Einleitung 1956
Einleitung 1956
Henrik Bispinck
Am Anfang des Jahres 1956 stand ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung: Der XX. Parteitag der KPdSU. Der im Februar abgehaltene Kongress markierte die endgültige Abkehr vom Stalinismus in der Sowjetunion und erschütterte nicht nur die gesamte kommunistische Staatenwelt, sondern hatte auch bedeutende Auswirkungen auf das Verhältnis der beiden globalen Supermächte USA und Sowjetunion. Dramatische Ereignisse in verschiedenen Staaten des Ostblocks, insbesondere die blutig niedergeschlagenen Aufstände in Polen und Ungarn, waren eine direkte Folge dieses Parteitags und seine mittelbaren Auswirkungen reichten weit über das Jahr 1956 hinaus.1 Für die politische Situation in der DDR hatte der Parteitag ebenfalls gravierende Konsequenzen, auch wenn es hier nicht zu blutigen Auseinandersetzungen kam wie in Polen und Ungarn. Die SED-Führung, insbesondere Walter Ulbricht, der sich bisher als treuer Gefolgsmann Stalins profiliert hatte, bangte um ihre Macht, während an der Basis viele Parteimitglieder stark verunsichert waren. Zugleich weckte die Abkehr von Stalin in weiten Teilen der Gesellschaft die Hoffnung auf eine Liberalisierung.
Die Bedeutung des XX. Parteitags und seiner Folgen für die Geschichte der DDR spiegelt sich auch in den im vorliegenden Band edierten Berichten, die die Abteilung Information des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Jahr 1956 an die SED-Führung lieferte. Zahlreiche Berichte dieses Jahrgangs befassen sich unmittelbar mit dem Parteitag und seiner Rezeption durch die SED-Führung, wobei das MfS insbesondere an der Haltung der Bevölkerung zur Frage der Entstalinisierung interessiert war. Auch der Aufstand der Posener Arbeiter im Juni, die Ereignisse des »polnischen Oktober« sowie der Volksaufstand in Ungarn im Oktober und November finden in ihren Auswirkungen auf die innenpolitische Situation der DDR intensive Berücksichtigung. Zieht man noch die in der DDR ebenfalls breit diskutierte Sueskrise hinzu, lässt sich festhalten, dass die Berichterstattung der Abteilung Information im Jahr 1956 in besonderem Maße von Ereignissen der internationalen Politik bestimmt war.
Darüber hinaus spielen die Arbeiterschaft und die Sozialpolitik eine wichtige Rolle in diesem Jahr; eine große Zahl der Informationen befasst sich mit Arbeitsniederlegungen sowie mit Lohn-, Prämien- und Normdiskussionen, wobei auch diese nicht losgelöst vom Entstalinisierungsprozess betrachtet werden können. Daneben gilt wie für alle bisher edierten Jahrgänge auch für 1956, dass die zur Information der SED-Führung erstellten Berichte ein breites inhaltliches Spektrum abdecken: Themen wie Republikflucht, Grenzzwischenfälle, Produktions- und Materialschwierigkeiten in volkseigenen Betrieben, Havarien und Unfälle sowie Versorgungsmängel kommen hier ebenso häufig vor wie in anderen Jahren. Typisch für die Hochphase des Kalten Krieges in den 1950er Jahren sind zudem Berichte, in denen westliche Rundfunk- und Pressemeldungen ausgewertet werden (»Feindpropaganda«) sowie Auflistungen von antikommunistischen Propagandaschriften (»Hetzschriftenverbreitung«).
1. Zeitgeschichtlicher Hintergrund
1.1 Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Rezeption in der DDR
Die Enthüllungen Chruschtschows über die Verbrechen Stalins auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 kamen nicht aus heiterem Himmel. Es hatte Vorboten dieser Entwicklung gegeben, die als »Tauwetter« und »Entstalinisierung« in die Geschichte eingegangen ist. Bereits mit Stalins Tod drei Jahre zuvor schien die Sowjetunion, so Manfred Hildermeier, »aus einer tiefen Erstarrung zu erwachen«.2 Während in den folgenden Jahren die Diadochen um seine Nachfolge kämpften, zeichnete sich bereits eine Abkehr von dem zuvor vergötterten Diktator ab: Bereits vier Wochen nach Stalins Tod wurden Anfang 1953 einer angeblichen Verschwörung bezichtigte Kreml-Ärzte aus der Haft entlassen und rehabilitiert, im Mai 1954 übte Chruschtschow im Rahmen einer Rede vor dem Parteikomitee der Stadt Leningrad zur »Leningrader Affäre« von 1949/50 indirekt Kritik an Stalin und ein Jahr später wurde sein Todestag in der Presse nur noch beiläufig erwähnt.3
Auch auf dem Parteitag selbst hatte es schon früh Anzeichen dafür gegeben, dass eine Abkehr von Stalin und seiner Politik bevorstand. Beim Einzug der Delegierten fand sich kein Bildnis von Stalin im Saal und in seiner Ehrung verstorbener kommunistischer Parteiführer nannte Chruschtschow Stalin in einem Atemzug mit Klement Gottwald und Kyuichi Tokuda, dem tschechischen bzw. japanischen Kommunistenführer, ohne ihn besonders herauszuheben.4 Neben Chruschtschow verurteilte auch Nikolai Bulganin als Vorsitzender des Ministerrats in seinem Rechenschaftsbericht den Personenkult – ohne hierbei allerdings Stalin konkret zu nennen. Chruschtschow kritisierte die Atmosphäre der Gesetzlosigkeit und Willkür, die in den letzten Jahren in der Sowjetunion geherrscht habe.5 Noch deutlicher wurde Bulganins Stellvertreter Anastas Mikojan, der feststellte, dass in der KPdSU »ungefähr 20 Jahre lang […] faktisch keine kollektive Leitung bestand, weil der Persönlichkeitskult blühte«, was sich »negativ auf die Lage in der Partei und ihre Tätigkeit« ausgewirkt habe.6
Doch nichts hatte die Delegierten auf das vorbereitet, was sie am Vormittag des vorletzten Tages des Kongresses zu hören bekamen. Chruschtschow rechnete in seinem Referat »Über den Personenkult und seine Folgen« schonungslos mit den Verbrechen Stalins ab und legte ihre Ursachen, Hintergründe und Auswirkungen offen. Im Zentrum der Rede standen dabei u. a. Lenins frühe Warnungen vor Stalins Charakter, die massenhaften Verhaftungen, Deportationen und Hinrichtungen von Parteigängern der KPdSU in der Zeit des Großen Terrors der 1930er Jahre sowie Stalins Rolle im Zweiten Weltkrieg, wo er zunächst Warnungen vor Hitlers Angriffsplänen ignoriert und später durch sinnlose Durchhalteparolen den Tod von Hunderttausenden Angehörigen der Roten Armee verschuldet habe. Bei den Zuhörern lösten diese Enthüllungen vollkommenes Entsetzen aus. Es herrschte »Totenstille« im Saal.7 Die als »Geheimrede« in die Geschichte eingegangene Ansprache war nur insofern geheim, als die Vertreter der ausländischen Delegationen des Parteitags von ihr ausgeschlossen waren. Die DDR-Delegation, bestehend aus Walter Ulbricht, Otto Grotewohl, Karl Schirdewan und Alfred Neumann, wurde aber noch in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar über den Inhalt der Rede informiert, den Schirdewan nach eigenen Angaben »wörtlich mitschreiben konnte«.8
Wie sollte die SED-Spitze damit umgehen? Insbesondere für Walter Ulbricht war diese Frage brisant.9 Da der Inhalt der Geheimrede in den folgenden Wochen durch verschiedene Kanäle immer breiter durchsickerte,10 war eine Stellungnahme unausweichlich. Am 4. März 1956 veröffentlichte er im »Neuen Deutschland« einen ausführlichen Artikel zum Parteitag der KPdSU.11 Seine Stellungnahme war eine weitschweifige und affirmative Zusammenfassung der Ergebnisse des XX. Parteitags, wobei er sich zur Übertragung der Ergebnisse auf die DDR denkbar zurückhaltend äußerte: Zwar sollten »die wichtigen Lehren« des Parteitags auf der bevorstehenden III. Parteikonferenz der SED ausgewertet werden, allerdings nur, so die Einschränkung, »soweit sie auf unsere Verhältnisse anwendbar sind«. Die Abkehr von Stalin handelte Ulbricht nur knapp und eher beiläufig ab, indem er auf »bestimmte theoretische Fehler« in dessen Schrift Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR hinwies und die Missachtung des Prinzips der »kollektiven Leitung« sowie den Personenkult kritisierte. Die Ausführungen mündeten in den viel zitierten Satz: »Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen.«
Doch so leicht ließ sich das Thema nicht abhaken. Die Partei war völlig verunsichert. Ulbrichts Ausführungen auf der Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz der SED Mitte März 1956, in der er sich über »junge Genossen« mokierte, die lediglich Dogmen und biographische Details zu Stalin auswendig gelernt hätten, war nicht dazu angetan, Klarheit zu schaffen und die Parteibasis zu beruhigen.12 Auch auf der III. Parteikonferenz der SED Ende März, auf der Schirdewan in geschlossener Sitzung Auszüge aus der Geheimrede vortrug,13 blieben die politischen Konsequenzen für die DDR, die aus dem XX. Parteitag gezogen wurden, halbherzig. Otto Grotewohl kritisierte die Arbeit der Justiz und der Staatssicherheit, in der es zu Rechtsbrüchen gekommen sei und betonte, »dass es niemandem gestattet ist, Willkürakte zu verüben«.14 Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer und MfS-Chef Ernst Wollweber übten im Anschluss verhaltene Selbstkritik und gelobten Besserung.15 Auch wurde eine 32-köpfige »Kommission für Maßnahmen zur breiteren Entfaltung der Demokratie in der Deutschen Demokratischen Republik« eingesetzt, die in ihrem Beschluss jedoch lediglich die »notwendige Einhaltung der Rechtsprinzipien« betonte.16 Karl Schirdewan, der sich im Laufe des Jahres zu Ulbrichts schärfstem Rivalen im Politbüro entwickeln sollte, stellte sich in seinem Diskussionsbeitrag ausdrücklich hinter den Ersten Sekretär.17 Einzig der Schriftsteller Willi Bredel äußerte deutliche Kritik an Ulbricht unter Bezug auf dessen Äußerungen auf der Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz: »Wenn unsere jungen Genossen Stalin Seite für Seite und Wort für Wort in sich aufgenommen haben, ist es dann ihre – und zwar ihre alleinige Schuld? Ist es nicht auch und vor allem unsere Schuld, die der älteren Genossen? […] Wir sollten […] etwas mehr Selbstkritik üben.«18 Alles in allem zeigte die Konferenz jedoch, dass die SED-Spitze keineswegs gewillt war, eine grundsätzliche »Fehlerdiskussion« zu führen. Hier wirkten die Erfahrungen von 1953 nach, als das Zurückweichen im Zuge des Neuen Kurses zum Volksaufstand geführt hatte.
1.2 Die Entwicklungen in Polen und Ungarn
In anderen osteuropäischen Staaten hatte der Entstalinisierungsprozess weit gravierendere innenpolitische Folgen als in der DDR. In Polen wurde nach dem plötzlichen Tod des stalinistischen Parteichefs Bolesław Bierut, der zweieinhalb Wochen nach dem Ende des Parteitags noch in Moskau starb, Edward Ochab als gemäßigter Kompromisskandidat zu seinem Nachfolger bestimmt. Ochab leitete eine vorsichtige Öffnung der Politik ein, amnestierte politische Gefangene, rehabilitierte unter seinem Vorgänger verfolgte Parteifunktionäre wie den ehemaligen Parteichef Władysław Gomułka und lockerte die Kontrolle der Presse.19 In der Bevölkerung wuchs die antisowjetische Stimmung und da sich die wirtschaftliche Situation kaum verbesserte, kam es immer wieder zu lokalen Streiks. In Posen eskalierte Ende Juni 1956, während der internationalen Messe, die Situation: Am 28. Juni traten Zehntausende Arbeiter in den Generalstreik; über 125 000 Menschen demonstrierten für höhere Löhne und Preissenkungen. Innerhalb weniger Stunden schlug der Protest in einen Aufstand gegen das Regime um: Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Angehörigen von Polizei und Staatssicherheit. Am Nachmittag griff das polnische Militär ein und schlug den Aufstand bis zum Morgen des 30. Juni nieder. 73 Menschen wurden getötet, über 700 verletzt und mehr als 800 verhaftet.
Die blutige Niederschlagung des Aufstands führte jedoch nicht zu einer Beruhigung der Lage. Kritische Stimmen gegen die Regierung wurden lauter. Die Führung der Polnischen Arbeiterpartei PVAP war gespalten in einen moskautreuen und einen reformorientierten Flügel. Für eine Stabilisierung der innenpolitischen Situation schien die Einsetzung des erst im August wieder in die kommunistische Partei aufgenommenen Gomułka in die Parteispitze unausweichlich. Dieser wurde am 21. Oktober schließlich zum Ersten Sekretär der PVAP gewählt; Vertreter des stalinistischen Flügels gelangten nicht mehr ins Politbüro. Die Umbildung der Parteiführung geschah gegen den erklärten Willen der Sowjetführung, die zu einem Blitzbesuch nach Warschau angereist war, um die Wahl Gomułkas zu verhindern, und die bereits Truppen in Richtung Warschau hatte aufmarschieren lassen. Die Wahl Gomułkas und seine Antrittsrede, in der er umfangreiche Reformen ankündigte, stießen auf enthusiastische Reaktionen in der Bevölkerung, die in einer Demonstration mit etwa 500 000 Teilnehmern am 24. Oktober 1956 in Warschau gipfelten. Im Anschluss daran kam es im November 1956 in vielen Städten Polens zu Kundgebungen und zu Angriffen auf sowjetische Einrichtungen.
In Ungarn geriet nach dem XX. Parteitag der bei der Bevölkerung äußerst unbeliebte stalinistische Generalsekretär Mátyás Rákosi unter Druck. Er musste Selbstkritik üben, verkündete im März 1956 die Rehabilitierung des 1949 hingerichteten kommunistischen Parteifunktionärs und ungarischen Außenministers László Rajk und gestand im Mai 1956 seine persönliche Verantwortung für dessen Tod ein. Mitte Juli zwang die Sowjetführung Rákosi zum Rücktritt und ersetzte ihn durch Ernő Gerő.20 Da Gerő als »treuer Mitstreiter« Rákosis galt,21 wurde dieser Wechsel in der Bevölkerung jedoch nicht als Neuanfang betrachtet, sodass eine Beruhigung der innenpolitischen Lage in den nächsten Monaten nicht eintrat. Zum Ausgangspunkt für landesweite Demonstrationen wurde schließlich das öffentliche Ehrenbegräbnis für László Rajk und seine Weggefährten am 6. Oktober. Die Trauerfeier, an der 200 000 Menschen teilnahmen, entwickelte sich zu einer Massendemonstration. Der 23. Oktober 1956 markiert schließlich den Zeitpunkt, an dem die Demonstrationen in einen Volksaufstand umschlugen. Ausgehend von Studentenprotesten in Budapest weiteten sich die Demonstrationen in den folgenden Tagen auf das ganze Land aus. Die Ereignisse überschlugen sich nun: Bereits am Abend des 23. Oktober bat Gerő die sowjetische Armee um Hilfe, einen Tag später wurde die Forderung der Demonstranten nach der Berufung des reformorientierten Kommunisten Imre Nagy zum Ministerpräsidenten erfüllt. Am 25. Oktober wurde Parteichef Gerő durch Janos Kádár ersetzt. Parallel dazu kam es in Budapest zu Zerstörungen sowjetischer Symbole und vor dem Parlament zu einer vermutlich von Geheimpolizisten ausgelösten Schießerei. Bei den Angriffen auf die Demonstranten wurden etwa 200 Personen getötet; es kam auch vereinzelt zu Lynchjustiz an Geheimpolizisten und kommunistischen Funktionären durch die Aufständischen, insbesondere während der Erstürmung der Budapester Parteizentrale am 30. Oktober, als über 20 Angehörige des ungarischen Staatssicherheitsdienstes grausam getötet wurden.22 Nagy stellte sich schließlich an die Spitze der Aufstandsbewegung und kündigte an, deren Forderungen zu erfüllen. Am 30. Oktober bildete er eine Mehrparteienregierung, einen Tag später erklärte er die Neutralität Ungarns und den Austritt aus dem Warschauer Pakt. Am frühen Morgen des 4. November schließlich marschierten sowjetische Truppen in Budapest ein und schlugen den Aufstand gewaltsam nieder. Nagy wurde als Ministerpräsident abgesetzt und durch Kádár ersetzt. Bis Mitte November gab es heftige Kämpfe im Land, denen aufseiten der Aufständischen etwa 2 500 Menschen zum Opfer fielen. In den folgenden Wochen wurden Oppositionelle scharf verfolgt, etwa 200 000 von ihnen flohen ins westliche Ausland.
Die Ereignisse in Polen und Ungarn wurden in der DDR breit rezipiert. Offiziell als vom Westen gesteuerte »faschistische Putschversuche« bzw. als »Konterrevolution« bezeichnet, führten sie der DDR-Regierung die Risiken eines Liberalisierungskurses deutlich vor Augen. In Teilen der Bevölkerung wurden sie jedoch als Ermutigung zu Veränderungen auch im eigenen Land aufgefasst.
1.3 Ost-West-Konflikt, Kalter Krieg und deutsch-deutsche Beziehungen
Das Jahr 1956 fällt in die Hochphase des Kalten Krieges, die Spaltung der Welt in zwei politisch und ideologisch antagonistische Machtblöcke hatte sich manifestiert. Das geteilte Deutschland mit der geteilten Stadt Berlin bildete die Nahtstelle dieses Konflikts. Bereits im Jahr zuvor hatten die Bundesrepublik und die DDR sich in die gegnerischen militärischen Bündnisse eingegliedert, womit jeweils auch ein eigener Verteidigungsbeitrag einherging. Im Mai 1955 trat die Bundesrepublik dem 1949 gegründeten westlichen Militärbündnis, der NATO, bei und begann parallel dazu mit dem schrittweisen Aufbau der Bundeswehr; ein Jahr später galt die Wehrpflicht für alle männlichen Staatsbürger vom vollendeten 18. Lebensjahr an. Ebenfalls im Mai 1955 unterzeichneten die Sowjetunion und die kommunistischen Staaten Ostmitteleuropas den Warschauer Vertrag als militärischen Beistandspakt, dem die DDR von Beginn an angehörte. Ein halbes Jahr später, im Januar 1956, erfolgte die Bildung der Nationalen Volksarmee (NVA), wobei es sich dabei in erster Linie um die Umwandlung und Umbenennung der bereits seit 1952 bestehenden Kasernierten Volkspolizei (KVP) handelte und eine allgemeine Wehrpflicht zunächst nicht bestand. So konnte die DDR nun auch dem militärischen Teil des »Warschauer Paktes« beitreten.
Mit der Einbindung der beiden deutschen Staaten in die Militärbündnisse und ihrer Entlassung in die Souveränität durch die jeweiligen Besatzungsmächte im Mai bzw. Oktober 1955 hatte sich die deutsche Spaltung vertieft und verstetigt. Die Verhandlungen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs über eine Wiedervereinigung Deutschlands auf den beiden Genfer Konferenzen im Jahr 1955 waren gescheitert. Zugleich bot die Konsolidierung der beiden Machtblöcke jedoch auch die Chance für eine Entspannung.23 Entsprechende Signale sendete die Sowjetunion zu Beginn des Jahres auf dem XX. Parteitag der KPdSU. Unter Verweis auf die veränderte weltpolitische Lage rückte die Parteiführung von der These der Unvermeidbarkeit eines Krieges zwischen Kapitalismus und Kommunismus ab und bekannte sich zum Wettbewerb der beiden Systeme und Ideologien im Rahmen einer »friedlichen Koexistenz«.24
Während der Arbeiteraufstand in Polen und vor allem die blutige Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch sowjetische Truppen nicht dazu angetan waren, eine Entspannung zu befördern, zeigte die Sueskrise im Herbst, dass die beiden Supermächte durchaus in der Lage waren, trotz gegensätzlicher Interessen gemeinsam zu handeln.25 Die Sueskrise ereignete sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Entfremdung zwischen dem Westen und der Ägyptischen Republik unter Gamal Abdel Nasser, der sich den blockfreien und den kommunistischen Staaten annäherte. Im Juli 1956 zogen die USA, Großbritannien und die Weltbank ihre Zusage zur Finanzierung des Baus des Assuan-Staudamms zurück; Nasser reagierte – unter Bruch internationalen Rechts – mit der Verstaatlichung des Sueskanals, wobei er die Entschädigung der Aktionäre der Kanalgesellschaft sowie die Gewährung der freien Durchfahrt zusicherte. Nachdem eine Einigung auf drei von den USA initiierten Konferenzen nicht zustande kam, griffen Ende Oktober Großbritannien und Frankreich im Bündnis mit Israel militärisch in Ägypten ein. Mithilfe einer gemeinsam vorbereiteten Resolution der UN-Vollversammlung, Sanktionsdrohungen sowie – im Falle der Sowjetunion – der Androhung des Einsatzes von Atomwaffen zwangen die beiden Supermächte die Kriegsparteien binnen weniger Tage zur Einstellung der Kampfhandlungen. Die Sowjetführung konnte auf diese Weise auch von ihrem militärischen Eingreifen in Ungarn ablenken.
Ungeachtet solcher punktueller Zusammenarbeit der beiden Supermächte hielt der Kalte Krieg innerhalb des geteilten Deutschlands mit unverminderter Intensität an. Nach wie vor erkannten sich die beiden deutschen Regierungen gegenseitig nicht an und sprachen nicht mit-, sondern übereinander. Westdeutsche Widerstandsorganisationen wie die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen und die Ostbüros der Parteien schleusten massenhaft Propagandamaterial in den östlichen Teil Deutschlands ein; in der DDR wurden angebliche oder tatsächliche »Agenten« eben dieser Organisationen oder westlicher Geheimdienste öffentlichkeitswirksam »entlarvt«.26 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch das Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht im August 1956, dem zahlreiche Verhaftungen von Funktionären folgten, was wiederum von der DDR-Presse propagandistisch ausgeschlachtet wurde.27 Geht man von der »Abstimmung mit den Füßen« aus, stand der Sieger in der deutsch-deutschen Systemauseinandersetzung jedoch fest: Bis Ende 1955 hatten bereits rund 1,5 Millionen Menschen – immerhin zehn Prozent der Gesamtbevölkerung – die DDR in Richtung Bundesrepublik verlassen, den umgekehrten Weg waren lediglich etwa 250 000 Personen gegangen.28 Das Jahr 1956 selbst stellte mit – nach DDR-Statistik – über 360 000 Flüchtlingen und Abwanderern den Höhepunkt der West-Ost-Wanderung dar. Bis zum Jahr 1989 verließen nie zuvor oder danach so viele Menschen innerhalb eines Jahres den ostdeutschen Teilstaat.
1.4 Sozialpolitik und Arbeiterschaft
Im Schatten der Geheimrede Chruschtschows und der Abkehr von Stalin wird häufig übersehen, dass vom XX. Parteitag der KPdSU auch wirtschafts- und sozialpolitische Impulse ausgingen, die ebenfalls in der DDR rezipiert wurden. So kündigte Chruschtschow in seinem Rechenschaftsbericht nicht nur an, im Rahmen des 6. Fünfjahrplans »die stärkstentwickelten kapitalistischen Länder hinsichtlich der Produktion pro Kopf der Bevölkerung einzuholen und zu überholen«,29 sondern versprach auch ganz konkret die Einführung des Siebenstundentags für alle Arbeiter und Angestellten – bei vollem Lohnausgleich.30 Diese Ankündigungen weckten Erwartungen auch in der Arbeiterschaft der DDR. Die SED-Führung reagierte auf der III. Parteikonferenz entsprechend: Sie beschloss – in etwas vorsichtigerer Formulierung –, »die Voraussetzungen zu schaffen, damit in der Zeit des zweiten Fünfjahrplans [1956 bis 1960] in der Industrie der Siebenstunden-Arbeitstag und in bestimmten Industriezweigen die 40-Stunden-Woche ohne Lohneinbuße eingeführt werden kann«.31
Die Arbeitszeitverkürzung war indes nur eine von zahlreichen sozialpolitischen Maßnahmen, die im Laufe des Jahres von der SED proklamiert wurden. Ebenfalls auf der III. Parteikonferenz stellte Ulbricht eine Rentenreform (für das Jahr 1957) sowie die Abschaffung der Lebensmittelkarten für Fleisch, Fett und Zucker in Aussicht.32 Alle diese Ankündigungen wurden ein Vierteljahr später, auf dem 28. Plenum des ZK der SED im Juli, bekräftigt und zum Teil konkretisiert – wobei nun nicht mehr von einer 40-, sondern von einer 42-Stunden-Woche die Rede war.33 Konkret umgesetzt wurde von diesen Vorhaben im Jahr 1956 jedoch nur die Rentenerhöhung: Zum 1. Dezember stiegen u. a. die Vollrenten für Arbeiter und Angestellte um 30,00 DM monatlich.34 Erste Experimente zur Einführung einer 45-Stunden-Woche begannen Anfang 1957 und die Lebensmittelkarten wurden erst im Mai 1958 abgeschafft.35 Zu diesen sozialpolitischen Erleichterungen traten lohn- und preispolitische Maßnahmen. Ab Mai 1956 wurden die Löhne und Gehälter für Beschäftigte bei der Reichsbahn, der Post sowie im Nahverkehr stufenweise erhöht; im September wurden die niedrigen Ortsklassen C und D abgeschafft.36 Im Juni wurden die Preise für Textilien, Schuhe, Lederwaren sowie für einige Industriewaren drastisch gesenkt.37 Diese Maßnahme diente jedoch in erster Linie dazu, Überplanbestände abzubauen und schwer verkäufliche Waren an den Mann zu bringen; in anderen Bereichen, insbesondere bei Lebensmitteln, blieb die Versorgungslage problematisch. Von den sozialpolitischen Maßnahmen profitierten zudem fast ausschließlich abhängig Beschäftigte, insbesondere die Industriearbeiterschaft. Selbstständigen Bauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden wurde das Leben dagegen schwerer gemacht. Einen Einschnitt stellte insbesondere die Ausgliederung der selbstständig und freiberuflich Tätigen aus der vom FDGB getragenen Sozialversicherung und ihre Übernahme in die Deutsche Versicherungs-Anstalt dar, mit der zum Teil erhebliche Beitragserhöhungen vor allem für selbstständige Bauern verbunden waren.38
Mit den skizzierten sozialpolitischen Erleichterungen wollte die SED-Führung nicht zuletzt von den für ihren Machterhalt brisanten politisch-ideologischen Implikationen des XX. Parteitags ablenken und die Arbeiterschaft beruhigen. Dies gelang jedoch nur bedingt, vielmehr kam es ab Juni 1956 zu einer »rapiden Stimmungsverschlechterung in den Betrieben«.39 Für Unmut sorgten insbesondere die Disparitäten im Lohngefüge zwischen den einzelnen Industriezweigen sowie die erneute Propagierung sogenannter Technisch begründeter Arbeitsnormen (TAN), durch die die Arbeiter effektive Lohnkürzungen befürchteten. In der zweiten Hälfte des Jahres 1956 kam es vor diesem Hintergrund zu zahlreichen kurzfristigen Streiks und Arbeitsniederlegungen.40 Die SED-Führung versuchte hier gegenzusteuern – insbesondere angesichts des Schreckbilds der Ereignisse in Polen und Ungarn – und den Arbeitern durch erweiterte Mitbestimmungsmöglichkeiten entgegenzukommen. Zu diesem Zweck wurden auf dem 29. Plenum des ZK der SED im November sogenannte Arbeiterkomitees vorgeschlagen. Deren Aufgabe innerhalb der Betriebe blieb jedoch diffus – gewerkschaftliche Funktionen sollten sie ebenso wenig übernehmen wie die eines Betriebsrats. Die Arbeiterkomitees erwiesen sich als rein taktisches Manöver zur Krisenprävention und verschwanden nach einer kurzen Experimentierphase in 20 ausgewählten Betrieben bereits im Frühjahr1957 »sang- und klanglos« in der Versenkung.41
2. Ausgewählte Themenfelder der Berichte
Im Hinblick auf die Rezeption des XX. Parteitags in der DDR, die Stimmung der Bevölkerung zu den Ereignissen in Polen und Ungarn sowie die Diskussionen, Proteste und Arbeitsniederlegungen in den Betrieben sind die MfS-Informationen des Jahrgangs 1956 bereits intensiv ausgewertet worden.42 Dies unterstreicht die außerordentlich große Bedeutung dieser Berichte für die Betrachtung des Entstalinisierungsprozesses in der DDR, sollte aber nicht den Blick auf das breite Spektrum der anderen Themen verstellen, mit denen sich die Abteilung Information in diesem Jahr befasste.
2.1 Die Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU
Allein 25 der rund 130 Stimmungsberichte des Jahres 1956 befassen sich direkt mit dem XX. Parteitag der KPdSU und seiner Rezeption durch die SED-Führung.43 Diese Berichte sind alle nach einem ähnlichen Schema aufgebaut. Auf eine allgemeine Einschätzung folgen spezifische Analysen zu einzelnen Unterthemen, im dritten Teil wird zusätzlich nach unterschiedlichen Berufsgruppen sowie nach Mitgliedern der SED und bisweilen anderer Parteien differenziert. Während in den einleitenden Passagen der Berichte noch Floskeln dominieren, nach denen »der weit überwiegende Teil der Bevölkerung positiv zum Parteitag diskutiert«, werden im weiteren Verlauf konkret Unsicherheiten und Kritikpunkte genannt und mit zahlreichen Beispielen aus Betrieben, Produktionsgenossenschaften, Parteiversammlungen oder Universitäten untermauert.
Die Reaktionen der Bevölkerung, so wie sie in den Berichten vermittelt werden, lassen sich in drei Hauptkategorien einteilen. Zum einen ist, insbesondere bei SED-Mitgliedern, eine völlige Verunsicherung zu verzeichnen, die von den Berichterstattern zumeist als »Unklarheiten« etikettiert wird. Die plötzliche Abkehr von Stalin verwirrte viele Menschen, die zudem beklagten, dass die Gründe dafür nicht ausreichend erläutert würden.44 Eine zweite Strömung, die hauptsächlich von älteren Arbeitern getragen wurde und besonders am Anfang stark war, hielt die Kritik an Stalin für unberechtigt oder zumindest überzogen. Dabei wurde u. a. argumentiert, dass nicht Stalin allein, sondern das gesamte ZK der KPdSU die Verantwortung für gemachte Fehler trügen, zudem wurde auf Stalins Verdienste um die Entwicklung der Sowjetunion, insbesondere seine »Leistungen« im Zweiten Weltkrieg verwiesen.45 Die dominierende und im zeitlichen Verlauf zunehmende Strömung in den Stimmungsberichten ist aber Zustimmung zur Kritik an Stalin und Unmut darüber, dass man sich nicht schon viel früher von ihm distanziert hatte. Die Menschen fühlten sich in ihrem Urteil bestätigt und sprachen nun aus, was sie schon lange über Stalin dachten: Er sei ein »Diktator« gewesen wie Hitler und das Sowjetvolk habe ihn gehasst.46
Mit der Veröffentlichung des Artikels von Walter Ulbricht zum Parteitag am 4. März 1956 entfalteten die Diskussionen eine besondere Dynamik und der Erste Sekretär der SED geriet immer stärker in den Fokus der Kritik. Die Kritik an Ulbrichts Person nahm ab Mitte März so stark zu, dass die Abteilung Information eine eigene Unterserie der Stimmungsberichte zur »Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht« einrichtete, in der bis zum Juni fünf Informationen herausgegeben wurden. Es wurden Vergleiche zwischen Ulbricht und Stalin gezogen, der Erste Sekretär wurde als »Diktator« bezeichnet und sein Rücktritt nicht nur gefordert, sondern auch prognostiziert.47 Verteiler sind für diese Berichte – wie in der ersten Jahreshälfte fast immer – nicht überliefert, doch spricht nichts dafür, dass der Adressatenkreis hier kleiner war als bei den übrigen Berichten des Jahres.48 Daher ist davon auszugehen, dass die Politbüromitglieder und ZK-Sekretäre auch diese Berichte erhielten. Dies trug wohl erheblich zur Verärgerung Ulbrichts über die Arbeit der Abteilung Information bei: Er urteilte ein Jahr später, mit solcher Stimmungsberichterstattung würde die »Hetze des Feindes legal verbreitet«49 und unterband diese in der Folge.
Gegenüber den politisch-ideologischen Fragen haben die sozial- und wirtschaftspolitischen Themen, die auf dem XX. Parteitag angesprochen wurden, in der Forschung bisher weniger Beachtung gefunden. Zu ihnen äußerten sich vornehmlich Arbeiter, Bauern und einfache Angestellte. Auf besonderes Interesse stieß die Ankündigung Chruschtschows, im kommenden Planjahrfünft zu einem Sieben-Stunden-Arbeitstag überzugehen, ohne den Verdienst der Arbeiter und Angestellten zu schmälern. Diese Maßnahme wurde – wenig überraschend – überwiegend positiv rezipiert und als Beweis für die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems interpretiert. Zugleich wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass eine solche Arbeitszeitverkürzung auch in der DDR bald verwirklicht würde.50 Interessant dabei ist, dass nur solche Diskussionen von den Berichterstattern als »positiv« deklariert wurden, in denen die Erwartung, der Siebenstundentag würde auch in der DDR bald eingeführt werden, unbestimmt blieben und an von den Arbeitern selbst zu erfüllende Bedingungen geknüpft waren. Charakteristisch ist dafür das Zitat einer Arbeiterin aus dem Kaliwerk Volkenroda: »Wenn wir in der DDR alle unsere Kräfte einsetzen und die uns gestellten Pläne erfüllen, wird dieses auch bei uns Wirklichkeit werden. Ich selbst werde alle meine Kräfte dafür einsetzen.« Formulierten Arbeiter diese Erwartung hingegen implizit als Forderung an die Regierung, etwa indem sie äußerten, dass der Siebenstundentag »auch bei uns bald eingeführt werden müsste«, so wurde dies als Ausdruck von »Unklarheiten« gekennzeichnet, da nicht berücksichtigt werde, dass »in der DDR erst die Grundlagen des Sozialismus geschaffen« würden.
Ebenso breiten Raum wie positive und hoffnungsvolle Äußerungen nehmen skeptische Reaktionen ein. So äußerten Arbeiter aus dem VEB Metallwarenfabrik Lobenstein, dass die Sowjetunion unter der Einführung des Siebenstundentags »in wirtschaftlicher Hinsicht schwer leiden« würde, und Neubrandenburger Bauern befürchteten, dass bei einer Übertragung auf die DDR »die Planerfüllung nicht gewährleistet« sei.51 Insbesondere Arbeiter, die sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befunden hatten, äußerten Zweifel. So bekundete ein Fleischereiarbeiter seine Skepsis, dass das »Sowjetvolk« in der Zeit seit seiner Entlassung »zu so einer Bildungsstufe und zu solchem Wohlstand gekommen ist«. Derartige Äußerungen wurden von der Berichterstattung aber noch der Kategorie »Zweifel und Unklarheiten« zugeordnet, während »feindliche« Äußerungen zu diesem Zeitpunkt nur »vereinzelt« bekannt geworden seien.
2.2 Diskussionen in der Arbeiterschaft, Arbeitsniederlegungen und Streiks
Die Situation in den Industriebetrieben und die Stimmung in der Arbeiterschaft gehörten zu den Bereichen, die das MfS im Jahr 1956 besonders genau beobachtete. Hier wirkte die Erfahrung mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 nach, der in den Betrieben seinen Ausgang genommen hatte. Über 70 Berichte der Abteilung Information befassen sich mit Lohn-, Norm- und Prämiendiskussionen in der Arbeiterschaft sowie, in der zweiten Jahreshälfte, mit erfolgten und angedrohten Arbeitsniederlegungen.52 Die Diskussionen der Arbeiter bewegten sich in der ersten Jahreshälfte in dem für die 1950er Jahre typischen Rahmen.53 Sie beschwerten sich über Normerhöhungen, die für sie effektiv Lohneinbußen bedeuteten, beklagten Ungerechtigkeiten im Lohngefüge sowie Diskrepanzen in der Prämienverteilung zwischen Arbeitern auf der einen und Angestellten, Wirtschaftsfunktionären und der technischen Intelligenz auf der anderen Seite. Häufig kritisiert wurden die Betriebsgewerkschaftsleitungen, von denen die Arbeiter sich nicht gut vertreten fühlten. Die Diskussionen blieben in dieser Zeit überwiegend unpolitisch und auf konkrete Probleme und Missstände konzentriert. Auch Arbeitsniederlegungen oder deren Androhung wurden in der ersten Jahreshälfte kaum verzeichnet, gedroht wurde allenfalls mit dem Austritt aus dem FDGB, mit Kündigung oder – seltener – mit dem Weggang in den Westen. Die Berichte des MfS über diese Diskussionen sind weitgehend deskriptiv, es werden zumeist einige Beispiele kurz vorgestellt und anschließend weitere Betriebe aufgelistet, in denen es zu »ähnlichen Diskussionen« gekommen sei.54 Die Ursachenforschung beschränkt sich im Wesentlichen auf Floskeln: Schuld seien Betriebsleitungen, die die Normen »administrativ« heraufgesetzt hätten, oder aber »Unklarheiten« aufseiten der Arbeiter.55 Eine tiefere Analyse erfolgt nicht.
Ab Juni 1956 – noch vor dem Arbeiteraufstand in Posen – kommen zu den skizzierten Berichten solche über Arbeitsniederlegungen bzw. über die Androhungen von Arbeitsniederlegungen hinzu, die im Schnitt einmal pro Woche verteilt wurden – bis Jahresende waren es über 30. Vermutlich gingen diese Berichte auf eine entsprechende Anweisung zurück – auch wenn eine solche nicht ermitteln werden konnte – und waren nicht durch eine plötzliche sprunghafte Zunahme von entsprechenden Vorkommnissen bedingt, zumal der erste dieser Berichte vom 11. Juni Beispiele einbezieht, die bis in die erste Maihälfte zurückreichen.56 In den ersten Monaten waren diese Arbeitsniederlegungen überwiegend von kurzer Dauer (häufig nur wenige Stunden), es war nur eine geringe Zahl von Arbeitern beteiligt und die Anlässe waren unpolitisch. In der Regel wurden diese Kurzstreiks durch Erfüllung der Forderungen oder durch »Überzeugungsarbeit« vonseiten der Betriebs- oder der Gewerkschaftsleitungen rasch beendet.57 Seit Anfang Oktober häuften sich die Arbeitsniederlegungen.58 Die Anlässe blieben zwar weiterhin unpolitisch, doch veränderten sich offenbar der Ton und die Stimmung: Häufig wird nun von »provokatorischen« Äußerungen und Stellungnahmen berichtet59 und es kam in den Betrieben zu demonstrativen Handlungen wie dem Aufhängen einer Puppe mit der Aufschrift »Schnauze voll«60 oder zum Anschreiben von kritischen Losungen an Wände und in Schichtbücher.61 Es häuften sich auch Anspielungen auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953.62 Das Bekanntwerden von Streiks in Magdeburg, das 1953 ein Zentrum des Aufstands gewesen war, durch Berichte in der Westpresse, verstärkte die Dynamik noch. Als schließlich seit Ende Oktober die Ereignisse in Polen und der Volksaufstand in Ungarn in der DDR bekannt wurden, verbanden sich die Diskussionen um Löhne, Normen und Prämien endgültig mit politischem Protest. Die Ablösung von Walter Ulbricht wurde gefordert und es fielen im Hinblick auf die Vorgänge in den beiden anderen Ostblockstaaten Aussagen wie die, »dass es Zeit wäre, dass es bei uns losginge«.63 Forderungen und Ankündigungen eines »neuen 17. Juni« waren allgegenwärtig.64
2.3 Die Gründung der Nationalen Volksarmee
Dass die Gründung einer eigenen Armee – kaum mehr als zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – von der Bevölkerung nicht mit Begeisterung aufgenommen werden würde, war der SED-Führung bewusst.65 Um sie als Vollzug des Volkswillen darstellen zu können, wurden daher seit dem 15. Januar 1956 in zahlreichen Betrieben Mitarbeiterversammlungen inszeniert, in denen Entschließungen zur Schaffung einer Armee verabschiedet und an die Volkskammer geschickt wurden. Am 17. Januar berichtete die DDR-Presse darüber.66 Nur einen Tag später fasste die Volkskammer den entsprechenden Beschluss. Die erwartete kritische Stimmung in der Bevölkerung war Anlass für das MfS, die Bezirksverwaltungen per Fernschreiben anzuweisen, Stimmen zur Gründung der Armee zu sammeln.67
Der erste der insgesamt 13 Stimmungsberichte zu diesem Thema befasst sich mit den erwähnten Betriebsversammlungen, wobei deutlich wird, dass in vielen Betrieben keine Mehrheit für eine zustimmende Resolution zustande kam. Um Probleme zu vermeiden, enthielten sich viele Arbeiter der Stimme oder verließen die Versammlungen vorzeitig.68 Die bis in den März hinein erstellten Berichte zeichnen das Bild einer Entwicklung von anfänglich intensiven Diskussionen mit überwiegend »negativer« Tendenz hin zu zunehmender Zustimmung bei abnehmendem Interesse für das Thema. Diejenigen, die sich positiv zur NVA äußerten, begründeten dies – in Einklang mit der Argumentation der SED – überwiegend mit der Notwendigkeit der Verteidigung der »Errungenschaften« des Sozialismus vor dem Hintergrund der Schaffung der Bundeswehr in Westdeutschland.69 Darüber hinaus wurde insbesondere von älteren Männern das Argument angeführt, »dass unsere Jugendlichen bei der Nationalen Volksarmee endlich einmal richtig erzogen werden«.70
Das Arsenal der Argumente gegen die Schaffung der Volksarmee war ungleich größer und reichte von pazifistischen über deutschlandpolitische bis hin zu wirtschaftlichen Argumenten. Die pazifistischen Argumente, häufig in der Formulierung »Ich nehme kein Gewehr in die Hand«,71 wurden insbesondere von jungen Männern und ehemaligen Teilnehmern des Zweiten Weltkriegs vorgebracht. Auch Frauen äußerten sich überdurchschnittlich häufig in diesem Sinne, insbesondere Mütter, deren Männer im Zweiten Weltkrieg gefallen waren. Typisch ist folgende Äußerung: »Wir haben unsere Männer verloren, wir geben die Söhne nicht wieder her.«72 Weit verbreitet war die Angst vor einem (Bruder-)Krieg, der durch die Schaffung der NVA wahrscheinlicher würde – eine Auffassung, die das MfS als »Zweifel an der Kraft des Weltfriedenslagers« charakterisierte. Häufig hieß es: »Wir schießen nicht auf unsere Brüder in Westdeutschland.«73 Zudem rücke die Wiedervereinigung Deutschlands dadurch in weite Ferne.74 In diesem Zusammenhang wurde auch auf die inneren Widersprüche in der SED-Rhetorik hingewiesen: »Wir brauchen keine Volksarmee, denn dadurch wird die Lage nur verschärft. Wir sprechen immer vom Frieden, dabei rüsten wir schon wieder zum Krieg«.75
Daneben gab es ganz pragmatische und wirtschaftliche Argumente. Wiederholt wurde darauf verwiesen, dass eine Volksarmee unnötig sei, da es bereits die Volkspolizei, die KVP und die Kampfgruppen der Arbeiterklasse gebe und außerdem die Sowjetarmee präsent sei.76 Die NVA gefährde aufgrund der zu erwartenden Kosten den Lebensstandard.77 Als Kronzeuge dafür wurde ausgerechnet Stalin angeführt, der gesagt habe, »dass man nicht den Wohlstand eines Volkes heben und gleichzeitig aufrüsten« könne.78 Befürchtet wurde, vor allem in der Landwirtschaft, durch die Einziehung junger Männer zum Wehrdienst ein Arbeitskräftemangel, der die Planerfüllung erschweren würde.79 Auch ein weiterer Anstieg der Republikflucht von Jugendlichen wurde prognostiziert80 – eine Befürchtung, die vom MfS geteilt wurde, das daher im Januar und Februar die Entwicklung der wegen des Verdachts der Republikflucht festgenommenen Jugendlichen genau beobachtete.81 Ambivalent war die Einstellung zur Einführung einer Wehrpflicht, über die im Gesetz zur Schaffung der NVA noch nichts ausgesagt wurde.82 Während viele Jugendliche ankündigten, in diesem Falle die DDR verlassen zu wollen,83 äußerten andere, nicht freiwillig zur Volksarmee zu gehen, »sondern erst dann, wenn es Zwang wird«.84 Unabhängig davon, ob sie die Schaffung der NVA grundsätzlich begrüßten, forderten viele geradezu die Einführung der Wehrpflicht mit dem Argument, »dass auf freiwilliger Basis doch wieder nur Arbeiter- und Bauernsöhne gehen würden«, während die »Spießbürger« ihre Ausbildung beenden würden.85 Auch wirkten hier offenbar noch die Erfahrungen des »freiwilligen Zwangs« im Rahmen der Werbung für die KVP nach, als Jugendliche sich endlosen Diskussionen mit »Agitatoren« ausgesetzt sahen. So äußerte ein Jugendlicher: »Dass die Armee für uns kommt, war gewiss, wir müssen unseren Staat schützen. Das man aber freiwillig gehen soll, ist nicht schön, es sollte eingezogen werden wie im Westen. Jetzt wird das Gefrage wieder losgehen, willst du oder willst du nicht. Die Braut und die Eltern sind meistens dagegen und will einer freiwillig gehen, dann gibt es immer zu Hause Auseinandersetzungen.«86
Kritisiert wurde ebenso das Vorgehen bei der Schaffung der NVA. Dass die Volkskammer mit ihrem Beschluss auf Forderungen aus der Bevölkerung reagierte, glaubte kaum jemand. So hieß es: »Das glaubt doch kein Mensch, dass die Werktätigen die Volksarmee gefordert haben, das ist wieder einmal eine Sache, die von oben künstlich gelenkt wurde. So ein Schwindel, etwas anderes ist es nicht und in der Presse heißt es dann: Die Werktätigen forderten die Aufstellung einer Volksarmee.«87 Besonders unglaubwürdig erschien dies vor dem Hintergrund, dass der designierte Verteidigungsminister Willi Stoph bei der Volkskammersitzung am 18. Januar bereits in Generalsuniform erschienen war.88 Die Uniformen der NVA gaben überhaupt Anlass zu Diskussionen. Nicht nur die damit verbundenen Kosten wurden kritisiert,89 sondern auch das Design. Die kakifarbenen Uniformen der KVP waren am sowjetischen Vorbild orientiert und weckten damit in der Bevölkerung Assoziationen, die der Beliebtheit ihrer Träger nicht zuträglich waren. Nicht zuletzt deshalb setzte man bei der NVA auf traditionelles Feldgrau sowie auf einen stark an die Wehrmachtsuniformen angelehnten Schnitt.90 Doch nun stieß gerade diese Traditionsbildung auf Kritik, geäußert etwa in der Form, »dass die alten [Wehrmachts-]Offiziere und Soldaten, die ihre Uniform noch zu Hause haben, diese wieder hervorholen könnten«.91 Auch hier wurde die SED mit den Widersprüchen ihrer eigenen Politik und Rhetorik konfrontiert, gehörte die Abgrenzung von der »faschistischen« Vergangenheit doch zu den Grundpfeilern der Staatsräson der DDR. Da diese Kritik vor allem von »fortschrittlichen« Personen geäußert wurde, wusste sich das MfS nicht anders zu helfen, als sie mit »Unkenntnis über die fortschrittlichen militärischen Traditionen« zu erklären.
2.4 Flucht und Abwanderung
Vor dem Hintergrund, dass die Zahl der aus der DDR geflüchteten und abgewanderten Menschen im Jahr 1956 einen neuen Höchststand erreichten, überrascht die untergeordnete Rolle, die dieses Thema in den Berichten der Abteilung Information dieses Jahres spielt. Schließlich stellte die offene Grenze in Westberlin, über die eine Flucht verhältnismäßig problemlos möglich war, die Achillesferse der DDR dar und zahlreiche Institutionen – nicht zuletzt das MfS selbst – waren in den Kampf gegen die »Republikflucht« eingebunden.92 Trotzdem befasste sich die Abteilung Information erst im Sommer mit dem Thema.93 Lediglich für den Zeitraum von Juni bis Oktober wurden Monatsberichte zur Republikflucht erstellt.94 Darüber hinaus liegen ausführliche Berichte zur Republikflucht von Lehrern sowie zur Republikflucht »auf dem Lande« vor, die jeweils die gesamte erste Jahreshälfte behandeln, sowie ein Bericht über zurückgekehrte Flüchtlinge.95
Die Monatsberichte zur Flucht weisen zwar keine einheitliche Gliederung, wohl aber eine ähnliche Struktur auf: Auf tabellarische statistische Übersichten zu den geflüchteten Personen, aufgeschlüsselt nach Geschlecht, Alter, Beruf und Parteizugehörigkeit, folgen Ausführungen zu den Ursachen. Eigene Zahlen zur Republikflucht erhob das MfS nicht, sie übernahm diese von der zuständigen Abteilung Pass- und Meldewesen der Hauptverwaltung der Volkspolizei und glich sie mit den in der Westpresse veröffentlichten Zahlen aus dem Bundesnotaufnahmeverfahren ab. Bei der Suche nach den Fluchtursachen zeigt sich eine gewisse Ratlosigkeit. Wiederholt stellten die Berichterstatter fest, dass »größtenteils die Gründe für die Republikflucht nicht festgestellt« werden konnten.96 Überwiegend werden externe Faktoren verantwortlich gemacht, etwa die »Abwerbung« durch Unternehmen und Betriebe bzw. höhere Löhne, Gehälter und Renten in Westdeutschland oder die »Beeinflussung« durch in der Bundesrepublik lebende Verwandte und Bekannte. Dabei kam es jedoch auch zu Missverständnissen: So leitete das MfS aus der Tatsache, dass 90 Prozent aller geflüchteten Mitarbeiter der SDAG Wismut »legal«, das heißt unter offizieller Abmeldung beim Volkspolizeikreisamt, in den Westen gereist und nicht zurückgekehrt waren, ab, es könne »mit ziemlicher Gewissheit die westliche Beeinflussung als Hauptursache für die Republikflucht dieser Personen angenommen werden«.97 Tatsächlich nutzten viele die Möglichkeit einer legalen Besuchsreise in die Bundesrepublik bewusst aus, da eine Flucht seit der Grenzabriegelung 1952 sonst nur über Westberlin einigermaßen gefahrlos möglich war.
Des Weiteren stellen die Berichte typische Probleme des DDR-Alltags als Gründe heraus wie Unzufriedenheit mit Lohn- und Arbeitsverhältnissen, Nichtzulassung zum Studium oder zur Ausbildung sowie vor allem schlechte Wohnverhältnisse. Hinzu kommt die Kategorie »Verärgerungen aller Art«, worunter etwa willkürliche Versetzungen, Überlastung mit »gesellschaftlicher Arbeit« sowie »bürokratisches« und arrogantes Verhalten von Mitarbeitern staatlicher Einrichtungen subsumiert werden. Demgegenüber betonen die Berichte ausdrücklich, dass im engeren Sinn politische Gründe (»Republikflucht aus negativer Einstellung«) nur selten eine Rolle spielten. Wie für die Berichte dieses Jahrgangs generell typisch, werden unter den einzelnen Kategorien der Fluchtgründe lediglich Fallbeispiele aneinandergereiht; eine eingehendere Analyse erfolgt nicht, ebenso wenig der Versuch, strukturelle Ursachen für die Republikflucht auszumachen oder Handlungsempfehlungen zu ihrer Eindämmung zu geben. Die Berichte unterscheiden sich daher, vom sachlicheren Ton abgesehen, nicht grundsätzlich von denen der Volkspolizei, wenngleich letztere durchaus – freilich zumeist hilflose – Vorschläge zur Bekämpfung der Fluchtbewegung machten.98
Spezifika des Jahres 1956 treten nur an wenigen Stellen in Erscheinung. So korrespondiert die Auffassung, dass Westreisende durch »Beeinflussung« oder »Abwerbung« zur Republikflucht verleitet würden, mit dem Versuch, Studenten Reisen in die Bundesrepublik während der Semesterferien zu verbieten, der an mehreren Universitäten Protestdemonstrationen nach sich zog.99 Bei der Republikflucht von Bauern erkannte das MfS, dass das überhöhte und auf Witterungsverhältnisse oder andere ungünstige Umstände keine Rücksicht nehmende Ablieferungssoll, insbesondere bei Kartoffeln, eine wichtige Ursache war.100 Nicht zuletzt dieser Umstand bewegte die SED-Führung dazu, die Streichung von Sollrückständen unter bestimmten Bedingungen zu ermöglichen.101 Interessant ist zudem ein in den Oktober-Bericht eingefügter Abschnitt zur »Republikflucht aufgrund der Ereignisse in Ungarn«.102 Hier wird von Fluchtfällen aus Angst, der Volksaufstand könne auf die DDR übergreifen, berichtet. So begründete ein Parteisekretär seinen Weggang damit, dass er »die gleichen Vorkommnisse erwartet wie in Ungarn und er sich nicht aufhängen lassen möchte«. Hintergrund für diese Angst waren die erwähnten Fälle von Lynchjustiz, zu denen es im Rahmen des Volksaufstands gekommen war. Fotos der Opfer wurden in der DDR-Presse (wie auch in der internationalen Presse) abgedruckt und sollten als Beweis für den »konterrevolutionären« Charakter des Aufstands und den »Terror« der »Horthy-Faschisten« dienen.103 Aus entgegengesetzten Motiven wiederum flüchteten mehrere Lehrer, da es ihnen »unmöglich [sei], ihren Schülern den Volksaufstand in Ungarn als ›faschistischen Putsch‹ darzustellen«.104
Dass die monatliche Berichterstattung zum Thema Republikflucht mit dem Oktober abbricht, könnte damit zusammenhängen, dass die Abteilung Information im November vor allem mit der Zusammenstellung der Tages- bzw. Halbtagesberichte zur »Lage in der DDR« befasst war, die aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem Hintergrund der Ereignisse in Polen und Ungarn und der Befürchtung, die Unruhen könnten auch auf die DDR übergreifen, erstellt wurden.105 Ohnehin ist auffällig, dass die Berichte zur Republikflucht mit großer zeitlicher Verzögerung von über einem Monat herausgegeben wurden, während die Berichterstattung sonst in der Regel sehr aktuell war. Vermutlich sah das MfS – und dies sicherlich zu Recht – im unruhigen Jahr 1956 in Protesten und Streiks von Arbeitern und Studenten innerhalb der DDR eine weit größere Gefahr für die SED-Herrschaft als in der massenhaften Flucht ihrer Bürger.
2.5 Intelligenz, Intellektuelle und Studenten
Vor dem Hintergrund der in der Forschung weithin geteilten Auffassung, dass die Entstalinisierung in der DDR in erster Linie die Parteielite und die Akademikerschaft erfasst habe, ja ein »nahezu isoliertes Überbauphänomen« gewesen sei,106 überrascht auf den ersten Blick, in welch geringem Maße sich Diskussionen unter Intellektuellen in den Berichten der Abteilung Information widerspiegeln. Zwar gibt es eine Handvoll Berichte über »Unzufriedenheiten der Intelligenz«, doch geht es darin um materielle Probleme sowie Fragen der Arbeitsabläufe in Betrieben und der Qualifizierung, nicht aber um politisch-ideologische Themen.107 Namen, die mit den intellektuellen Auseinandersetzungen des Jahres 1956 verbunden sind, wie Wolfgang Harich, Walter Janka, Ernst Bloch108 oder Gustav Just sucht man vergeblich;109 lediglich Robert Havemann und Gerhard Zwerenz finden Erwähnung.110 Und nur ein einziger Bericht befasst sich mit kritischen Presseartikeln, Satiren und Kabarett-Darbietungen, die sich direkt oder indirekt auf die Entstalinisierung beziehen.111 Größere – wenn auch im Vergleich zu den Arbeitern und zur Situation auf dem Land bescheidene – Aufmerksamkeit finden die Studenten. Ein ausführlicher Lagebericht geht auf ihre Diskussionen zum XX. Parteitag ein, in denen – wenig überraschend – »nicht die politischen und ökonomischen Perspektiven im Mittelpunkt [stünden], sondern die Erklärungen über die Rolle und die Auswirkungen des Personenkultes, besonders in Bezug auf Stalin«.112 Gegenüber den allgemeinen Stimmungsberichten zum Parteitag tauchen hier jedoch keine neuen Aspekte auf. In den übrigen Berichten über Studenten aus der ersten Jahreshälfte dominiert ein Thema: Der – letztlich gescheiterte – Versuch der SED, Studenten Besuchsreisen in die Bundesrepublik während der Semesterferien zu verbieten. Das Verbot stieß auf massive Proteste an zahlreichen Universitäten und Hochschulen der DDR,113 die vielerorts von Professoren unterstützt wurden, so an der Karl-Marx-Universität Leipzig von dem Physik-Professor und SED-Mitglied Bernhard Kockel.114
Erst im Herbst 1956 rückten die Studenten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nirgendwo hatten der »Polnische Oktober« und der Volksaufstand in Ungarn so starken Widerhall gefunden wie an den Universitäten.115 Die ersten in den MfS-Berichten erfassten Diskussionen entzündeten sich an der mangelhaften Berichterstattung der DDR-Presse über die Wahl Gomułkas zum Parteichef in Polen. Auf Kritik stieß insbesondere ein im »Neuen Deutschland« abgedruckter »Prawda«-Artikel,116 der sich nach Auffassung der Studenten »in die inneren Angelegenheiten Polens« einmische und »keine Auseinandersetzung sondern Schimpferei« darstelle,117 sowie die Beschlagnahme der Ausgabe der »BZ am Abend«, in der Gomułkas Antrittsrede auszugsweise veröffentlicht worden war.118 Diese Maßnahme wurde in einem Artikel der Wandzeitung der medizinischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität als »Eingriff in die demokratischen Rechte« kritisiert.119 Schon wenige Tage später, am 28. Oktober, mussten die MfS-Berichterstatter feststellen, dass die kritischen Diskussionen der Studenten sich ausweiteten und auch von zahlreichen Professoren unterstützt wurden. Die Studenten forderten – universitätsübergreifend – u. a. die Bildung einer unabhängigen Studentenorganisation sowie die Abschaffung des gesellschaftwissenschaftlichen Grundstudiums und des obligatorischen Russischunterrichts. Auch allgemeinpolitische Forderungen bis hin zum Rücktritt von Walter Ulbricht wurden unter Bezugnahme auf die Führungswechsel in Polen und Ungarn gestellt.120 Die letzten Berichte des MfS zu den Studenten befassen sich mit der Bildung von improvisierten Studentenräten an den medizinischen Fakultäten121 und weiteren »Gruppenbildungen« an der Humboldt-Universität. Hier werden zum ersten Mal auch »Rädelsführer«, dem MfS zufolge »meist Studenten bürgerlicher Herkunft«, namentlich genannt.122
Weitere Schwerpunkte der Berichterstattung
Neben den behandelten Komplexen gab es im Jahr 1956 weitere Themen, über die die Abteilung Information schwerpunktmäßig berichtete. Über das gesamte Jahr verteilt wurden ausführliche Lageberichte zu den Blockparteien sowie zu verschiedenen Massenorganisationen erstellt.123 Diese entstanden nicht – wie bei den Informationen sonst üblich – aus aktuellem Anlass, sondern zeigten längerfristige Entwicklungen und grundsätzliche Probleme innerhalb dieser Organisationen auf. Die Berichte erlauben tiefe Einblicke in die Haltung der einfachen Mitglieder der jeweiligen Parteien und Organisationen zu aktuellen Problemen, in die – nicht selten desolaten – Verhältnisse auf lokaler und regionaler Ebene sowie in Konflikte, Intrigen und Grabenkämpfe innerhalb der Vorstände. Berichte ähnlichen Charakters liegen auch zu verschiedenen staatlichen Einrichtungen vor.124
Über das ganze Jahr hinweg wurden zudem immer wieder Berichte über »Hetzschriften« erstellt, also über von westlichen Organisationen wie den Ostbüros der bundesdeutschen Parteien, dem Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen oder der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit in die DDR eingeschleuste Propagandaflugblätter und -schriften. Diese werden ausführlich und nach Bezirken, Kreisen sowie nach Provenienz sortiert aufgelistet. Innerhalb dieser Kategorie ragen diejenigen über die Tätigkeit des SPD-Ostbüros quantitativ und qualitativ heraus.125 Neben der überdurchschnittlich hohen Aktivität des SPD-Ostbüros liegt das auch in der Tatsache begründet, dass die SPD die SED in viel grundsätzlicherer Weise herausforderte als die übrigen westdeutschen Parteien, war letztere doch aus der (Zwangs-)Vereinigung von KPD und SPD in der sowjetischen Besatzungszone hervorgegangen. Das MfS interessierte sich zudem für den Berliner Landesverband der SPD (die Partei war in Ostberlin zugelassen) sowie für die Stimmung ehemaliger SPD-Mitglieder innerhalb SED. Vor dem Hintergrund von Ulbrichts Angebot zu einer Zusammenarbeit mit der SPD vom März 1956, das von der bundesdeutschen SPD-Führung zurückgewiesen worden war, versuchte das MfS das Potenzial von Gegensätzen innerhalb der Sozialdemokratie auszuloten.126
Ebenfalls häufig und über das ganze Jahr hinweg sind Berichte über »Feindpropaganda« zu finden. Darin sind Zusammenfassungen von Artikeln sowie Einzelzitate aus westdeutschen und Westberliner Zeitungen bzw. Rundfunksendungen zusammengestellt. Solche Informationen liegen in allgemeiner Form vor,127 häufiger sind sie aber auf konkrete Ereignisse bezogen, etwa auf den XX. Parteitag der KPdSU128 oder die Schaffung der NVA.129 Abschnitte zum Thema »Feindpropaganda« finden sich auch am Ende zahlreicher weiterer Informationen. Dem MfS war natürlich bewusst, dass sich die Bevölkerung nicht ausschließlich durch die DDR-Medien informierte, sondern auch durch westliche Rundfunksender und Zeitungen. Zudem produzierten die westlichen Sender, insbesondere der RIAS, zahlreiche Sendungen, die sich direkt an die Bewohner der »Zone« wandten,130 und auch westliche Tageszeitungen, die in Berlin leicht erhältlich waren, enthielten zum Teil entsprechende Beilagen. Die Berichte über »Feindpropaganda« informierten nicht nur das Politbüro kompakt über die wichtigsten auf die DDR bezogenen Nachrichten aus den Westmedien, sondern erfüllten auch eine Funktion innerhalb die Stimmungsberichterstattung: Sie dienten dem Nachweis, dass viele der »feindlichen Argumente« aus der Bevölkerung auf den »Einfluss der Feindpropaganda« zurückzuführen waren.131 So heißt es in einem Stimmungsbericht zur III. Parteikonferenz der SED, »in stärkerem Maße« wären wieder »feindliche Äußerungen gegen die Partei sowie führende Funktionäre bekannt« geworden, die aber »auf den Einfluss der Feindpropaganda zurückzuführen« seien.132 In einem Fall findet sich sogar ein expliziter Hinweis auf diese Funktion: In einer Information über »Feindpropaganda zur Schaffung der Nationalen Volksarmee« heißt es am Ende: »Vorstehende Hinweise auf die Feindpropaganda sind bei Analysierung der Stimmung der Bevölkerung zu beachten. Bei Auftreten derartiger Argumente ist dies in den Informationsberichten gleich als Feindargument zu kennzeichnen.«133
3. Das MfS und die Abteilung Information im Jahr 1956
Anfang 1956 hatte der Staatssicherheitsdienst, der nach dem Juni-Aufstand von 1953 als Staatssekretariat dem Ministerium des Innern unterstellt worden war, gerade seit zwei Monaten wieder den Status eines Ministeriums erhalten. An seiner Spitze stand seit Juli 1953 Ernst Wollweber.134 Er galt als Mann Moskaus, ein echtes Vertrauensverhältnis zu Ulbricht bestand nie, und im Gegensatz zu seinem Vorgänger Zaisser erhielt er keinen Sitz im Politbüro. Wollweber gelang es, den durch das Debakel des Juni-Aufstands geschockten und geschwächten Apparat nach innen zu konsolidieren. Den bisher rasanten Mitarbeiterzuwachs bremste er und begann im Jahr 1956 sogar mit dem Abbau des Personals.135 Während seiner Amtszeit ging das MfS mit großer Härte gegen tatsächliche und vermeintliche »Feinde« und »Agenten« vor. Im Zuge der Strategie der »konzentrierten Schläge« kam es zwischen 1953 und 1955 zu zahlreichen generalstabsmäßig geplanten Verhaftungswellen, die sich vor allem gegen angebliche oder tatsächliche Verbindungsleute westlicher »Feindorganisationen« in der DDR richteten.136 Begleitet waren diese Verhaftungen von beispiellosen Propagandakampagnen, wie Wollweber überhaupt stärker als sein Vorgänger die Öffentlichkeit suchte. Ab Frühjahr 1955 baute er – auf Geheiß Moskaus – zudem die Westarbeit auf Kosten der Überwachung im Innern massiv aus. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU betrieb Wollweber eine »begrenzte Entstalinisierung« der Staatssicherheit.137 Auf der III. Parteikonferenz der SED räumte er »Fehler« ein, betonte aber, dass sein Ministerium nach »strengen Richtlinien« arbeite und die »Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit« für die Mitarbeiter des MfS »ernste Verpflichtung« sei.138 Das politische Tagesgeschäft überließ Wollweber, wie sein Vorgänger Wilhelm Zaisser, weitgehend seinem ersten Stellvertreter Erich Mielke. In den entscheidenden Monaten des Jahres war er ohnehin außer Gefecht gesetzt: Ende Mai erlitt er einen Herzinfarkt und hielt sich bis Mitte Oktober zur Kur in Polen auf. In dieser Zeit amtierte Mielke als Minister. Der schwelende Konflikt mit Ulbricht brach wohl auch deshalb erst Ende 1956 auf, als letzterer nicht zuletzt aufgrund der Herbstereignisse in Polen und Ungarn gestärkt war.139
Die Abteilung Information, die für die regelmäßige Information der SED-Führung zur Stimmung und Lage in der DDR zuständig war, war um die Jahreswende 1955/56 aus der Informationsgruppe in der Zentrale des Staatssicherheitsdienstes hervorgegangen.140 Wollweber hatte diese im August 1953 ins Leben gerufen, zugleich wurden entsprechende Informationsgruppen auch in den Bezirksverwaltungen gebildet. Während in der zentralen Informationsgruppe anfänglich nur vier Mitarbeiter tätig waren, wuchs sie in den Folgejahren rasch an und verfügte 1956 – nunmehr als Abteilung – bereits über 16 Mitarbeiter, womit sie ihre vorläufig größte Ausdehnung erhielt. Unter der Leitung von Heinz Tilch und seinem Stellvertreter Hans-Georg Filin gliederte sich die Abteilung in drei Referate. Das Referat I unter Leitung von Wolfgang Röhlig war für die Auswertung des Materials der Linien III (Volkswirtschaft), VI (Verteidigungsindustrie) und XIII (Verkehr) verantwortlich, das Referat 2 unter Heinz Seidel für die Linien II (Spionageabwehr), V (Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Untergrund) und VII (Volkspolizei). Heinz Krusch schließlich leitete das Referat III, das mit der Auswertung von sogenannten Feindmaterialien (im MfS-Jargon auch »Hetzschriften«) betraut war. Gemeint waren damit Propagandaschriften und Flugblätter, die westliche Organisationen per Ballon, Brief oder durch Handverteilung in die DDR einschleusten. Zahlreiche Berichte, in der diese Schriften akribisch nach Fundort, Herkunft und Inhalt aufgelistet bzw. ausgewertet sind, zeugen von der Arbeit dieses Referats.141
Die Abteilung Information 1956
4. Zur Struktur der Berichte
Die Edition umfasst insgesamt 537 Dokumente aus drei unterschiedlichen Berichtsserien, die jeweils aus der Ablage des Sekretariats der Abteilung Information beim MfS stammen. Die bei Weitem größte Gruppe bilden die sogenannten Informationen, die sich im Jahr 1956 zur Hauptserie entwickelten, mit 511 Berichten. Hinzu kommen die regelmäßig erstellten Informationsdienste, von denen 1956 22 herausgegeben wurden, sowie drei Analysen. Alle drei Serien wurden zur Information der politischen Führung der DDR angefertigt. Überliefert sind alle Berichtsreihen jedoch nicht im Bestand der ZAIG, die aus der Abteilung Information hervorging, sondern in der Allgemeinen Sachablage (AS), in der sie – weitgehend ungeordnet – abgelegt wurden. Lediglich die Verteiler sind separat im Bestand ZAIG überliefert.142 Sowohl was die Zahl der Dokumente als auch was den Gesamtumfang (rund 3 800 Blatt) angeht, liegt der Jahrgang weit über dem Durchschnitt; im Schnitt haben die übrigen Jahrgänge nur etwa ein Drittel dieses Umfangs.
4.1 Reihe Informationsdienste
Die Reihe Informationsdienste ist die älteste der Berichtsreihen der Abteilung Information; sie bildete sich bereits im Sommer 1953, kurz nach dem Volksaufstand vom 17. Juni heraus.143 Die Berichtsfrequenz des Informationsdienstes wechselte: Ursprünglich wurde er täglich, im Jahr 1954 sogar zwei- bis dreimal täglich ausgefertigt, ab Anfang 1955 wurde er nur noch zweimal wöchentlich und ab November 1955 alle zwei Wochen herausgegeben. Im Jahr 1956 wurden insgesamt 22 Informationsdienste erstellt, also zwei pro Monat mit Ausnahme des November. Dass der November übersprungen wurde, ist damit zu erklären, dass zwischen Ende Oktober und Anfang Dezember mindestens einmal täglich ausführliche Lageberichte erstellt wurden, die in die Hauptserie der Informationen eingereiht wurden und eine zusätzliche Herausgabe des Informationsdienstes überflüssig machten. Die Informationsdienste des Jahres 1956 sind vollständig überliefert, doch finden sich nicht alle in der Allgemeinen Sachablage der MfS-Zentrale. Daher musste auch auf die Parallelüberlieferung der Bezirksverwaltung Leipzig zurückgegriffen werden, bei manchen Ausgaben wurden auch beide Überlieferungen benutzt, wenn in der einen nur der Bericht selbst und in der anderen nur die Anlage überliefert war.144
Die Berichte des Informationsdienst zur Beurteilung der Situation in der DDR, so im Jahr 1956 der offizielle Langtitel, haben jeweils einen Umfang von 10 bis 20 Seiten. Sie verfügen über ein gedrucktes Vorblatt und eine von der ursprünglichen Struktur vom Herbst 1953145 abweichende einheitliche Gliederung, die folgende fünf Punkte umfasst:
- 1.
Die Lage in Industrie und Verkehr
- 2.
Die Versorgung der Bevölkerung
- 3.
Die Lage in der Landwirtschaft
- 4.
Ereignisse von besonderer Bedeutung
- 5.
Anlagen146
Unterhalb dieser Gliederungsebene gibt es weitere Rubriken, die regelmäßig wiederkehren, etwa Materialschwierigkeiten und Produktionsstörungen in den volkseigenen Betrieben oder Brände in Industrie und Landwirtschaft. Bis auf einen (Nr. 3) enthalten die Informationsdienste zusätzlich eine Anlage zur »Feindtätigkeit«, in der regierungskritische Losungen und Parolen, die Beschädigung von staatlichen Hoheitszeichen oder Bildern von Funktionären, anonyme Anrufe und ähnliche Vorkommnisse aufgelistet sind.
Die Berichterstattung der Informationsdienste ist weitgehend additiv: Bei den Diskussionen über politische Probleme oder den »besonderen Vorkommnissen« etwa werden hauptsächlich Einzelbeispiele aneinandergereiht; die Abschnitte zu Produktionsstörungen, Bränden usw. sind reine Auflistungen. Eine zusammenfassende Einschätzung oder Analyse erfolgt nur in rudimentären Ansätzen. Häufig wird bei bestimmten Sachverhalten oder Problemen auf eine ausführlichere Behandlung in den entsprechenden Berichten aus der Reihe der Informationen verwiesen. Die Informationsdienste dienten mithin dazu, der SED-Führung regelmäßig und nach einheitlichem Schema einen Gesamtüberblick über die Lage in der DDR zu vermitteln.
4.2 Reihe Informationen
Die Informationen (in den MfS-Quellen manchmal auch als »Informationsberichte« bezeichnet) stellen die Hauptserie der edierten Berichte dar. Sie bildete sich als solche erst im Jahr 1956 heraus, wobei mit den »Sonderinformationen« schon 1953 Vorläufer dieser Serie existierten;147 auch die ersten Informationen des Jahres 1956 tragen noch diese Bezeichnung. Im Gegensatz zu den Informationsdiensten verfügen die Informationen weder über ein Vorblatt noch über eine feste Gliederung.
Der Dokumentenkopf ist weitgehend einheitlich gestaltet: Links oben steht »Abteilung Information«, rechts oben »Berlin« und das Datum, darunter der Titel der Information. Ab Mitte des Jahres 1956 findet sich unter dem Datum in der Regel noch die Anzahl der gefertigten Exemplare sowie die Nummer des abgelegten Exemplars; dem Titel ist seitdem ein »Betr.« für »Betrifft« vorangestellt. Die Verteiler sind – wenn vorhanden – anfänglich handschriftlich im Dokumentenkopf vermerkt; ab Mitte des Jahres gibt es dafür eigene vorproduzierte Formulare, in denen die Adressaten handschriftlich eingetragen wurden. Längeren Berichten ist eine Gliederung mit Inhaltsübersicht vorangestellt, die jedoch nicht ediert wird.
Erst ab Mitte Juni 1956 sind die Informationen nummeriert; der erste nummerierte Bericht stammt vom 12. Juni und ist als »Information Nr. 7/56 – Betr.: 17. Juni« ausgewiesen,148 der zweite stammt vom selben Datum und trägt die Nr. 9;149 Berichte mit den Nummern 1 bis 6 sowie 8 sind nicht überliefert. Da diese Nummern zudem weder in einer – ansonsten weitgehend vollständigen – Liste mit in der Ablage der Abteilung Information fehlenden Berichten von Ende 1957 verzeichnet sind,150 noch, wie in anderen Fällen, Verteilerformulare oder Platzhalter in der jeweiligen Akte vorliegen, ist davon auszugehen, dass sie gar nicht erst vergeben wurden; möglicherweise wurden die Nummern für eventuelle, vor dem 12. Juni 1956 zu verteilende Berichte freigehalten. Von diesem Zeitpunkt an jedenfalls sind die Informationen mit wenigen Ausnahmen151 durchgehend nummeriert, wobei die Nummerierung wie in anderen Jahrgängen auch zuweilen leicht von der Chronologie abweicht. Offenbar hatte sich die Abteilung Information im Juni 1956 dazu entschieden, die bisher nur zum Teil in Unterreihen zusammengefassten Berichte sehr unterschiedlichen Charakters als »Informationen« in einer einheitlichen, durchgängig nummerierten Serie zusammenzufassen. Um eine eindeutige Zuordnung der nicht nummerierten Informationen zu ermöglichen, wurden diese vom Bearbeiter in chronologischer Reihenfolge durchnummeriert, wobei der Nummer zur Unterscheidung von den vom MfS nummerierten Informationen jeweils ein »M« (für »manuell nummeriert«) vorangestellt ist. Diese selbst generierten Nummern erscheinen in der Edition jeweils in eckigen Klammern hinter dem Titel bzw. der Betreffzeile des jeweiligen Berichts mit dem Zusatz »Information«.
Die Informationen des Jahrgangs 1956 sind in Umfang, Struktur und Inhalt sehr heterogen. Die Länge variiert von wenigen Zeilen bis zu 75 Seiten;152 in der Regel überschreiten sie jedoch einen Umfang von 20 Seiten nicht. Das thematische Spektrum ist ähnlich breit wie in späteren Jahren und reicht von Verkehrsunfällen und Havarien über Arbeitsniederlegungen und Lohndiskussionen bis hin zur Situation in Parteien oder Massenorganisationen. Einen besonders breiten Raum nehmen im Jahr 1956 Berichte über die Stimmung der Bevölkerung ein. Rund 130 Informationen dieses Jahrgangs sind im engeren Sinn als Stimmungsberichte zu kennzeichnen. Hier, wie auch in einigen anderen Fällen, legte die Abteilung Information noch eigene Unterserien an, innerhalb derer die einzelnen Berichte noch einmal durchnummeriert wurden. So wurden zwischen dem 18. Januar, dem Tag des entsprechenden Volkskammerbeschlusses, und dem 27. März 1956 13 Stimmungs- und Lageberichte zur Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) herausgegeben. Zum XX. Parteitag der KPdSU und zur III. Parteikonferenz der SED wurden acht bzw. zwölf Stimmungsberichte erstellt. Auch die 21 Berichte zu Arbeitsniederlegungen sind chronologisch durchnummeriert, obwohl sie unterschiedliche Betriebe betreffen.
Eine Besonderheit innerhalb der Serie Informationen des Jahrgangs 1956 stellen die erwähnten 46 Lageberichte dar, die vom 26. Oktober bis zum 1. Dezember erstellt wurden. Diese Informationen tragen die Betreffzeile »Lage in der Deutschen Demokratischen Republik«, in Klammern ist dahinter jeweils der Zeitraum des »eingegangenen Materials« genannt, der zwischen fünfeinhalb und 24 Stunden betragen konnte, zumeist aber jeweils zwölf Stunden umfasste, in der Regel von 8.00 bis 20.00 Uhr bzw. von 20.00 Uhr bis 8.00 Uhr des Folgetags. Die Berichte verfügten zwar nicht über eine gänzlich einheitliche Struktur, wohl aber über häufig wiederkehrende Rubriken wie »Lage in der Industrie«, »Lage in der Landwirtschaft«, »Versorgung«, »Besondere Vorkommnisse«, »Feindtätigkeit« usw. Innerhalb dieser Rubriken werden dann die jeweiligen Ereignisse, Stimmungen oder Probleme bezirksweise aufgelistet, ähnlich wie in den zweiwöchentlichen Informationsdiensten.153 Hintergrund für die rasche Abfolge von Lageberichten waren aller Wahrscheinlichkeit nach der Volksaufstand in Ungarn und die Unruhen in Polen, da man ein Übergreifen auf die DDR befürchtete. Diese tägliche Berichterstattung entsprach auch der Anweisung von Ernst Wollweber vom 12. Januar 1955, nach der vor dem Hintergrund der Reduzierung der Frequenz des Informationsdienstes auf ein zweimaliges wöchentliches Erscheinen »bei Eintreten einer besonderen Lage« vorübergehend täglich Sonderinformationen erstellt werden sollten.154
Wie in fast allen anderen Jahrgängen auch sind einige wenige Informationen aus dem Jahr 1956 im Bestand des Archivs des BStU nicht überliefert bzw. ließen sich nicht ermitteln. Da Verzeichnisse der Informationen erst ab dem Jahrgang 1959 vorliegen, lässt sich die Vollständigkeit lediglich für die nummerierten Berichte mit letzter Sicherheit überprüfen. Das MfS selbst hat Ende 1957 die in der Ablage der Abteilung Information fehlenden Berichte (hier als »Informationsberichte« bezeichnet) des Jahres 1956 dokumentiert. Es handelt sich dabei um 17 nummerierte Berichte, von denen aber nur elf tatsächlich nicht überliefert sind,155 die übrigen finden sich in der Allgemeinen Sachablage.156 In der Regel ist für diese fehlenden Informationen im Bestand ZAIG ein Verteiler überliefert, sodass sich zumindest der Betreff sowie der Adressatenkreis eruieren lassen, zumeist findet sich auch in den entsprechenden Akten der Allgemeinen Sachablage ein Platzhalter mit dem Hinweis »Information fehlt«. Bezogen auf die Gesamtzahl der Informationen bewegt sich die Zahl der nicht überlieferten Berichte (Anteil: 1,8%) im Rahmen dessen, was auch für andere Jahrgänge an Überlieferungslücken zu verzeichnen ist.157
Nicht ediert wurden Berichte, die sich ausschließlich mit Ereignissen im Ausland befassen und keinen Bezug zur DDR aufweisen. Diese finden sich im Bestand der ZAIG systematisch erst seit den Jahren 1959/60, als die neu geschaffene »Zentrale Informationsgruppe« (ZIG) zur zuständigen Instanz für das gesamte Informationswesen der Staatssicherheit einschließlich der für die Auslandsaufklärung verantwortlichen HV A wurde.158 Aus dem Jahrgang 1956 mussten daher nur wenige Berichte aussortiert werden. Dazu zählen drei Berichte mit dem Titel »Stimmen und Argumente zur Lage« vom 21. April, 28. April und 5. Mai. Dabei handelt es sich um Zusammenstellungen von Pressemeldungen westdeutscher, westeuropäischer und US-amerikanischer Provenienz, in denen es ausschließlich um innenpolitische Angelegenheiten der Bundesrepublik sowie um Fragen der internationalen Politik geht.159 Nicht aufgenommen wurde auch eine Information über »Faschistische und militärische Treffen in Westberlin«, die ebenfalls keinerlei Bezug zur DDR aufweist.160
4.3 Reihe Analysen
Die Reihe Analysen bestand seit dem September 1953. Es handelte sich dabei um 14-täglich erscheinende Berichte, in denen im Wesentlichen die Inhalte der Informationsdienste zusammengefasst wurden.161 Da die Informationsdienste im Jahr 1956 nur noch zweimal im Monat erstellt wurden, waren zusammenfassende Analysen in dieser Form nicht mehr sinnvoll. Die in diesem Jahrgang als Analysen bezeichneten Berichte tragen daher einen ganz anderen Charakter. Es handelt sich um überdurchschnittlich ausführliche Berichte zu Einzelthemen, die sich aber im Gegensatz zu den meisten Informationen mit Entwicklungen über einen längeren Zeitraum hinweg befassen. Eine klare inhaltliche oder formale Abgrenzung zu den Informationen ist indes – außer durch die Bezeichnung selbst – nicht möglich. Im Jahrgang 1956 sind lediglich vier Analysen überliefert: Sie befassen sich mit der Tätigkeit und dem Einfluss der SPD und des SPD-Ostbüros in der DDR, mit der Versorgungslage, mit der »Republikflucht« im Monat Juni162 sowie mit der Lage in den Baubetrieben.163 Letztere wurde nicht ediert, da sie textlich identisch ist mit der gleichnamigen Information Nr. 242/56164 – was zugleich die Schwierigkeit der Abgrenzung der Analysen zu den Informationen unterstreicht.
Unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer der drei Reihen ist Grundlage für die Edition in der Regel das Ablageexemplar, also das in der Abteilung Information verbliebene Exemplar der jeweiligen Information. Die übrigen Exemplare mussten die Adressaten aus konspirativen Gründen nach Lektüre an das MfS zurückgeben, die Rückgabe wurde sorgfältig kontrolliert und protokolliert und die Exemplare in der Regel vernichtet.165 Lediglich in 26 Fällen ist das von den Adressaten zurückgegebene Exemplar überliefert. Dabei handelt es sich zumeist um das an den Minister für Staatssicherheit Ernst Wollweber oder seinen Stellvertreter Mielke gerichtete Exemplar (6 bzw. 14 Mal); zweimal ist das Exemplar von Markus Wolf, dem Chef der HVA, und je einmal das Exemplar von Otto Grotewohl, Erich Mückenberger, Kurt Hager sowie der Hauptabteilung Personenschutz des MfS überliefert.
5. Adressaten und Rezeption
Adressaten
Über die Adressaten der Berichte lassen sich genauere Aussagen erst für die zweite Jahreshälfte 1956 treffen, für die fast lückenlos Verteiler überliefert sind. In der ersten Jahreshälfte finden sich nur für gut die Hälfte der Berichte überhaupt Verteiler, von denen überdies ein großer Teil unvollständig zu sein scheint. In der Regel sind die Adressaten in diesem Zeitraum mit Bleistift im Dokumentenkopf vermerkt, zum Teil schwer lesbar und oft in kryptischen Abkürzungen. Als häufige Kürzel tauchen »Ia«, »Ib« und »Ic« auf. Trotz intensiver Recherche ließ sich nicht zuverlässig ermitteln, wofür diese Kürzel stehen. Da für einige wenige Informationen aus dem Juni 1956 neben diesen Kürzeln auch Angaben aus einer Rückgabetabelle166 bzw. aus dem Postausgangsbuch vorliegen,167 ließ sich ein Abgleich vornehmen, der nahelegt, dass Ia, Ib und Ic für verschiedene Adressatengruppen stehen, und zwar Ia für die Vollmitglieder des Politbüros (mit Ausnahme von Wilhelm Pieck),168 Ib für die Führungsspitze des MfS169 und Ic für die Kandidaten des Politbüros170 sowie die ZK-Sekretäre.171 Ein exakter Nachweis für diese Zuordnung ist jedoch nicht möglich.
Der Adressatenkreis der Berichte des Jahres 1956 ist im Vergleich mit späteren Jahrgängen sehr groß. Die Verteiler umfassen bis zu 56 Empfänger, wobei sowohl der MfS-interne als auch der externe Adressatenkreis sehr umfangreich waren. Auch sind die Verteiler viel stärker standardisiert als in den anderen Jahrgängen. Ein Großteil der Berichte ging routinemäßig an das gesamte Politbüro (Mitglieder und Kandidaten) und die ZK-Sekretäre sowie MfS-intern an den Minister, sämtliche Stellvertreter und Joseph Gutsche als Mitglied des Kollegiums sowie an die Chefs aller Bezirksverwaltungen und der Verwaltungen von Groß-Berlin und der SDAG Wismut.172
Trotzdem lassen sich in der Gesamtschau natürlich Unterschiede zwischen den verschiedenen Adressaten feststellen. Die Liste der häufigsten Adressaten führt mit Abstand die Verbindungsstelle des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Ostberlin an, die in den Verteilern als »Freund« auftaucht. An den KGB gingen 317 Berichte und damit fast alle, für die sich überhaupt eine externe Verteilung nachweisen lässt. In 74 Fällen ist der KGB sogar der einzige externe Adressat. Dies unterstreicht die außerordentlich hohe Bedeutung, die der sowjetische Geheimdienst in den 1950er Jahren für die Arbeit des MfS besaß. Zum Vergleich: In den 1970er Jahren lag der Anteil der Berichte, die nach Karlshorst gingen, bei weniger als 10 Prozent.173
An zweiter Stelle der externen Adressaten steht mit 238 Berichten – wenig überraschend – Walter Ulbricht als Erster Sekretär des ZK der SED und eigentlicher Machthaber in der DDR. Es folgt Karl Schirdewan mit 226 Berichten. Schirdewan war nach Willi Stoph das jüngste Vollmitglied des Politbüros und hatte eine steile Karriere hinter sich: Erst seit 1953 gehörte er dem höchsten Parteigremium an und verfügte darüber hinaus als ZK-Sekretär für Leitende Organe der Parteien und Massenorganisationen und Mitglied der Sicherheitskommission beim Politbüro über wichtige Schlüsselfunktionen innerhalb der Führungsebene der SED. Er entwickelte sich im Laufe des Jahres 1956, in dem Ulbrichts Stuhl zu wackeln schien, zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für den Ersten Sekretär, verlor aber im Folgejahr den Machtkampf mit Ulbricht und wurde Anfang 1958 aus dem Politbüro und dem ZK ausgeschlossen.174 Die zahlenmäßigen Unterschiede bei den übrigen SED-Spitzenleuten sind nicht mehr sonderlich signifikant oder sie sind durch längere Abwesenheit bedingt wie bei Erich Honecker, der sich zu Schulungszwecken in Moskau aufhielt. Andere Abweichungen erklären sich durch die fachpolitische Zuständigkeit: So erhielten die ZK-Sekretäre für Wirtschaft (Ziller) und Landwirtschaft (Mückenberger) von den Informationsdiensten zeitweilig nur die in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich fallenden Abschnitte »Zur Lage in Industrie und Verkehr« bzw. »Die Lage in der Landwirtschaft«.
Dass die Parteifunktionäre wesentlich häufiger bedacht wurden als die Fachminister ist kein Spezifikum des Jahres 1956, sondern Ausdruck der dominierenden Stellung der SED im Herrschaftssystem der DDR und der besonderen Rolle des Staatssicherheitsdienstes, der sich in erster Linie als »Schild und Schwert« der Partei verstand.175 Doch ist die Diskrepanz zwischen hohen Parteifunktionären einerseits und Ministern und rangniedrigeren Parteifunktionären andererseits im Jahr 1956 noch viel größer als in späteren Jahrzehnten. Außerhalb der genannten SED-Führungsspitze erhielten nur zwei Personen mehr als einen Bericht: Ernst Lange als Leiter der ZK-Abteilung für Handel und Versorgung und Curt Wach als Minister für diesen Bereich tauchen acht bzw. sieben Mal im Verteiler von Berichten auf. Dabei handelte es sich um solche, die unmittelbar mit ihrem Zuständigkeitsbereich zu tun hatten, wie »Lieferung von Baumwolle aus der Sowjetunion«, »Arbeitskräftefluktuation aus den Handelsbetrieben« oder »Versorgungsschwierigkeiten im Bezirk Schwerin«176. Adressatin mit dem formal niedrigsten Rang war Margot Honecker als Abteilungsleiterin in der Hauptabteilung Lehrerbildung des Ministeriums für Volksbildung und Kandidatin des ZK der SED. Ihr wurde ein Bericht über die Streikandrohung eines Professors an der Pädagogischen Hochschule Potsdam zugeleitet.177
Aussagen über den Anteil der lediglich intern verteilten Berichte lassen sich wiederum nur für die zweite Jahreshälfte 1956 treffen, in der 47 von 376 Informationen das MfS nicht verließen, also exakt ein Achtel. Dieser Anteil liegt innerhalb der bisher untersuchten Jahrgänge im oberen Mittelfeld.178 Ein klares Muster hinsichtlich des Inhalts der nicht extern verteilten Berichte ist nicht auszumachen, wohl aber sind bestimmte Schwerpunkte zu beobachten. So wurden Berichte über die Einschleusung von westlichen Propagandaschriften häufig nur intern verteilt, Gleiches gilt für Informationen, die sich mit Zwischenfällen an der innerdeutschen Grenze befassen. Auch drei auf der Auswertung einer ganzen Reihe von bereits erstellten Informationen und Informationsdiensten beruhende Berichte, in denen durchgeführte und angedrohte Arbeitsniederlegungen bzw. Fälle von (vermutlicher) Sabotage und Diversion sowie Brände tabellarisch aufgelistet sind, wurden offenbar nur für den internen Gebrauch erstellt.179 In einem Fall lässt sich feststellen, dass eine Information für die externe Verteilung abgeändert wurde: Von einem Bericht über das Spielfilmstudio der DEFA, in dem es um die mögliche Abwanderung von Mitarbeitern zur westdeutschen UFA geht, existieren zwei Fassungen: Die Ursprungsfassung, die mehrere Namen von DEFA-Mitarbeitern enthält, wurde nur intern sowie an das Verbindungsbüro des KGB verteilt; für das ZK der SED wurde eine veränderte (Kurz-)Fassung erstellt, in der keine Namen genannt werden.180 Offenbar legte das MfS hier besonderen Wert auf Konspiration.
Der Hinweis, dass eine Information überhaupt nicht, also weder extern noch intern verteilt wurde, findet sich nur in zwei Fällen: Ein undatierter Bericht – der laufenden Nummer zufolge in der zweiten Novemberhälfte erstellt – über die vom 1. bis 23. September dauernde Internationale Polizeiausstellung in Essen enthält den Vermerk »nicht verteilt, weil zu alt.«181 Ein Lagebericht aus dem November wurde nicht verteilt, weil die darin aufgelisteten Vorkommnisse im darauffolgenden Bericht mit aufgeführt wurden.182
Rezeption
Über die Rezeption der Berichte durch die politischen Entscheidungsträger lassen sich nur wenige Aussagen treffen. Eine diesbezügliche Analyse würde eine systematische Recherche in den entsprechenden Archivbeständen erfordern, die im Rahmen dieser Edition nicht geleistet werden kann. Angesichts der hohen Frequenz und des großen Umfangs der Berichte sowie des zumeist großen Adressatenkreises ist ohnehin nicht davon auszugehen, dass alle Empfänger jeden einzelnen Bericht ausführlich studiert haben.183
Lediglich die vereinzelt überlieferten Rückgabe-Exemplare erlauben hier und da Aufschluss zur Frage der Rezeption. So zeugen zahlreiche handschriftliche Randmarkierungen und -bemerkungen in dem überlieferten Exemplar eines immerhin 53 Blatt umfassenden Berichtes »Über die Lage in der Deutschen Demokratischen Republik« vom 1. Oktober 1956 von einer gründlichen Lektüre.184 Offensichtlich zweifelte der Leser – es handelte sich entweder um Otto Grotewohl oder um Bruno Leuschner185 – an manchen Aussagen dieser Information, denn mehrfach finden sich Fragezeichen am Rand; an einer Stelle, in der es um zu erwartende Fehlmengen beim Import von Kaffee- und Kakaowaren geht, heißt es sogar »falsch«.
In einem Fall lässt sich die direkte Reaktion eines Politikers auf einen Bericht nachweisen. Dabei handelt es sich um eine Information über die Vorstandswahlen der VdgB vom 9. November 1956, in dem u. a. ein zu starker Einfluss von Großbauern bemängelt wird.186 Erich Mückenberger nahm den Bericht in seiner Eigenschaft als ZK-Sekretär für Landwirtschaft zum Anlass, die Bezirksleitungen der SED zu einer verstärkten »Anleitung« der Wahlen in den Kreisen und Gemeinden aufzufordern. Auch der Zentralvorstand der VdgB sandte zu diesem Zweck Beauftragte in die Bezirke. Parallel dazu wies der stellvertretende Minister für Staatssicherheit Otto Last die Bezirksverwaltungen an, alle »Signale und Vorkommnisse« im Zusammenhang mit den Wahlen über die Informationsgruppen der Bezirke an die Abteilung Information in der MfS-Zentrale zu melden.187
Häufiger zu finden ist interne Kritik an Inhalt, Form oder Adressatenkreis der Informationen. So vermerkte der Chef der Auslandsaufklärung, Markus Wolf, auf einer Information über »Gegensätze innerhalb der Berliner SPD« vom 9. Juli 1956:188 »Solche Inform[ationen] sollten der HV A zur Auswertung zugeleitet werden, da sie als Sonderinform[ation] zu belanglos sind, unsere Inform[ationen] aber ergänzen.« Ob es Wolf hier tatsächlich um die »Entlastung« der Adressaten von »belanglosen« Informationen ging oder ob er sich den exklusiven Zugang zu Informationen, die den Westen betrafen, sichern wollte, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden.
In einem Bericht über die Kapazitätsauslastung und Materiallage der metallverarbeitenden Industrie für das Planjahr 1957189 führten um den Faktor 100 erhöhte Zahlenangaben im Zusammenhang mit der benötigten Menge an Stahl für den Bau einer Brücke zu einer eingehenden internen Untersuchung innerhalb der Abteilung Information. Die Herkunft der falschen Zahlen konnte der mit der Untersuchung beauftragte stellvertretende Leiter der Abteilung Hans Filin nicht genau klären, auch weil die für die Information ausgewerteten Berichte »ohne Registratur von Mann zu Mann an die einsendende HA« zurückgegangen waren. Der zuständige Mitarbeiter hielt einen Schreibfehler für möglich. Filin zog für die Arbeit seiner Abteilung die Schlussfolgerung, »dass die Mitarbeiter die Berichte auch auf die Logik ihres Inhalts noch mehr prüfen müssen und weiterhin auch die Quellenregistratur einer Änderung bedarf«.190
Weit gravierender und grundsätzlicher war die Kritik des – wegen Wollwebers krankheitsbedingter Abwesenheit – amtierenden Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke an der Informationspolitik der Bezirksverwaltungen im Juli 1956. In der Gemeinde Cotta im sächsischen Kreis Pirna war es seit Anfang Juni auf Bauernversammlungen zu Protesten gekommen, die auch auf benachbarte Gemeinden übergriffen.191 Die MfS-Zentrale in Berlin hatte davon aber erst gut einen Monat später und nicht durch die MfS-Bezirksverwaltung Dresden, sondern »auf Umwegen« erfahren. Unmittelbar danach erstellte die Abteilung Information dazu einen Bericht, der an alle Stellvertreter sowie an alle Leiter der Hauptabteilungen, der selbstständigen Abteilungen und der Bezirksverwaltungen des MfS ging. Letztere erhielten darüber hinaus ein geharnischtes Anschreiben Mielkes, in der er der Bezirksverwaltung Dresden vorwarf, »in diesem ernsten Fall nicht rechtzeitig erkannt« zu haben, »welche Gefahren politischer und operativer Art sich aus den Ereignissen in Cotta entwickeln können«, und eine Untersuchung dieses »große[n] Verstoß[es] gegen die gültigen Anordnungen« sowie die »Bestrafung der Schuldigen« ankündigte. Warnend fügte er hinzu: »Alle Leitungen der Bezirksverwaltungen wurden schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Nichteinhaltung der Anweisungen disziplinarische Maßnahmen nach sich zieht. Die Leitung des Ministeriums ist der Meinung, dass bisher anscheinend einige leitende Mitarbeiter in den Bezirken diesen Hinweis nicht ernst nehmen. Es werden daher alle verantwortungsvollen Genossen aufgefordert, mit dem für die Partei und die Arbeiterklasse schädlichen Verhalten, wichtige Ereignisse nicht zu melden, Schluss zu machen, damit sich eine gewissenhafte, verantwortungsvolle Meldepflicht und Berichterstattung durchsetzt.«192
6. Genese
Über die grundsätzliche Arbeitsweise der Abteilung Information bei der Erstellung der Stimmungs- und Lageberichte sowie der Einzelinformationen193 hinaus lassen sich für einige Berichte des Jahrgangs 1956 konkretere Hinweise im Hinblick auf ihre Genese ermitteln. Deutlich wird etwa, dass insbesondere die Stimmungsberichterstattung aus den Bezirken konkreten Vorgaben der MfS-Zentrale folgte. Vor bestimmten Anlässen, etwa dem 80. Geburtstag von Staatspräsident Pieck, dem Volkskammerbeschluss zur Bildung der Nationalen Volksarmee oder dem Tag der Arbeit (1. Mai) gingen Fernschreiben an alle Bezirksverwaltungen heraus, sodass diese sich auf die Zusammenstellung von Stimmungsberichten vorbereiten konnten.194 Auch Berichte über »Feindtätigkeit«, etwa zur Leipziger Herbstmesse oder zur Verbreitung von Propagandamaterial aus dem Westen (im MfS-Jargon »Hetzschriftenverbreitung«) wurden auf diese Weise angefordert.195 Nicht immer erfolgte die Zuarbeit der Bezirksverwaltungen zur Zufriedenheit der Abteilung Information. So beklagte diese im Juni, dass die »Berichterstattung einiger Bezirksverwaltungen über die Verbreitung von Hetzschriften sehr unübersichtlich« sei und eine »ordnungsgemäße Erfassung und Weitermeldung seitens der Abteilung Information« erschwere bzw. »fast unmöglich« mache. Die Abteilung Information präzisierte daher noch einmal ihre Vorgaben und fügte als Anlage ein Muster für die Berichterstattung bei. Diese interne Anweisung an alle Bezirksverwaltungen wurde bemerkenswerterweise als gewöhnliche nummerierte Information versandt.196
Nachzuvollziehen ist in einigen Fällen auch, dass Erkenntnisse aus bereits verteilten Informationen wenig später Eingang in andere Berichte fanden. Beispielsweise wurden zwischen dem 20. Januar und dem 7. Februar in rascher Folge kurze Berichte über die Festnahme von Jugendlichen geschrieben, die des Versuchs der Republikflucht verdächtigt wurden.197 Bis auf einen finden diese sich am selben oder am Folgetag in zusammengefasster Form als Punkt »VI. Republikflucht Jugendlicher« in den Stimmungs- und Lageberichten zur Gründung der Nationalen Volksarmee wieder.198 Ein weiteres Beispiel ist die knappe Information über »Bestrebungen der kleinbürgerlichen Partien – hauptsächlich der CDU – den Einfluss der SED zu mindern«, die aus der wortgleichen Übernahme des entsprechenden Abschnitts einer wenige Tage zuvor erstellten ausführlichen Information über die »kleinbürgerlichen Parteien« insgesamt besteht.199
Es finden sich darüber hinaus Vorstufen zu Informationen, die nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind, weil sie über eine eigene Nummer innerhalb der Serie verfügen. So enthält die Information Nr. 263/56 über die »Situation in Industrie und Landwirtschaft« vom 20. Oktober zahlreiche handschriftliche Streichungen, Korrekturen und Ergänzungen; einzelne Tatbestände sind mit dem Klammerzusatz »noch nicht überprüft« versehen.200 Fünf Tage später findet sich der gleiche Bericht, in dem die genannten Korrekturen und Ergänzungen umgesetzt sind, mit der Betreffzeile »Situation in der DDR« als Information Nr. 274/56 erneut.201 Während die erstgenannte Information nur an Mielke ging, wurde letztere auch extern verteilt. Ein ähnlicher Fall findet sich kurze Zeit später bei einem der täglichen Lageberichte vom November.202 Offenbar wurden manche Informationen schon mit einer Nummer versehen und in die Serie eingereiht, bevor sie intern überprüft waren.
7. Druckauswahl und Formalia
Würden sämtliche ZAIG-Berichte des Jahres 1956 im vorliegenden Buchformat gedruckt, hätten sie insgesamt einen Umfang von fast 3 000 Seiten. Vollständig werden sie in Form einer Datenbank (www.ddr-im-blick-1956.de) zur Verfügung gestellt, die eine Volltextrecherche ermöglicht. Für die Druckfassung des Buches konnte nur eine begrenzte Zahl von Berichten ausgewählt werden. Dabei wurde zum einen angestrebt, einen möglichst repräsentativen Querschnitt aus den Themenfeldern dieses Jahrgangs zu bieten. Zum anderen wurden Berichte ausgewählt, die für das Jahr 1956 – und darüber hinaus – von besonderer Bedeutung sind.
Die Berichte weisen zahlreiche orthografische, grammatikalische und stilistische Mängel auf. Diese sind zwar nicht so gravierend wie im ersten Berichtsjahr 1953, doch ist die Qualität der Berichte noch weit von dem Standard der 1970er und 1980er Jahre entfernt. Einfache Tipp- und Schreibfehler sowie geringfügige Grammatikfehler wie falsche Endungen wurden stillschweigend korrigiert. Größere stilistische Unebenheiten und gravierende Grammatikfehler, insbesondere Satzbaufehler, wurden hingegen aus Gründen der Quellenauthentizität unverändert ediert und gegebenenfalls mit einem »sic!« in eckigen Klammern versehen. Ungebräuchliche Abkürzungen wurden stillschweigend in gebräuchliche umgewandelt oder aufgelöst.
Besonders häufig sind Orts- und Personennamen sowie volkseigene Betriebe falsch geschrieben, vielfach kommt es auch zu falschen geografischen bzw. institutionellen Zuordnungen. Hier wurden auch geringfügige Abweichungen im Fußnotenkommentar nachgewiesen, um die mangelhafte sprachliche Qualität der Berichte der 1950er Jahre und die zahlreichen durch fernmündliche Weitergabe von Informationen entstandenen Falschschreibungen und Verwechslungen zu dokumentieren. In Fällen, wo die Schreibweise so entstellt ist, dass Personen, Orte, Institutionen und Begriffe nicht oder nicht mit letzter Sicherheit ermittelt werden konnten, werden im Fußnotenkommentar in der Regel eine oder mehrere mögliche Lösungen angeboten. Das bringt es mit sich, dass »vermutlich« eines der am häufigsten verwendeten Wörter in den Fußnoten ist.
Aus Gründen des Datenschutzes mussten zahlreiche Personennamen anonymisiert werden. Da es sich in diesen Fällen fast ausschließlich um völlig unbekannte Personen handelt, die in anderen Zusammenhängen nicht wieder auftauchen, wird die Aussagekraft der betroffenen Quellen dadurch nicht beeinträchtigt. Durch Nummerierung oder anderweitige Kennzeichnung ist zudem gewährleistet, dass die Namen – ggfs. auch dokumentenübergreifend – eindeutig zugeordnet werden können und der Inhalt der Dokumente verständlich bleibt. Nur in einem Fall musste aus Datenschutzgründen auch eine kurze inhaltliche Passage weggelassen werden, da überwiegend schutzwürdige Interessen einer Person betroffen waren, die sich aufgrund bereits veröffentlichter Dokumente zu diesem Fall nicht anonymisieren ließ.
Gemäß Stasi-Unterlagengesetz (§ 32 a) wurden Personen der Zeitgeschichte oder politische Funktionsträger vor der Veröffentlichung von Dokumenten, die Informationen über sie enthalten, benachrichtigt. Darüber hinaus wurden einige Betroffene, die nicht zu diesen Personenkategorien zählen, um Einwilligung zur Offenlegung ihrer Namen bzw. sie betreffender Informationen gebeten. Dieses sehr aufwendige Verfahren dient dem Schutz der Persönlichkeitsrechte und ermöglicht den Betroffenen, zu den in den Dokumenten dargestellten Sachverhalten Stellung zu nehmen, betraf im Jahrgang 1956 aus nachvollziehbaren Gründen indes nur eine überschaubare Anzahl von Personen. Lediglich in einem Fall gab es eine Rückmeldung eines Betroffenen, die die Richtigstellung von Angaben zu seiner Person in einer Fußnote ermöglichte.203
8. Schlussbetrachtung
1956 war ein bewegtes Jahr. Der Entstalinisierungsprozess, ausgelöst durch den XX. Parteitag der KPdSU im Februar, hatte in vielen Ländern des kommunistischen Blocks tiefe Spuren hinterlassen: Denkmäler und Regierungen stürzten, alte Gewissheiten gingen über Bord, Politiker, die eben noch im Gefängnis gesessen hatten, kehrten in ihre Ämter zurück. In Polen und Ungarn wurden im Kampf gegen Unterdrückung über 2 000 Menschen getötet, die Zahl derjenigen, die ins Exil gingen, geht in die Hunderttausende. Nichts schien mehr zu sein wie zuvor. Schaut man hingegen auf die DDR am Ende des Jahres, hatte sich auf den ersten Blick nichts verändert: Ulbricht saß wieder so fest im Sattel wie vor dem XX. Parteitag, ja im SED-Politbüro hatte es nicht einen einzigen personellen Wechsel gegeben. Reformen blieben in Ansätzen stecken oder verliefen – wie die Arbeiterkomitees – nach wenigen Monaten im Sande.
Trotzdem ging das Krisenjahr des Kommunismus keineswegs spurlos an der DDR vorüber. Die Bevölkerung diskutierte so offen wie noch nie über politische Fragen, in den volkseigenen Betrieben rumorte es, Studenten wehrten sich erfolgreich gegen das Westreiseverbot und solidarisierten sich mit den Aufständischen in Ungarn. All dies spiegelt sich in den in diesem Band versammelten Berichten der Abteilung Information. Doch auch von der besonderen politischen Situation des Jahres 1956 unabhängige Probleme, Sorgen und Nöte, die den Alltag der Menschen prägten, werden sichtbar: Mängel in der Versorgung mit Lebensmitteln und Kohle, Schwierigkeiten mit dem Material und den Arbeitsabläufen in Industriebetrieben, willkürliche Versetzungen und Arbeitskräftemangel, Unfälle und Havarien.
Kaum Resonanz findet in den Informationen jedoch ein anderes Phänomen, das gewöhnlich eng mit dem Jahr 1956 verbunden wird: Die Debatten unter Intellektuellen über die Konsequenzen aus der Entstalinisierung, die kritischen Artikel in Zeitungen und Zeitschriften und die Bestrebungen der SED-Führung, solche Diskussionen zu unterbinden, die in der Verhaftung des Philosophen Wolfgang Harich, des Verlegers Walter Janka und weiterer Intellektueller gipfelten. Diese Leerstelle fällt vor allem im Kontrast zu der intensiven Berichterstattung über die Diskussionen und Arbeitsniederlegungen in den Betrieben auf, während in der Forschung bis heute betont wird, dass sich die Entstalinisierung in der DDR – im Gegensatz zu Ungarn und Polen – fast ausschließlich auf die Intellektuellen und die Parteielite, aber kaum auf die einfachen Arbeiter und Angestellten ausgewirkt habe.204 Armin Mitter und Stefan Wolle haben schon früh auf diese bei der Betrachtung der Berichte der Abteilung Information augenfällige Diskrepanz hingewiesen und das besondere Interesse des MfS an den »einfachen« Menschen wie folgt erklärt: »Die Unruhe in den eigenen Reihen ließ sich in letzter Konsequenz immer unterdrücken. Auch mit einigen unbotmäßigen Studenten und Künstlern wurde man mühelos fertig. Wenn sich aber der politische Unwille der Massen über die schlechten Lebensbedingungen mit der Forderung nach Demokratie und Freiheit verband, drohte die Situation für den kommunistischen Machtapparat existentiell gefährlich zu werden.«205
Dies ist sicher eine plausible Erklärung. Hinsichtlich des weitgehenden Fehlens von Berichten zu den intellektuellen Debatten wäre zu ergänzen, dass diese bis zum Herbst 1956 als legitim galten, da sie die von der SED nach dem XX. Parteitag großzügiger gezogenen Grenzen nicht überschritten. Nach dem 4. November, dem Beginn der militärischen Intervention der Sowjets gegen die Regierung Nagy in Ungarn, wurden diese Grenzen neu definiert und bisher tolerierte Ideen galten nun als »feindlich«, weshalb Harich und Janka im November bzw. Dezember verhaftet wurden. In der MfS-Berichterstattung schlägt sich dieses Thema daher vermutlich erst im Folgejahr nieder, in dem die Prozesse stattfanden. Auch der Machtkampf im Politbüro, der sich an den unterschiedlichen Auffassungen darüber, welche Konsequenzen aus dem XX. Parteitag für die DDR zu ziehen waren, entzündete, kam erst 1957 offen zum Ausbruch und zog sich bis Anfang 1958 hin.
Der Editionsjahrgang 1956 zeigt einmal mehr, dass die Informationen des MfS für die SED-Führung zwar in der Regel die wesentlichen Entwicklungen und Probleme in der DDR des jeweiligen Jahres erfassen, aber eben auch ganz eigene, spezifische Schwerpunkte setzen und manch relevante Themen nur peripher behandeln. Bernd Florath hat in seiner Einleitung zum Editionsjahrgang 1965 konstatiert, dass sich einige für dieses Jahr wichtige politische, ökonomische und soziale Fragen, »nicht unbedingt adäquat in der Berichterstattung des MfS widerspiegeln« und in diesem Zusammenhang die Frage nach dem »Vermögen [des MfS], die Kernprobleme eines Landes, für dessen innere Sicherheit es verantwortlich gemacht wurde, zu erkennen«, aufgeworfen.206 Für 1956 ist gleichsam komplementär zu konstatieren, dass eine Gesamtschau auf die Berichte eines Jahrgangs den Blick für Ereignisse und Entwicklungen öffnet, die – wie die Proteste und Streiks der Arbeiter – bisher unterbelichtet geblieben sind.
Anhang
Tabelle 1: Adressaten der Berichte außerhalb des MfS207213Name, Vorname | Funktion |
---|---|
Ib | Internes Kürzel für eine Adressatengruppe, vermutlich die Führungsspitze des MfS (Wollweber, Mielke, Beater, Gartmann, Walter, Weikert, Markus Wolf, Joseph Gutsche)214 |
Beater, Bruno | stellvertretender Minister für Staatssicherheit, zuständig für die Anleitung der HA II, HA V und der Abteilung VII |
Berger, Helmut | Leiter der Abteilung 2 der HA III |
Beyer, Gerhard | Leiter des Referats F (Handel und Versorgung) in der Abteilung 2 der HA III |
Bilke, Paul | Abteilungsleiter in der Arbeitsgruppe WTA |
Borrmann, Gustav | Leiter der Abteilung Agitation |
Carlsohn, Hans | persönlicher Referent des 1. stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke |
Filin, Hans | stellvertretender Leiter der Abteilung Information |
Fochtmann, Kurt | Hauptsachbearbeiter in der HA III |
Gartmann, Hermann | stellvertretender Minister für Staatssicherheit und Leiter der HV Innere Sicherheit (Deutsche Grenzpolizei, Bereitschaftspolizei, Transportpolizei) |
Gutsche, Joseph | Leiter der Kontrollinspektion und Mitglied des Kollegiums des MfS |
Hennig, Alfred | Hauptsachbearbeiter in der Abteilung Information |
Hildebrandt | Mitarbeiter der HA III |
Hofmann, Artur | Leiter der HA III |
Kleine, Alfred | stellvertretender Leiter der HA III |
Kleinjung, Karl | Leiter der HA I |
Last, Otto | stellvertretender Minister für Staatssicherheit, zuständig für die Anleitung der HA III, HA XIII und Abteilung VI |
Mielke, Erich | 1. stellvertretender Minister für Staatssicherheit, zuständig für die Anleitung der HA I, HA IX, HA PS, Abteilung Information und Abteilung Agitation |
Reinhardt, Werner | Hauptsachbearbeiter in der Abteilung Information |
Schröder, Fritz | Leiter der HA V |
Schulz(e), Herbert | Sachbearbeiter in der HA V |
Strauch, Walter | stellvertretender Leiter der Abteilung 3 in der HA II, verantwortlich für das Referat G (Ministerium für Landwirtschaft und Forsten, Staatssekretariat für Erfassung und Aufkauf) |
Stupka, Helga | Hauptsachbearbeiterin in der Abteilung Information |
Tohde | konnte nicht ermittelt werden |
Walter, Otto | stellvertretender Minister für Staatssicherheit, zuständig für die Anleitung der HA Verwaltung und Wirtschaft, Abteilung Finanzen, Abteilung Nachrichtenverbindung und Waffen und Abteilung XIV |
Weidauer, Herbert | stellvertretender Leiter der HA III |
Weikert, Martin | stellvertretender Minister für Staatssicherheit, bis Mai 1956 zuständig für die Anleitung der HA S, Abteilung M, Abteilung VIII, Abteilung XI und Abteilung XII; ab Mai 1956 Leiter der BV Groß-Berlin |
Wolf, Markus | stellvertretender Minister für Staatssicherheit, Leiter der HV A |
Wollweber, Ernst | Minister für Staatssicherheit |