Industrieausstellung am Funkturm in Westberlin
15. Oktober 1956
Information Nr. 253/56 – Betrifft: Bericht über die Industrieausstellung am Funkturm in Westberlin in der Zeit vom 15. September bis 30. September 1956
- 1.)
Werbung zum Besuch der Industrieausstellung
- 2.)
Zahlen der Besucher
- 3.)
Tätigkeit der Feindzentralen1
- 4.)
Stimmen Westberliner Einwohner
Zu 1.) – Werbung zum Besuch der Industrieausstellung –
In den Tagen vor und während der Industrieausstellung2 brachten die Westberliner Zeitungen, besonders der »Telegraf«, »Kurier« und »Tagesspiegel«, Abbildungen und Artikel über die »technischen Neuheiten« des Westens. Außerdem wiesen der Rundfunk und die Presse darauf hin, dass der »Ostbesucher« einen Verzehrbon für 1,00 DM erwerben kann und dafür Waren im Werte von 1,00 Westmark erhält. Diese Werbung verfolgte offensichtlich den Zweck, auch viele Personen aus dem demokratischen Sektor und aus den Randgebieten von Berlin für einen Besuch der Industrieausstellung zu gewinnen. Ein Beweis dafür ist u. a. auch eine Sendung des SFB vom 14.9.1956, in der es z. B. heißt: »Im vergangenen Jahr wurde über eine halbe Million aus allen Orten des unfreien Teiles von Deutschland auf der Industrieausstellung gezählt … Außer dem Verzehrbon wird den Ostbewohnern täglich die Möglichkeit geboten, Stadtrundfahrten zu unternehmen und Westberliner Industriewerke zu besichtigen … Auf Vorschlag des Büros für gesamtberliner Fragen3 und dem Beschluss des zuständigen Ausschusses des Abgeordnetenhauses werden zum ersten Mal auch bei den gleichzeitig während der Industrieausstellung stattfindenden Festwochen Ostbewohner für die Veranstaltungen und alle übrigen Theater 10 % der Eintrittskarten für Ostgeld reserviert.«
2.) – Zahlen der Besucher –
Nach vorliegenden Berichten wurde tatsächlich auch die Industrieausstellung von vielen Personen aus dem demokratischen Sektor und den Randgebieten von Berlin besucht. Dies zeigt sich: 1.) Im starken Andrang an den »Ostkassen« und 2.) beim Einlösen des Verzehrbons, was nur an bestimmten Ständen möglich war. Es wurde bereits am ersten Tag vor den »Ostkassen« ein erheblicher Andrang festgestellt, indem gegen 13.00 Uhr die Zahl der Wartenden vor den »Ostkassen« auf ca. 500 Personen geschätzt wurde. An den meisten Tagen belief sich die Zahl der »Ostbesucher« durchschnittlich auf ca. 50 %.
Was sich beim Einlösen der Verzehrbons abspielte, schildern mehrere Besucher wie folgt: »Das Einlösen der Bons war mit einigen Kämpfen verbunden, einige Situationen waren geradezu beschämend. Am deutlichsten kam es beim Ausschank von Bohnenkaffee zum Ausdruck. Lange Schlangen von Menschen umstanden die Stände und es dauerte oft eine Stunde, ehe sie bedient wurden.« Auch in den Stunden, wo Vorführungen stattfanden und es etwas zu kosten und essen gab, war es zeitweise so schlimm, dass die Stühle bis zu 90 % mit Besuchern aus dem demokratischen Sektor Berlins und der DDR besetzt waren. Dies führte zur Verärgerung der Standinhaber und des Verkaufspersonals, weil dadurch nichts verkauft wurde. Es kam sogar vor, dass verschiedene Standinhaber direkt die »Herrschaften aus Ostberlin« aufforderten, die Stühle nicht zu besetzen, wenn sie kein echtes Kaufinteresse hätten.
Von der Westberliner Presse und dem Rundfunk wurden folgende Zahlen genannt:
- –
RIAS vom 18.9.1956: »In den ersten drei Tagen insgesamt 106 000 Personen, davon 47 000 aus den sowjetischen Gebieten.«
- –
»Montagsecho« 24.9.1956: »Am 23.9.1956 betrug die Gesamtzahl 89 500, darunter 53 000 Besucher aus dem Osten. Damit hat sich die Gesamtzahl seit Eröffnung der Ausstellung auf 402 500 (187 000 Ostbesucher) erhöht.«4
- –
»Die Welt« v. 30.9.1956 schätzt die insgesamte Besucherzahl auf 750 000 mit etwa 300 000 Personen aus dem Osten und bemerkt dabei, dass »die Zahl der Ostbesucher geringfügig zurückgegangen ist«.5
Im vergangenen Jahr gab das »Montagsecho« folgende Zahlen an: insgesamt 914 000 Besucher, davon 533 000 Besucher aus dem demokratischen Sektor von Berlin und der DDR.6 Bemerkenswert ist dabei, dass im vergangenen Jahr die Industrieausstellung in die Zeit des 7. Oktober fiel und der »Tag der Republik« von vielen zu einem Besuch der Industrieausstellung benutzt worden ist.7
3.) – Tätigkeit der Feindzentralen und Organisationen –
In großem Umfange wurde Hetz- und Propagandamaterial vor den »Ostkassen«, den Eingängen und in den Hallen des Ausstellungsgeländes verteilt. U. a. folgende Exemplare: Gefälschte »Junge Welt«8 und »Eulenspiegel«,9 »Der Tag« als Wochenausgabe,10 »Mitteldeutsche Wirtschaft«,11 »Tarantel«,12 »Mitteldeutsche Arbeiter- und Bauernzeitung«13 und viele andere. In der Halle VI verteilten zwei jüngere Männer die »Tarantel«. Der eine von den beiden trug eine VP-Uniform und der andere eine Uniform der Nationalen Volksarmee. Außerdem trugen sie eine weiße Armbinde mit der Beschriftung »Abgeworben«.
Einiges Hetz- und Propagandamaterial wurde vom DGB herausgegeben. Der Inhalt dieses Materials weist größtenteils auf die »Erfolge« des DGB hin und zeigt die »schlechten Verhältnisse in der DDR« auf. Ähnlich war auch die Aufmachung des Standes des DGB in der Halle VIII. So war z. B. eine Statistik angebracht, wieviel Millionen Arbeiter schon verkürzt arbeiten. Vom DGB wurde auch die sogenannte »Geheimrede« des Genossen Chruschtschow14 in der äußerlichen Aufmachung einer Broschüre über die Arbeit der Gewerkschaften verteilt. Ob diese Hetzschrift in größeren Mengen ausgegeben wurde, konnte nicht festgestellt werden.
Zur Verteilung des Hetzmaterials kann gesagt werden, dass es von vielen Besuchern achtlos weggeworfen wurde und die Straßen sowie der Vorplatz der Messehallen davon übersät waren.
Stark propagiert wurde die »Sonderberatungsstelle« des UfJ,15 die sich in der Hotel-Pension »Haus Tannen«, Karolingerplatz 9, befand. So wiesen z. B. auf dem Weg zum Ausstellungsgelände große Schilder darauf hin und im Nachrichtendienst des RIAS wurde mehrmals darauf aufmerksam gemacht. Außerdem wurden zahlreiche Handzettel des UfJ verteilt. Deren Text lautete: »Alle Messebesucher aus dem Osten werden in allen Rechtsfragen der Wirtschaft einschließlich Land- und Forstwirtschaft beraten.« Ob dies viel in Anspruch genommen wurde, konnte nicht ermittelt werden.
Die Parteien des Abgeordnetenhauses unterhielten ebenfalls eine »Auskunfts- und Beratungsstelle«. Ein reger Besuch konnte auch dort nicht festgestellt werden. Eine Verkäuferin aus der DDR, die sich dort »beraten ließ« über die Arbeitsmöglichkeiten in Westberlin, erhielt folgende Auskunft von einer dort anwesenden männlichen Person: »Diese Frage wird täglich fast fünfzigmal an mich gerichtet und ich kann nur sagen, dass der kaufmännische Beruf in Westberlin überlastet ist. Sie sind aber ein freier Mensch und es bleibt Ihnen überlassen, das zu tun, was Sie für richtig halten. Wenn Sie einen Mangelberuf hätten, z. B. einen chemischen Beruf, dann wären auch in Westberlin bessere Aussichten.« Ein Jungingenieur, der sich auch nach den Arbeitsmöglichkeiten in Westdeutschland erkundigte, erhielt von einem Abgeordneten der SPD die Antwort, er solle nach Westdeutschland gehen, da er dort gleich Arbeit und Wohnung bekommt.
Der gleiche Abgeordnete unterhielt sich dann mit einem Landarbeiter aus Gransee, [Bezirk] Potsdam, der über die »schwere Arbeit und die niedrige Bezahlung in der DDR« klagte. Abschließend erklärte er, »wenn er nicht schon so alt wäre, würde er auch nach dem Westen gehen«. Daraufhin sagte der Abgeordnete: »Man ist nie zu alt, um abzuhauen. Unser Ziel ist es, den Flüchtlingsstrom zu vergrößern, denn damit zwingen wir den Osten, mit dem Westen zu verhandeln.« Einem Eisenbahner aus Berlin, der sich mit einem »persönlichen Anliegen« an ihn wandte, gab er den Rat, sich an eine Dienststelle des DGB in der Nähe der Garnisonskirche (Richtung Bahnhof Zoo) zu wenden, da dort in seiner Angelegenheit besser »beraten« würde.
In den Ausstellungshallen wurde durch Lautsprecher bekannt gegeben, dass sich »Ostbewohner« an zwei Stellen innerhalb des Messegeländes melden könnten und erfahren würden, welche weiteren Vergünstigungen ihnen zugedacht sind. Es handelte sich dabei um kostenlose Stadtrundfahrten. Einige andere Fragen, wie z. B. Arbeitsmöglichkeiten in Westdeutschland, wurden an die zuständigen Arbeitsämter verwiesen. Das Ersuchen finanzieller Zuwendungen wurde mit dem Bemerken abgetan, die »Sammelstellen der Flüchtlinge« aufzusuchen.16
In der Thüringenhalle war vom »Verband der Heimkehrer« eine Ausstellung, ein sogenannter Bildersuchdienst organisiert.17 Es waren Bilder von vermissten Soldaten des II. Weltkrieges ausgestellt.
In der amerikanischen Ausstellung »Unbegrenzter Raum« war am Ausgang eine Hinweistafel angebracht, auf der Interessenten aufgefordert wurden, mit zwei Vertretern amerikanischer Gewerkschaften alle interessierenden Fragen zu besprechen. Auch wurden Prospekte mit der Aufschrift »Kommen sie nach Canada« angeboten. U. a. hieß es darin: … »als Geschäftsmann oder Auswanderer, jetzt ist es noch verhältnismäßig leicht, die Chancen zu ergreifen, die später reiche Früchte tragen werden« …
Der RIAS hatte unter dem Titel »Hörerbetreuung« einen Stand. Dort wurden mit einer Filmapparatur Hörerbriefe, angeblich auch aus der DDR, und Programmausschnitte aus Hörspielen gezeigt. Auch der SFB hatte einen Stand mit politischen Parolen errichtet. Von diesen beiden Sendern RIAS und SFB sowie vom NWDR und vom Londoner Rundfunk18 wurden Programmhefte ausgegeben. In dem Programmheft des letztgenannten Senders heißt es u. a. »Wussten Sie, dass wir für die Bevölkerung der Sowjetzone auch ein Programm haben, in dem sie frei ihre Meinung sagen können, nämlich die Sendung: Briefe ohne Unterschrift?« Als Adresse war angegeben: BBC – Deutscher Dienst, Berlin-Halensee, Kurfürstendamm 156 | Britische Zone | Londoner Adresse: BBC, Bush House,19 London WC 2.
4.) – Stimmen von Westberlinern –
Über die Industrieausstellung unterhielten sich einige Stummpolizisten.20 Die Ausstellung selbst stand nur am Rande der Unterhaltung, vielmehr wurden die erhöhten Eintrittspreise für Westberliner Bürger und die Verzehrbons für »Ostbesucher« scharf kritisiert. Ein Hauptwachtmeister sagte hierzu wörtlich: »Diesen Personen, die hierher kommen und die Verfolgten spielen, wird wieder alles hinten rein gesteckt. Wenn die ›unterdrückten‹ Kaffee-Sachsen mich nach der Industrie-Ausstellung fragen, könnte ich sie immer sonst wohin treten. Nicht genug, dass die Flüchtlinge auf unsere Kosten durchgefüttert werden; jetzt müssen sich die »verhungerten« Zonenbewohner auch noch sattessen für unser Geld. Die haben es doch wirklich nicht mehr nötig, sich hier vollzuschlucken. Ich habe ’nen Cousin drüben, der lebt besser, als ich hier.« Die anderen stimmten ihm vorbehaltlos zu.