Einschätzung der Stimmung in Leipzig im Hinblick auf die Herbstmesse
27. August 1956
Information Nr. 172/56 – Betrifft: Einschätzung der Stimmung in Leipzig im Hinblick auf die Herbstmesse
Gegenwärtig beschäftigt sich der größte Teil der Arbeiter und Angestellten in den wichtigsten VEB in Leipzig neben den politischen Ereignissen – wie Verbot der KPD1 und dem Sues-Konflikt2 – mit dem auf dem 28. Plenum des ZK3 gestellten ökonomischen Aufgaben.
Die auf dem 28. Plenum des ZK gestellten Aufgaben zur Verbesserung der Lebenslage aller Werktätigen – Einführung des 7-Stundentages-, Rentenreform und Abschaffung der Lebensmittelkarten4 – finden beim größten Teil der Arbeiter Zustimmung. Jedoch ist festzustellen, dass ein Teil der Arbeiter an der Realisierung dieser Maßnahmen zweifelt. Andererseits tragen einige Schwierigkeiten in den Betrieben dazu bei, dass solche Meinungen bei den Arbeitern vorhanden sind.
So besteht in einigen wichtigen Betrieben des Schwermaschinen- und Maschinenbaues in Leipzig, z. B. im VEB VTA, Kirow-Werk und BBG, schon seit Beginn dieses Jahres ein großer Mangel an Rohmaterial, besonders an verschiedenen Sorten Walzmaterial. Durch diesen Materialmangel ist der kontinuierliche Produktionsablauf sehr stark gehemmt. Teilweise mussten Fachkräfte mit Hilfsarbeiten beschäftigt oder in andere Betriebe umgesetzt werden. Außerdem entstehen laufend viele Wartestunden, wodurch sich die Verdienstmöglichkeiten verschlechtern. Mit all diesen Zuständen sind die Arbeiter nicht einverstanden und bringen ihre Unzufriedenheit darüber offen zum Ausdruck. In erster Linie suchen sie die Schuld für die vorhandenen Missstände bei den verantwortlichen Wirtschaftsfunktionären ihrer Betriebe bzw. bei den zuständigen Ministerien. Betont werden muss jedoch, dass die Parteiorganisationen in den Betrieben aufgrund der bestehenden Schwierigkeiten bei der Erziehung der Arbeiter zum sozialistischen Bewusstsein sowie bei der Gewinnung der Arbeiter für den sozialistischen Wettbewerb auf Widerstand stoßen. Die Arbeiter erklären dann meist: »Schafft die ökonomischen Voraussetzungen und wir werden die Pläne erfüllen und auch mehr Interesse für die politischen Fragen haben.«
Unter einem Teil der technischen und wissenschaftlichen Intelligenz gibt es ebenfalls Unzufriedenheit und Verärgerung über die mangelhafte Materialversorgung. Als noch größeres Hemmnis empfinden diese Kräfte jedoch in vielen Fällen den umfangreichen Instanzenweg bei Genehmigungen von Invest-Geldern, Einführung von Neuerungen und ähnlichen Dingen. In den letzten Monaten wird von ihnen verstärkt die Forderung erhoben, dass Konstrukteure, Techniker und Wissenschaftler an Tagungen und Konferenzen bestimmter Industriezweige oder wissenschaftlicher Institutionen in Westdeutschland oder dem kapitalistischen Ausland teilnehmen. Derartige Meinungen wurden vor allem aus dem VEB BBG, dem ZIG und dem Physikalischen Institut bekannt.
Aus den Kreisen der Arbeiter, Angestellten und der technischen Intelligenz sind keine Hinweise zu verzeichnen, die auf irgendwelche Provokationen schließen lassen.
Versorgung zur Herbstmesse5
In den wichtigsten Nahrungsmitteln – Butter, Fleisch – ist die Versorgung der Bevölkerung und der Messegäste als gesichert anzusehen. Die Kontingente sind gegenüber der Herbstmesse 1955 höher. Schwierigkeiten bestehen lediglich in folgenden Waren: Benötigt werden noch ca. drei Mio. Stück Zigarren und zwei Mio. Stück Eier. Irgendwelche Missstimmung über die Versorgung der Bevölkerung von Leipzig ist nicht bekannt, da in letzter Zeit keine wesentlichen Schwierigkeiten aufgetreten sind.