Flugschriftenauswertung (2)
23. Juli 1956
Information Nr. 88/56 – Betrifft: Hetzschriftenauswertung
In einer neuangefallenen Hetzschrift der »SED-Opposition« (Brief 19 – Aprilausgabe)1 lautet das Thema: »Stalin und seine Kritiker – eine notwendige Klarstellung.« Bei der »Klarstellung« geht es um die Behauptung, dass die Ursachen für den Personenkult Stalins nur im »Sowjetsystem zu suchen sind«. So heißt es z. B. u. a.: »Ein einziger Mann kann nicht 180 Millionen Sowjetmenschen versklaven, wenn er nicht im gesellschaftlichen System die Voraussetzung dafür findet.« Dabei wird die Frage aufgeworfen: »Wenn dieses gesellschaftliche System aber wirklich sozialistisch ist, so ist es unbegreiflich, wie dieses ›sozialistische System‹ 180 Millionen Sklaven und einen Despoten hervorbringen konnte, dem selbst die Politbüromitglieder2 hilflos ausgeliefert waren.« »Deshalb – so zieht die ›SED-Opposition‹ ihre Schlüsse daraus – sind 30 Jahre kommunistische Weltbewegung äußerst fragewürdig geworden, weil ihre Triebkraft nicht der Wille der Volksmassen war, sondern der Wille Stalins.«
In der Hetzschrift wird dann weiter argumentiert: »Wir haben seit Monaten nur das gesagt, was die heutigen Machthaber der KPdSU unter dem Zwang der Verhältnisse jetzt selbst zum Teil zugeben müssen. Aber sie wissen auch sehr genau, dass sie damit eine Bewegung ins Rollen gebracht haben, die sehr leicht über sie hinweggehen kann, wenn man ihr nicht rechtzeitig die Zügel anlegt.« Dass die »Zügel angelegt werden« und die Mitglieder der Partei »keine Änderung der Politik durch das Politbüro zu erwarten haben« geht aus folgenden Sätzen hervor: »Es muss den Genossen gesagt werden, dass sie sich keine Illusionen machen dürfen, denn es gibt in der Geschichte keine Bewegung, die etwas Erstarrtes und Entartetes von oben auflockern und reformieren könnte.« Auch zeige sich dies »in der Methode und dem Wesen der von Moskau befehlenden Anordnung von oben und dem widerspruchslosen Gehorchen von unten«.
Auf was es den Verfassern besonders ankommt, wird durch folgende Worte deutlich: »Der Partei fehlt der heiße Atem leidenschaftlicher Diskussionen und schöpferischer Auseinandersetzungen.« Dies wird mit der Frage verbunden, was sich denn in der Partei seit der Kritik am Personenkult geändert habe? Worauf die Antwort folgt, dass »die Abkehr von Stalin den Mitgliedern der Partei von oben befohlen wurde, ohne vorherige offene Diskussion in der Partei, wie das zu Lenins Zeiten üblich war«. Zur weiteren Begründung der Behauptung, der Personenkult habe seine Ursache im »Sowjetsystem«, folgt eine längere verfälschte Erläuterung über Zentralisierung und Festigung des Staatsapparates. Das Ganze endet mit der »Feststellung«, dass »die Kritik an Teilen des Überbaus wirkungslos bleibt, wenn ihr nicht grundlegende Änderungen in der Ökonomik und Politik des Landes folgen, wenn nicht der Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Produktivkräften und der staatskapitalistischen Aneignungsweise beseitigt wird.«