Diskussionen zur Abschaffung der Lebensmittelkarten
29. Oktober 1956
Information Nr. 288/56 – Betrifft: Diskussionen über die Abschaffung der Lebensmittelkarten
Unter allen Schichten der Bevölkerung wird immer noch über die Abschaffung der Lebensmittelkarten diskutiert.1 Aus den Diskussionen ist deutlich zu sehen, dass der Bevölkerung unklar ist, wie es in Zukunft ohne Lebensmittelkarten werden soll. Dabei spielt auch die gegenwärtige Versorgungslage eine große Rolle.
Die Mängel und Schwierigkeiten in der Versorgung, z. B. besonders mit Butter und Margarine, werden als Beweis dafür angesehen, dass [es] unmöglich sei, gegenwärtig die Lebensmittelkarten abzuschaffen. Außerdem – so wird erklärt – könnte in den wenigen Monaten bis 1957 nicht nachgeholt werden, was man in elf Jahren nicht geschafft habe. Es wird angenommen, dass nach Aufhebung der Rationierung nicht immer genügend Lebensmittel vorhanden sein werden. Z. B. wird in den Betrieben VEB Zellwolle,2 Ölwerke Wittenberge und VEB Fama Wittenberge,3 [Bezirk] Schwerin, die Meinung vertreten, dass der Termin für die Aufhebung der Rationierung ungünstig wäre. Der Engpass in der Fettversorgung beweise, dass bei der Aufhebung der Rationierung nicht immer genügend Nahrungsmittel vorhanden seien. Besonders benachteiligt wären dabei wieder die Berufstätigen.
Starke Diskussionen gibt es darüber, auch unter den Rentnern. Von diesen ist vielfach die Meinung zu hören, sie müssten dann verhungern. Es wäre viel besser, wenn die Lebensmittelkarten weiter beibehalten und erhöht würden. Hierzu aus den Bezirken einige Beispiele:
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In fast allen Kreisen des Bezirkes Suhl wird bezweifelt, ob diese Maßnahmen zum Vorteil der Werktätigen gereicht. Einige Brenner des VEB Porzellanwerk Neuhaus-Schierschnitz [und] Sonneberg sind z. B. der Auffassung, »dass man ohne Zweifel auf die Erfolge zurückblicken kann. Wenn die Karten aber wegfallen, würden auch die Preise höher. Das würde bedeuten, dass sie sich nicht mehr so viel leisten könnten. Wenn auch die Renten und Löhne erhöht werden sollten, wäre nichts gebessert. Sie vertreten die Meinung, dass diese Maßnahmen keine Verbesserung bedeute, sondern lediglich eine Formsache wäre.«
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Ein Angestellter (LDPD) des Rates des Kreises Grevesmühlen, [Bezirk] Rostock, Abteilung Aufbau: »Ich möchte nichts mehr hören und sehen. Wenn die Lebensmittelkarten wegfallen, wird es uns noch dreckig ergehen. Es gibt dann dieses und das nicht in den Geschäften. Jedes kleine Stück Brot wird noch eine Kostbarkeit werden. Aber das zeugt von einer Misswirtschaft elf Jahre nach Kriegsende.«
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Unter den Rentnern und Fürsorgeempfängern im Kreise Salzwedel, [Bezirk] Magdeburg, tauchte mehrmals das Argument auf die Lebensmittelkarten nicht abzuschaffen, sondern die Grundkarten zu erhöhen und voll auszuliefern.
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Im VEB Nähmaschinenwerk Altenburg, [Bezirk] Leipzig, wird erklärt, »dass es nun an der Zeit wäre, bald Klarheit zu schaffen, wie das neue Preisgefüge aussehen soll«.
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Im VEB Buntspinnerei Naunhof,4 [Kreis] Grimma, [Bezirk] Leipzig, wo überwiegend Frauen beschäftigt sind, wird folgende Ansicht vertreten: »Wir können uns nicht vorstellen, wo nach Wegfall der Lebensmittelkarten auf einmal die wichtigsten Nahrungsgüter herkommen sollen. Wir haben doch erst wieder in diesem Jahr gesehen, dass es noch laufend Schwierigkeiten bei Butter, Margarine, Zucker und anderen Lebensmitteln gibt.«
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Die Arbeiter und Angestellten der Bahnhöfe Altenburg und Meuselwitz, [Bezirk] Leipzig, befürchten, dass es Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Butter und Fleisch gibt.
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In der LPG Elmenhorst, [Kreis] Rostock[-Land], kam es deswegen zu starken Diskussionen, wobei besonders die Fragen der Preise erörtert wurden. Ursache dafür war, dass ein Instrukteur der Kreisleitung Rostock-Land dort erklärt hätte, ab 1.1.1957 würden die Lebensmittelkarten abgeschafft werden.
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Von einigen Angestellten der Neptun-Werft Rostock wurde geäußert, dass sich eine Familie mit drei Personen dann wohl keine Butter und kein Fleisch mehr erlauben könnten. Es wäre wohl besser, wenn die Lebensmittelkarten noch bleiben. Noch seien diese aber nicht abgeschafft und wer weiß, wann das geschieht.
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In der Abteilung B17 [des] VEB VTA Leipzig unterhielten sich einige Arbeiter wie folgt: »Wir sind ja gespannt, wie hoch die Preise nach dem Wegfall der Lebensmittelkarten sein werden. Jetzt bekommt man schon nicht viel für 5,00 DM auf Marken, wie soll es erst werden, wenn es keine Karten mehr gibt.«
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Unter den Arbeitern im Bahnwerk Connewitz, [Stadtteil von] Leipzig, häufen sich die Diskussionen darüber, dass es nicht richtig sei, die Lebensmittelkarten abzuschaffen. In diesem Moment wäre die Versorgung nicht mehr gesichert. Dann könnten sich nur diejenigen ein gutes Leben leisten, die ein überdurchschnittliches Gehalt hätten. Ein Arbeiter könnte sich dann nur selten ein Stück Butter kaufen.