Fluktuation und Mangel an Arbeitskräften (1)
23. Juni 1956
Information Nr. 32/56 – Betrifft: Arbeitskräfte
In letzter Zeit wurden aus mehreren Bezirken und VE-Betrieben Schwierigkeiten in der Arbeitskräftefrage bekannt. Im Wesentlichen bestehen diese Schwierigkeiten in der Produktion sowie der Unterbringung von Arbeitskräften. Die Ursachen dazu sind in Folgendem zu sehen:
- 1)
in der Fluktuation von Arbeitskräften,
- 2)
im Fehlen von Arbeitskräften,
- 3)
in der Entlassung bzw. Umbesetzung von Arbeitskräften.
1) Fluktuation von Arbeitskräften
Fluktuation von Arbeitskräften wurde aus den verschiedensten Industriebetrieben bekannt. Die Ursachen der Fluktuation, durch die die betroffenen Betriebe in Schwierigkeiten in der Produktion geraten, sind einmal die bessere Bezahlung in anderen Industriezweigen und Betrieben, zum anderen aber auch schon längere Zeit bestehender Auftragsmangel. Durch den Auftragsmangel sind die Betriebe gezwungen, Wartestunden zu schreiben, wodurch die Arbeiter weniger Verdienst haben und sich deshalb andere Arbeit suchen.
So ist im VEB Kleidermacher Werk 3 Sebnitz und im VEB IKA Sebnitz, [Bezirk] Dresden, eine starke Fluktuation von Arbeitskräften eingetreten. Der Grund dafür ist, dass sich die Arbeiter aus den genannten Betrieben finanziell verbessern wollen und deshalb nach dem VEB Fortschrittwerk Neustadt1 sowie dem VEB Industriewerk Pirna-Sonnenstein, [Bezirk] Dresden, überwechseln.
Seit Beginn des Monats Mai treten im VEB Papierfabrik Hainsberg, [Kreis] Freital, [Bezirk] Dresden, ständig neue Abgänge von der Leichtindustrie zur Schwerindustrie in Erscheinung. Es handelt sich meist um qualifiziertes Maschinenpersonal und um Facharbeiter. Der Grund dafür liegt in der höheren Entlohnung der Arbeitskräfte in den Betrieben der Schwerindustrie. Die gleichen Erscheinungen sind unter den Drehern im VEB Abus Sebnitz, [Bezirk] Dresden,2 vorhanden, deren Grund neben der finanziellen Besserstellung noch in der Ablehnung der Nachtschichten zu sehen ist sowie im VEB Baumwollwebereien Plauen Werk II unter den Webern, denen durch die Privatindustrie außer der besseren Bezahlung noch andere Arbeitsvergünstigungen zugesagt werden.
Die Mitropa-Fahrabteilung Dresden kann in diesem Jahr ihren Plan nicht erfüllen, da sie zu wenig Personal hat. Der Objektleiter bringt zum Ausdruck, dass sich trotz Annoncen in der Zeitung niemand zur Arbeit meldet. Außerdem kündigen ständig Angehörige der Mitropa-Fahrabteilung und gehen zur HO, da dort für die gleiche Arbeit die Tarife viel höher liegen. Im VEB Glaswerk Freital, [Bezirk] Dresden, haben in der Abteilung Schlosserei von zehn Arbeitern fünf kurzfristig gekündigt. Die Arbeiter wollen damit erreichen, dass in dieser Abteilung der Leistungslohn eingeführt wird.
Im VEB Waggonbau Bautzen, [Bezirk] Dresden, ist aufgrund der Schwierigkeiten im Arbeitsablauf und dem Mangel an Material eine Fluktuation von Facharbeitern eingetreten. Seit Beginn des Jahres 1956 sind allein 85 Facharbeiter und drei Ingenieure aus dem Betrieb ausgeschieden. Dieselben Erscheinungen sind im VEB Waggonbau Dessau, [Bezirk] Halle, besonders unter jugendlichen Facharbeitern festzustellen, wo gegenwärtig 200 Arbeiter infolge Auftrags- und Materialmangel nicht ausgelastet sind bzw. überhaupt keine Arbeit haben.
2) Fehlende Arbeitskräfte
Einigen Betrieben in den Bezirken Halle und Dresden bereiten fehlende Arbeitskräfte erhebliche Schwierigkeiten in der Produktion und erzeugen Missstimmung unter den Beschäftigten, die dadurch Überstunden leisten müssen, um die Produktion aufrechtzuerhalten.
So fehlt es im EKB Bitterfeld, [Bezirk] Halle, an Arbeitskräften. Der Betrieb ist zurzeit unterbesetzt, obwohl vom Einstellungsbüro Arbeitskräfte angefordert wurden. Im Alu-Werk II sind die Arbeiter über den Arbeitskräftemangel sehr verärgert, da sie, um die Produktion nicht zu gefährden, auf ihren Aussetztag verzichten sollten. In der Nachtschicht vom 26.5. zum 27.5.1956 waren bereits 16 Arbeiter mit der Begründung nicht erschienen, dass sie ihren Aussetztag genommen hätten. Ähnlich ist der Zustand in der Farbenfabrik Wolfen, [Kreis] Bitterfeld, [Bezirk] Halle, wo sich das Fehlen der Arbeitskräfte besonders bei den Schichtarbeitern und in der Kraftzentrale unter Heizern und Maschinisten bemerkbar macht.
Im VEB Walzengießerei Coswig, [Bezirk] Dresden, Werk 1 und 2, fehlt es hauptsächlich an Hilfsarbeitern, sodass bereits Schwierigkeiten in der Erfüllung des Planes auftreten. Bisher war es der Werkleitung nicht möglich, derartige Arbeitskräfte zu bekommen. Um den Mangel an Arbeitskräften zu überbrücken, versucht die Werkleitung gegenwärtig, Häftlinge aus Strafanstalten zu bekommen.
Im VEB Lederfabrik Freital, [Bezirk] Dresden, ist ebenfalls durch Arbeitskräftemangel die Planerfüllung gefährdet, was noch dadurch verstärkt wird, dass Facharbeiter wegen besserer Bezahlung in Schwerpunktbetriebe abwandern.
Im VEB Dachziegelwerk Langburkersdorf, [Kreis] Sebnitz, [Bezirk] Dresden, besteht ein Arbeitskräftemangel, welcher trotz Bemühungen noch nicht abgestellt werden konnte. Um die Planerfüllung nicht zu gefährden, muss schnellstens eine Änderung getroffen werden.
Im VEB Sächsische Kunstseidenwerke Pirna, [Bezirk] Dresden, besteht ebenfalls eine sehr schwierige Arbeitskräftelage, was bereits zu Produktionsausfällen in der Chemischen Abteilung, Werk 2, führte. Durch den Arbeitskräftemangel musste die Beschickung der Simplexmischer ausfallen. Weiterhin fiel in der gleichen Abteilung in der Zeit vom 2.6.1956 – 4.6.1956 die Produktion von ca. 48 000 Ltr. Viskose aus, was nicht wieder aufgeholt werden kann. Es fehlen in fast allen Produktionsabteilungen Arbeitskräfte am Sollbestand. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jede Abteilung ohnehin nur einen Mindestarbeitskräfteplan hat. Beim Rangierpersonal ist kaum noch eine Betriebssicherheit gewährleistet. Durch die Unterbesetzung kann die 48-Stunden-Woche teilweise nicht mehr eingehalten werden, sodass laufend Anträge auf Leistung von Überstunden eingereicht werden. Aus den vorgenannten Gründen tritt ein erhöhter Krankenstand und eine Fluktuation von Arbeitskräften ein.
Der VEB Gewosei,3 Werk 1, Gera, kann seinen Produktionsplan nicht erfüllen, da in diesem Betrieb über 60 Weber fehlen. Alle Weber, welche bisher ihre Arbeit aufgaben, brachten zum Ausdruck, dass sie als Facharbeiter bei ihrer Arbeit zu wenig verdienen und selbst als Hilfsarbeiter bei der Wismut noch besser bezahlt würden.
Im Energiebezirk Süd/Altenburg, [Bezirk] Leipzig,4 fehlen gegenwärtig zehn Facharbeiter, besonders Schlosser, Kesselmaurer und Schaltwärter. Als Ursache wird von der Betriebsleitung angegeben die geringe Entlohnung. Da keine Möglichkeit besteht Leistungslohn zu zahlen, sind gute Facharbeiter bestrebt, Arbeit in anderen Betrieben zu finden, wo sie besser entlohnt werden.
Im VEB Fahlberg-List Magdeburg fehlen in der Abteilung Superphosphat und in der Abteilung Schwefelsäure insgesamt 90 Produktionskräfte.
Dem VEB Schiffswerft »Edgar André« in Magdeburg fehlen besonders Anstreicher, was sich auf alle Brigaden auswirkt. Außerdem bestehen noch Schwierigkeiten durch Abstellung von Arbeitskräften zur Werft Stralsund.5 Dem Betrieb ist es dadurch nicht möglich, ein Motorgüterschiff am Monatsende fertigzustellen, sodass für jeden Tag Terminverzögerung 3 000 DM Konventionalstrafe gezahlt werden muss.
Beim Bau der Vorschaltanlage im Kraftwerk Zschornewitz, Kreis Gräfenhainichen, [Bezirk] Halle, ist zu verzeichnen, dass es beim VEB Dampfkesselbau Hohenthurm an fünf Hochdruck-A-Schweißern mangelt, diese Fachkräfte müssen unbedingt gestellt werden, da sonst die Arbeiten nicht termingemäß fertiggestellt werden können und 30 Arbeitskräfte abgezogen werden müssen.
3) Entlassung bzw. Umbesetzung von Arbeitskräften
In einigen Betrieben und Bezirken entstanden Schwierigkeiten besonders durch die Entlassung von Arbeitskräften. Diese Entlassungen wurden durchgeführt aufgrund der Tatsache, dass der Arbeitskräfteplan überzogen war bzw. weil die Betriebe kein Material haben und somit gezwungen sind, Arbeitskräfte zu entlassen. Da jedoch nicht in jedem Falle diesen Arbeitskräften gleich andere Arbeit zugewiesen werden kann, sind schon verschiedentlich Arbeiter nach Westdeutschland abgewandert. Ähnlich verhält es sich mit den von der KVP entlassenen Kräften im Bezirk Suhl.
So hatte der VEB Wirkmaschinenfabrik Karl-Marx-Stadt den Arbeitskräfteplan überzogen. Aufgrund dessen hat die Betriebsleitung vornehmlich älteren Arbeitern kurzfristig gekündigt, darunter auch solchen, die schon länger als 20 Jahre im Betrieb tätig waren und für ihre langjährige Tätigkeit Prämien erhalten haben. Neben der Missstimmung, die diese Maßnahme im Betrieb auslöste, ist festzustellen, dass bereits verschiedene dieser Arbeiter nach Westdeutschland gegangen sind.
In den Kreisen Auerbach und Zschopau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurden wegen Materialmangel von den Privatunternehmen der Strumpfindustrie Arbeiter entlassen. Die Entlassenen, vorwiegend alleinstehende Frauen und Witwen, sprechen zwecks Arbeitsnachweis bei den Räten der Kreise, Abteilung Arbeit, vor. Die VE-Betriebe sind jedoch nicht in der Lage, diese Arbeiterinnen aufzunehmen. Dadurch entsteht Missstimmung unter diesen Frauen.
Durch Entscheidung einer Kommission der VVB Industriezweigleitung Plauen wurde beschlossen, den VEB Kinderfahrzeuge Großschönau, [Kreis] Zittau, [Bezirk] Dresden, zu schließen und die Produktion dieser Fahrzeuge nach dem VEB Metallbau Döbeln, [Bezirk] Leipzig, zu verlegen. Dadurch müssen die Arbeitskräfte in andere Betriebe untergebracht werden, was erhebliche Schwierigkeiten bereitet.
Die Registrierabteilung beim Rat des Kreises Sonneberg, [Bezirk] Suhl, hat große Schwierigkeiten, die aus der KVP entlassenen Personen in ein Arbeitsverhältnis zu bringen. Täglich sprechen in den beiden VE-Betrieben Radiogehäuse Sonneberg und IKA Sonneberg 20 bis 30 solcher Personen vor, ohne dass ihnen eine Arbeit zugewiesen werden kann.
In den beiden Glaswerken Stützerbach und Schmiedefeld, [Kreis] Ilmenau, [Bezirk] Suhl, wird in den Abteilungen Glashütte zzt. darüber diskutiert, dass durch eine vorgesehene Branchenbereinigung ein Teil der Stützerbacher Arbeiter nach Schmiedefeld gehen muss und umgekehrt ein Teil der Schmiedefelder Arbeiter nach Stützerbach. Es handelt sich dabei meist um Spezialisten. Die Diskussionen sind teilweise negativ und es bedarf einer guten Aufklärung, um die Notwendigkeit der Umstellung einzusehen.
Aus dem Bezirk Gera wurde bekannt, dass auch die Umbesetzung von Arbeitskräften infolge Betriebsschließung oder Einschränkung der Produktion erhebliche Schwierigkeiten bereitet und Anlass für Republikfluchten ist. In Saalfeld wird eine Schachtanlage, welche Eisenerz für die Maxhütte lieferte, geschlossen, da kein hochprozentiges Eisen mehr gewonnen wird. Durch diese Maßnahme werden 100 Arbeitskräfte frei, deren Vermittlung in andere Arbeitsverhältnisse bisher noch nicht geklärt wurde. Die Arbeiter lehnen es ab, in Betrieben zu arbeiten, wo sie weniger als bisher verdienen. Mehrere Arbeiter äußerten bereits, nach Westdeutschland überzusiedeln.
Im VEB Zeiss Jena besteht gegenwärtig in der Fotobetriebsabteilung ein gewisser Angstzustand unter den Arbeitern, da wegen Einschränkung des Fotoprogramms in den Montageabteilungen ein Arbeitskräfteüberhang besteht und Umbesetzungen von Facharbeitern vorgenommen werden müssen.
Im VEB Industrie- und Armaturenwerk Leipzig wird am 30.6.1956 die Produktion von Schädlingsbekämpfungsgeräten abgeschlossen. Dadurch werden ca. 80 Schlosser frei, die zum Teil innerhalb des Betriebes und zum Teil in andere Betriebe umbesetzt werden müssen. In den betreffenden Abteilungen werden bereits unzufriedene Diskussionen geführt, da die Betriebs- und Parteileitung bisher noch keine Aussprachen mit den betreffenden Arbeitern geführt hat.