Kritische Stimmen zu Walter Ulbricht (6)
27. Juni 1956
Information Nr. 35/56 – Betrifft: Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht (6. Bericht)
Im Zusammenhang mit dem Rücktritt des Genossen Molotow1 wurden in den Bezirken Potsdam, Neubrandenburg, Frankfurt/O., Halle, Gera und Rostock vereinzelt Diskussionen bekannt, die sich gegen die Partei, besonders aber gegen den Genossen Walter Ulbricht richten. Im Einzelnen wurden folgende Argumente bekannt:
Bezirk Potsdam
Ein Arbeiter aus Wildau äußerte gegenüber mehreren Arbeitern: »Die Sowjetunion hat ja nun einen neuen Außenminister,2 Molotow ist abgesetzt worden. Ich bin ja gespannt, wann sie bei uns den Spitzbart absetzen.3 Dieser Mensch ist unter der Arbeiterschaft so verhasst und ich begreife nicht, dass die Regierung dieses nicht einsehen will. Nur wenn Ulbricht nicht mehr ist, wird eine bessere Verständigung mit dem Westen zustande kommen. Wenn man die Rede Grotewohls gehört hat bei der Volkskammersitzung,4 dann muss man sagen, der Mann ist in der Lage die Arbeiterschaft zu halten. Ebenfalls alle anderen Diskussionsredner sprachen sachlich, bloß wenn Ulbricht anfängt, ist es aus, das ist der Mann, der die Spaltung in die Reihen der Arbeiter bringt.«
Bezirk Neubrandenburg
Ein Mitglied der LPG in Ladenthin, [Kreis] Anklam, erklärte: »Die Einheit Deutschlands würde dann hergestellt sein, wenn der Genosse Walter Ulbricht seines Amtes enthoben wird und die KPD und SPD wieder getrennt marschierten.«
Bezirk Frankfurt/O.
Im VEB Reifenwerk Fürstenwalde, Abteilung Vulkanisierung, sagte ein Mitglied der SED: »Durch die Abdankung Molotows ist jetzt eine bessere Verhandlungsbasis mit den anderen Ländern zustande gekommen. Walter Ulbricht müsste ebenfalls abgelöst werden, weil er Stalinist ist. Die Ablösung Ulbrichts würde bewirken, dass wir es dann leichter haben werden.«
Bezirk Halle
Ein Teilnehmer des Lehrganges von Funktionären des Staatsapparats an der Verwaltungsakademie in Potsdam-Babelsberg, welcher in Halberstadt als Stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises tätig ist, sagte, dass man an der Schule solche Diskussionen führt, dass der 17.6.1953 den Volkszorn bewiesen hat, indem man mit der Regierung und ihrer Politik nicht einverstanden war. Des Weiteren habe von der Revidierung der Politik der SED am 9.6.1953 und vom 17.6.1953 noch niemand gewusst, auch nicht, dass der neue Kurs5 beschlossen worden ist, sodass es deshalb zu diesen Ausschreitungen im Sinne des Volkszornes gekommen sei. Weiterhin führt er an, dass ein ehemaliger, aus der SED und VP ausgeschlossener Staatsfunktionär gesagt hat, dass eine Revision seines Verfahrens in Bezug auf die Wiedergewinnung der Mitgliedschaft in der SED zwecklos sei, weil sich in der Zusammensetzung des ZK der SED nichts geändert hat.
Bezirk Gera
Im VEB Maxhütte Unterwellenborn wurden Diskussionen dahingehend geführt, »dass der Genosse Walter Ulbricht, da er Stalinanhänger sei, von seiner Funktion als Erster Sekretär des ZK zurücktreten müsse«.
Bezirk Rostock
Im Bezirk Rostock wurden Diskussionen gegen den Genossen Walter Ulbricht hauptsächlich unter werktätigen Bauern und Gewerbetreibenden bekannt. So erklärte ein werktätiger Bauer, Mitglied der SED, aus Kleinfeld, [Kreis] Grevesmühlen: »Ich bin mit den Beschlüssen des ZK nicht einverstanden. Durch Stalin sind viele eingesperrt worden. Auch der Genosse Walter Ulbricht trägt hierbei einen Teil Schuld.«
Ein werktätiger Bauer aus Neuenhagen, [Kreis] Grevesmühlen, ehemals Mitglied der SED, sagte: »Molotow haben sie in Russland abgesetzt, weil er ein Schüler Stalins war. Ulbricht muss ebenfalls abgesetzt werden. Er ist auch ein Schüler Stalins und nicht mehr länger in der DDR tragbar.« Diese Äußerung machte er in einer öffentlichen Gemeindeversammlung.
Ein Landarbeiter aus Tarnewitz, [Kreis] Grevesmühlen, brachte zum Ausdruck: »Alle, die die östliche Politik mitmachen, sind Lumpen und Schweine, jeder Deutsche sollte sich schämen, das mitzumachen.«
Ein Friseurmeister aus Greifswald sagte Folgendes zu seiner Kundschaft: »Die Angelegenheit mit Molotow ist etwas undurchsichtig. Jetzt, wo Tito nach Moskau kommt,6 muss Molotow zurücktreten … Weil Molotow eben ein enger Mitarbeiter von Stalin war, muss er eben weg. In diesem Zusammenhang ist es doch wohl auch nicht mehr angängig, dass W. Ulbricht noch so weitermachen kann, denn auch er war ein enger Mitarbeiter von Stalin. Wenn Ulbricht Charakter hätte, müsste er von selber zurücktreten, aber wer hat heute schon Charakter!«