Kritische Stimmen zu Walter Ulbricht (5)
8. Juni 1956
Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht [5. Bericht] [Information Nr. M125/56]
In der Zeit vom 5.5. bis 4.6.1956 wurden aus den Bezirken Berlin, Potsdam, Dresden, Halle und Frankfurt/O. erneut Diskussionen bekannt, die sich gegen die Partei und besonders gegen den Genossen Walter Ulbricht richten. Diese Diskussionen wurden hauptsächlich unter parteilosen Arbeitern und Angestellten geführt. Im Einzelnen wurden darüber folgende Argumente bekannt:
Bezirk Berlin
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Angestellte im VEB Werk für Fernmeldewesen, Abteilung Arbeit, vertreten den Standpunkt, dass um die Ferienreise des Genossen Walter Ulbricht in die ČSR »zu viel Wesen gemacht wird«. So sei ihrer Meinung nach auch nicht die Verabschiedung auf dem Ostbahnhof notwendig gewesen,1 zumal diese auch noch Geld gekostet habe, dass man besser für wirtschaftliche Zwecke hätte verwenden sollen.
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Ein Lehrausbilder im VEB »7. Oktober« brachte bei einer Diskussion folgende Ansicht zum Ausdruck: »Wenn Walter Ulbricht nicht wäre, dann wären wir mit der Einheit Deutschlands schon weiter. Der Westen lehnt als einzigen unserer Regierung Walter Ulbricht ab. Als Stalin noch lebte, hat Walter Ulbricht den Personenkult gefördert. Stalin war im Ausland ein Diktator, und dasselbe ist Walter Ulbricht hier.«
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Unter den Angestellten im Metropol-Theater taucht im Zusammenhang mit der Veröffentlichung über die Rolle des Genossen Stalin2 die Meinung auf, »dass Walter Ulbricht einer der stärksten Vertreter der Politik Stalins gewesen sei und habe in seiner Funktion auch immer dessen Linie durchgesetzt«.
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Beim Rat des Stadtbezirkes Lichtenberg kritisierten Mitglieder der SED, dass der Genosse Walter Ulbricht in seinem Referat anlässlich des 10. Jahrestages der Gründung der SED im Namen des ZK allen Parteimitgliedern, »der großen Zahl der einfachen Mitglieder und den Genossen in leitenden Funktionen« den Dank für ihre Arbeit ausspricht.3 Es wird von ihnen als falsch bezeichnet, dass die Genossen in leitenden Funktionen besonders herausgestellt werden. Ihrer Meinung nach hätte es genügt, wenn an diesem Tage die Mitglieder der Partei insgesamt angesprochen worden wären, andernfalls würde man den Personenkult unterstützen.
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Unter Arbeitern im BMHW Berlin-Niederschöneweide wird die Meinung vertreten, »dass Walter Ulbricht derjenige ist, der am meisten gehasst wird, aber Otto Grotewohl der Mann sei, der Verständnis habe, denn Walter Ulbricht hätte die Sachsen nach Berlin geholt, die uns die Wohnungen, die für uns Arbeiter sein sollten, weggenommen haben«.
Bezirk Potsdam
In der Abteilung Montage der Rathenower Optischen Werke diskutiert man erneut über Stalin und versucht mit allerhand Varianten, den Genossen Walter Ulbricht mit dem Genossen Stalin zu vergleichen. So erklärten Arbeiter dieser Abteilung, »dass der Genosse Ulbricht genauso ein Diktator ist und es nicht besser macht, wie der Genosse Stalin. Außerdem hätte er schon einige Menschen in der DDR auf dem Gewissen.« Diese Worte fanden Zustimmung bei den übrigen Kollegen.
Während der Durchfahrt der Friedensfahrt4 im Kreis Königs Wusterhausen wurden unter den dort als Zuschauer anwesenden Arbeitern folgende Diskussionen bekannt. Ein Arbeiter aus dem VEB Schwermaschinenbau Wildau sagte: »Ziegenbart5 wird in 14 Tagen nicht mehr auf seinem Posten sein. Dann wird er genauso arbeiten wie wir alle. Diese Veränderung ist eine Auswirkung der andern Länder, die mit Ulbricht nichts zu tun haben wollen.« Zwei andere Arbeiter, die an der Fahrstrecke Eichwalde – Schmöckwitz standen, diskutierten zusammen in folgender Form: »Man spricht immer von Verständigung. Wie ist das aber möglich, wenn man uns so drangsaliert. Wenn wir von unserer Arbeit ermüdet sind und glauben Feierabend zu haben, dann geht es erst richtig los. Schulung, Aufbauschicht, Sitzung, wieder Schulung, Kampfgruppe6 u. a. mehr. Dadurch wird der Arbeiter verärgert und abgestumpft. Die Folge davon ist, es [sic!] werden Gegner der Regierung. Gewiss, einiges ist notwendig, aber in einer Woche mehrere Abende spät nach Hause kommen, ist nicht der richtige Weg. Es wäre ein Leichtes für unsere Regierung, die Arbeiterklasse hinter sich zu haben, wenn sie nicht alles mit Zwang verlangen würde. Aber hier liegt es wohl daran, dass die Regierung nicht genügend von allem unterrichtet wird, genau wie vor dem 17. Juni 1953. Wenn sie so weitermachen, sind die auf dem besten Wege, einen zweiten 17. Juni herbeizuführen. Lasst den Arbeiter frei sprechen, ohne dass er Gefahr läuft, für immer zu verschwinden, dann wird unsere Regierung auch einen festen Hinterhalt [sic!] bei der Arbeiterschaft haben. Weiß unsere Regierung wie unbeliebt Ulbricht ist? Ich sage nein. Sie sollten Grotewohl sprechen lassen und der Erfolg wäre ganz groß.«
Bezirk Dresden
In der Eisenbahn zwischen Dohna und Heidenau wurde das Gerücht verbreitet, dass Genosse Walter Ulbricht zzt. in Urlaub ist und nach Ablauf seines Urlaubes nicht wieder als 1. Sekretär der SED fungieren würde. Man hätte erkannt, dass sich seine Politik auf die Entwicklung der DDR hemmend auswirken würde und eine Wendung herbeigeführt werden müsse.
Bezirk Halle
Im VEB Waggonbau Dessau erklärte anlässlich des 8. Mai ein Arbeiter: »Was will man denn von der SED weiter erhoffen, die haben bisher nur alles nachgepfiffen und nachgeplappert. Wie die Arbeiter einverstanden sind, dass zeigte doch der 17. Juni 1953. Wenn die russischen Panzer nicht gekommen wären, wäre die SED längst erledigt.«
Bezirk Frankfurt/O.
Feindliche Äußerungen: Der Rechtsberater der Bau-Union Frankfurt/O., Sitz Stalinstadt, Dr. [Name], äußerte sich über das ZK der SED: »Durch die Nachrichten habe ich gehört, dass im ZK ein wüstes Durcheinander ist. Es haben sich zwei Gruppen gebildet, eine für, eine gegen Walter Ulbricht. Die Gegengruppe soll aber stärker sein. Jetzt beratet [sic!] man im ZK, ob Walter Ulbricht kaltgestellt wird. Aus Moskau hat Walter Ulbricht Anweisung erhalten, sich vorerst zurückzuziehen. Der Gruppe Walter Ulbricht gehört auch die Benjamin7 an, die man aber auch bald auf Druck der Bevölkerung fallen lassen muss.« [Name] äußerte sich noch dahingehend, dass er nur den Sender »Freies Berlin« hört und dass »unsere Sender nur Quatsch bringen«. Weiter vertrat er die Meinung, dass die Aufnahme in die Partei jetzt genau so wäre, als [sic!] 1944 die Aufnahme in die NSDAP. Er begründet dieses damit, dass es sowieso mit der SED bald aus sei.