechen zu können.
In den einleitenden Worten zur Begründung der Resolution nahm W. Pohl (Leiter der »ZJ« in Westberlin) besonders Bezug auf das 1950 ausgesprochene allgemeine Verbot der »ZJ« in der DDR, wobei er die Zahlen der Verhaftungen mitteilte und gleichzeitig betonte, dass die »ZJ« trotzdem »ungebrochen ihre Arbeit unter den bestehenden Umständen weiterführen«. Pohl äußerte in diesem Zusammenhang noch, dass die schlimmsten Feinde der »ZJ« die Marxisten seien, da sie eine gefährliche Waffe – die Überzeugung der Menschen von der Richtigkeit ihrer Anschauung – haben. Weiter sagte er, dass eine offene Verfolgung weniger gefährlich sei, da diese den Kampf zwar verschärft, aber es stärkt die Organisation und verbindet die Mitglieder.
Stieg,14 Krüger und Lange brachten auf der Konferenz zum Ausdruck, dass »der Marxismus ihnen ein Schnippchen geschlagen hat« und zwar deshalb, weil »durch das weltliche Geschehen« die Leistungen der Funktionäre der »ZJ« zurückgehen. H. Szewczyk15 rief besonders die Jugend auf, sich nicht am Sport zu beteiligen, weiter soll nur so viel gearbeitet werden, dass sie keinen Anstoß erregen – damit noch Zeit für die Arbeit »Jehovas« bleibt.
Zur Arbeitsweise äußerte Thiele (ebenfalls Leiter der »ZJ« in Westberlin), dass der Schwerpunkt der Arbeit der »ZJ« in Westberlin und Westdeutschland auf der Schaffung von Gemeinschaften beruht, die regelmäßig Versammlungen abhalten, während im demokratischen Sektor von Berlin und in der DDR Versammlungen auch im kleinsten Rahmen strikt untersagt sind, damit niemand unnötig gefährdet wird. »Wir sind in der DDR als Organisation verboten und seit 1950 aufgelöst. Wir fügen uns dieser Anordnung. Aber wir nehmen uns trotzdem das Recht, einen Teil unserer ›Brüder und Schwestern‹, die dazu bereit sind, im Dienst von Haus zu Haus einzusetzen«. Weiter führte er aus, dass es den Mitgliedern der »ZJ« in der DDR streng verboten ist, neben dem Dienst für die »ZJ« noch im Interesse anderer Organisationen etwas zu tun. Am 17.6.1953 wurde sofort an die Mitglieder der »ZJ« die Anweisung gegeben sich auf jeden Fall »neutral« zu verhalten. In der Auswahl neuer »Diener« in der DDR wird außerordentlich vorsichtig gehandelt. Seit 1950 sind in Westberlin nur einige Hundert neuer »Diener« aus der DDR getauft worden. In der DDR sind noch etwa 4 000 Brüder und Schwestern im Hausbesuch tätig, 1 000 davon ständig. Im Durchschnitt werden monatlich 2 000 Berichte von »Dienern« aus der DDR mündlich in Westberlin erstattet. Ursprünglich wurde in Westberlin eine Namenskartei über alle von den Mitgliedern der »ZJ« besuchten Familien geführt. Nachdem man damit trübe Erfahrungen gemacht hat (Mitglieder der »ZJ« haben solche Adressen an westliche Stellen weitergegeben), werden Namen von Besuchten nur in Ausnahmefällen genannt. »Schulungen« für Mitglieder in der DDR werden in Westberlin nur individuell, nie in größerem Rahmen durchgeführt.