Gruppenbildung an der Humboldt-Universität zu Berlin
26. November 1956
Information Nr. 360/56 – Betrifft: Gruppenbildung an der Humboldt-Universität Berlin
In der letzten Zeit haben sich an der Humboldt-Universität an verschiedenen Fakultäten Gruppen gebildet, die die Studenten gegen die DDR, die SED und FDJ aufwiegeln, um sie für ihre Ziele zu gewinnen. Die Rädelsführer sind meist Studenten bürgerlicher Herkunft.
1.) Medizinische Fakultät – Gruppe um den Studenten [Name 1] –
An der Universität leistet [Name 1] schlechte FDJ-Arbeit und beeinflusste die Studenten negativ. Unter den Studenten gewann er an Einfluss durch sein ständiges Opponieren. Sie sehen ihn als ihren Vertreter an und erklärten: »Wenn [Name 1] festgenommen wird, streiken wir.«
Der Gruppe [Name 1] gehören fünf Studenten ([Name 2], [Name 3], [Name 4], Wolters,1 [Name 5]), als engste Vertraute [von Name 1] und drei Studenten ([Name 6], [Name 7], [Name 8]) als Verbindungsleute an. Diese Gruppe trat durch Artikel an der Wandzeitung in Erscheinung. Zum Beispiel nimmt [Name 1] in einem Artikel am 2.10.1956 zu dem Problem der Westdeutschlandreisen von Studenten der DDR Stellung.2 Der Artikel ist eine Wiedergabe des RIAS. [Name 1] ist der Urheber von verschiedenen Resolutionen, Diskussionen und auch Wandzeitungsartikeln, die sich mit Fragen des Russisch- und gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichtes3 und mit der Bildung einer unabhängigen Studentenorganisation befassen. Weiter wurde festgestellt, dass drei Mitglieder dieser Gruppe sich bei einer Aussprache beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin eifrig Notizen machten. Noch in der gleichen Nacht wurden sehr genaue Informationen über diese Aussprache durch den RIAS gebracht. Die engsten Vertrauten von [Name 1] stehen mit ihm durch die Verbindungsleute in Kontakt, sodass die Rädelsführer selten zusammen zu sehen sind. [Name 1] steht mit einem »Paul« der Hochschule für Politik in Westberlin in Verbindung. Einer der engsten Vertrauten [von Name 1] ist zu bestimmten Zeiten nicht an der Universität anwesend. Es wird vermutet, dass er zu dieser Zeit Informationen einholt. [Name 1] hat Verbindung zu seinen Verwandten in Westberlin und Westdeutschland. Er sympathisiert mit dem SDS4 und den Falken.5
2.) Chemisches Institut – Gruppe um Neunhoeffer6 –
Verschiedene Studenten des chemischen Instituts tragen Forderungen (Abschaffung des Russisch-Unterrichtes und der Gewi-Seminare) in andere Versammlungen hinein, um einen möglichst großen Unruheherd unter den Studenten zu schaffen. Diese Studenten drohen mit gewaltsamer Durchsetzung ihrer Forderungen und forderten alle Fakultäten auf, ebenfalls etwas zu unternehmen, um ihre Forderungen durchzusetzen, da die augenblickliche Lage dafür äußerst günstig wäre. Die Rädelsführer dieser Gruppe sind:
- 1.)
Der Student Neunhoeffer, dessen Vater Professor, Direktor des Instituts für organische Chemie ist. Prf. Neunhoeffer7 steht ebenfalls im Verdacht, Zersetzungsarbeit zu leisten.
- 2.)
Der Student [Name 9], der eine starke Bindung zur Kirche hat und eine starke antisowjetische Haltung zeigt.
- 3.)
Der Student [Name 10] ist Mitglied eines Posaunenchores der evangelischen Kirche in Pankow und der wichtigste Wortführer.
- 4.)
Der Student [Name 11] unterliegt der westlichen Ideologie blindlings.
3.) Institut für Physik – Gruppe um den Studenten [Name 12] –
Die Gruppe kam am 4.11.1956 in Westberlin (bei der Freundin des [Name 12]) zusammen. Dort berieten sie über die Herausgabe eines Flugblattes, welches zum Ziel haben sollte, die Studenten der Humboldt-Universität für Streik- und Protestresolutionen zu gewinnen (wurde noch nicht verwirklicht, weil man den Zeitpunkt nicht für geeignet hielt). Diese Personen legten noch fest, dass man versuchen müsste, unter den gegebenen Verhältnissen Unruhe unter die Studenten der DDR zu tragen. Mitglieder dieser Gruppe sind der Student [Name 12], der am Institut für Physik studiert, der Student [Name 13], ehemalig an der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität, jetzt Student an der Freien Universität in Westberlin, der zzt. arbeitslose [Name 14], der vorher im DIA-Bergbau beschäftigt war.
4.) [Name 15, Vorname], ehemaliger Student der Humboldt-Universität – jetzt Student der Freien Universität, Fachschaft Medizin
In der am 30.10.1956 an der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität stattgefundenen FDJ-Versammlung, die provokatorischen Charakter trug, trat der [Name 15] besonders aggressiv in Erscheinung. Er störte die Versammlung durch Pfui-Rufe und negative Äußerungen und erklärte, dass die von den Studenten gestellten Forderungen vollauf gerechtfertigt sind, ja sogar noch zu wenig beinhalten. Er hatte von dieser Versammlung durch seine Frau, die Studentin an der medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität ist, Kenntnis.
[Name 15] ist der Sohn eines Studienrates und nationalsozialistisch erzogen (Napola-Schüler).8 1953 legte [Name 15] an der Karl-Marx-Oberschule Rathenow das Abitur ab. Er arbeitete kurze Zeit in Rathenow auf dem Bau und beteiligte sich dort aktiv am 17.6.1953. Danach wurde er republikflüchtig, kehrte aber nach kurzer Zeit wieder nach Rathenow zurück, um sich an der Humboldt-Universität zu bewerben und auch immatrikuliert zu werden. Sein Ziel war, später in den diplomatischen Dienst zu treten. Er gab 1953 sein Studium an der Humboldt-Universität auf, um zwei Semester an der Hochschule für Politik in Westberlin zu studieren. Mit Beginn des Herbstsemesters 1955/56 bewarb er sich wiederholt an der Humboldt-Universität, medizinische Fakultät. Sein Studium in Westberlin verschwieg er. Nachdem diese Tatsache bekannt geworden war, wurde er mit Beginn des Jahres 1956 exmatrikuliert. Im Herbst 1956 nahm er sein Studium an der Freien Universität auf.
[Name 15] ist sehr redegewandt und versteht es, sich geschickt durch Worte zu tarnen. Obwohl nach seiner Meinung für ihn das Westberliner Studiensystem günstiger ist, studiert er an der Humboldt-Universität Medizin (trotz seines Zieles Diplomat zu werden). Er studierte an der Hochschule für Politik intensiv die russische Sprache und die Geschichte der KPdSU, obwohl er wusste, dass er nie für die Diplomatenlaufbahn in der Sowjetunion oder den Volksdemokratien infrage kommt. Zu gleicher Zeit stellte er seine Englisch- und Französisch-Studien ein. Er bezeichnet sich als Sozialist, lehnt jedoch unseren Staat ab.
5.) Philosophische Fakultät – Fachschaft Finno-Ugristik –9
Es wurde bekannt, dass Studenten der Fachschaft Finno-Ugristik mit konterrevolutionären ungarischen Studenten Verbindungen haben sollen (Studienbesuche in Ungarn). Festgestellt wurde, dass sie sehr enge Verbindung zur ungarischen Botschaft in Berlin-Treptow haben und in der Zeit der konterrevolutionären Umtriebe in Ungarn eng mit den Mitarbeitern der Botschaft verkehrten und mit diesen gemeinsam die konterrevolutionären Sender abhörten.
Alle unter 1.) – 5.) angeführten Gruppen und Personen werden weiter bearbeitet.