Lage an den Universitäten und Hochschulen
28. Oktober 1956
Information Nr. 285/56 – Betrifft: Lage an den Universitäten und Hochschulen der Deutschen Demokratischen Republik (Zusammenfassung)
Aus fast allen deutschen Hochschulen zeigen sich Versuche der Studenten – teilweise unterstützt durch Professoren – die Auseinandersetzungen in den Volksrepubliken Polen1 und Ungarn2 für Forderungen an die Führung der SED und an den Staat auszunutzen. In Versammlungen, Diskussionen und vereinzelt auch in Resolutionen und Schreiben wird – oft im Einverständnis mit den FDJ-Leitungen – verlangt: »Änderung im Hochschulbetrieb, nämlich vor allem Gründung einer ›unabhängigen‹ Studentenorganisation, Auflösung der FDJ-Hochschulgruppen, Abschaffung des obligatorischen gesellschaftlichen Grundstudiums und des Unterrichts in der russischen Sprache.« Heftige Angriffe richten sich besonders gegen die Berichterstattung der demokratischen Presse und die Beschlagnahme der »BZ am Abend« mit der Gomulka-Rede.3
Die Mehrzahl der Studenten – auch die Mitglieder der SED – orientiert sich nach der Westpresse und vor allem nach den Meldungen des RIAS. Die Hochschulleitungen der SED und FDJ sind nur selten in der Lage, der feindlichen Argumentation entgegenzuwirken. Wie nach dem XX. Parteitag der KPdSU4 verstärken sich die Äußerungen gegen das Führungskollektiv der SED, besonders gegen W. Ulbricht, dessen Rücktritt wiederholt gefordert wird.
Im Zusammenhang betrachtet5 richten sich diese Strömungen gegen die führende Rolle der SED und den Aufbau des Sozialismus in der DDR, was besonders durch die »Unabhängigkeitsbestrebungen«, die – oft versteckt – geforderte »Meinungs- und Pressefreiheit« und vereinzelt durch offene Agitationen gegen die Sowjetunion und den sozialistischen Aufbau deutlich wird. Eine beachtliche Rolle spielen in dieser Entwicklung Kontakte mit westdeutschen und auch mit polnischen Studenten.
Die Forderungen nach einer unabhängigen Studentenorganisation
Einen neuen Auftrieb erhielt diese Forderung durch die Meldung westlicher Rundfunkstationen, dass 3 000 ungarische Studenten aus dem kommunistischen Jugendverband ausgetreten seien, um eine unabhängige Organisation zu gründen.6 (Martin-Luther-Universität Halle, Karl-Marx-Universität Leipzig, Universität Rostock) Während ein Teil der Studenten die FDJ-Leitungen als »echte Studentenvertretung neu bilden« will (Wandzeitungsartikel der Humboldt-Universität), fordert z. B. die FDJ-Leitung der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität die Auflösung der FDJ-Hochschulgruppe, »da sie nicht den Interessen der Studenten entspricht«. Es hieß dann weiter, die FDJ sei im Ausland kompromittiert und »werde von der SED bevormundet«. Es müssten »von der SED unabhängige« Studentenclubs gebildet werden, wie sie zum Beispiel schon beständen (Historiker, Ästhetiker). Was damit bezweckt wird, zeigte der »Jakobiner-Club« an der Humboldt-Universität,7 dem Mitglieder der SED angehören. Auf wöchentlichen Zusammenkünften wurde über politische, philosophische und wissenschaftliche Probleme gesprochen. Als sich so eine parteifeindliche Gruppe zu bilden begann, wurde der Club aufgelöst. Am 11.10.1956 fand jedoch ein Treffen der »ehemaligen Jakobiner« (ca. 50 Personen) statt, auf dem u. a. über Wolfgang Leonhardts Buch »Die Revolution entlässt ihre Kinder«,8 die sogenannte Geheimrede Chruschtschows und den »Stalinismus« als Entartung der Sowjet-Gesellschaft diskutiert wurde.9
An der Bauhochschule Weimar erklärte ein Student, die FDJ-Leitung werde sich an andere FDJ-Hochschulgruppen wenden, um die Gründung einer unabhängigen Studentenorganisation, wie z. B. in Polen und Jugoslawien, zu erreichen. Die FDJ-Leitung der Universität Jena stellte u. a. folgende Forderungen zur Diskussion, deren Ergebnisse dem Zentralrat der FDJ und dem Staatssekretariat für Hochschulwesen mitgeteilt und im »Forum«10 veröffentlicht werden sollte:
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Demokratische Wahl der Studentenvertreter im Zentralrat der FDJ,
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Abschaffung des Seminarsekretärs,
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jährliche Einberufung eines Studentenkongresses und Schaffung eines neuen Hochschulprogrammes.
Am Schwarzen Brett der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität erschien am 26.10.1956 ein Anschlag, der den Ausfall der Jahreshauptversammlung der FDJ ankündigte, weil angeblich keine Kandidaten für die neue Leitung zu finden seien. In allen angeführten Fällen gingen die Anregungen zur Schaffung der Studentenorganisation von den FDJ-Leitungen aus oder fanden deren ausdrückliche Billigung.
Stimmung zur Abschaffung des gesellschaftlichen Grundstudiums und des obligatorischen Russisch-Unterrichts
Angeregt durch die westlichen Rundfunksendungen über Ungarn nahm auch zu diesen Fragen die Diskussion zu (Karl-Marx-Universität Leipzig, Universität Rostock). Die Studenten des Wohnheimes in Berlin-Biesdorf verlangten die Abschaffung des Studiums des Marxismus-Leninismus und den Fortfall des obligatorischen Unterrichts in der russischen Sprache. In einem Schreiben wandten sich Studenten des 2. Studienjahres der medizinischen Fakultät der Universität Halle gegen den Russischunterricht. Die gleiche Forderung erhoben Rostocker Medizinstudenten – im Einverständnis mit FDJ-Funktionären – in einer Resolution. Auch ein Teil der Jurastudenten der Deutschen Akademie für Staat und Recht lehnt den Russisch-Unterricht ab.
Angriffe gegen die Berichterstattung der demokratischen Presse
Zu dieser Frage wird die umfangreichste Diskussion geführt, die fast alle Hochschulen erfasst. Es beteiligten sich auch in größerem Maße Mitglieder der SED und FDJ, die besonders darüber unzufrieden sind, dass die westliche Information schneller und vielseitiger reagiere, sodass die Mehrzahl der Studenten sich nach RIAS und Westzeitungen orientiere. Es wurde dadurch sehr schwierig für die FDJ- und SED-Leitungen, feindlichen Argumenten entgegenzutreten. Wegen unzureichender Berichterstattung wird das »Neue Deutschland« kritisiert (Hochschule für Ökonomie, Hochschule für bildende und angewandte Kunst Weißensee). Die Beschlagnahme der »BZ am Abend« löste an verschiedenen Hochschulen Proteste aus, an denen sich auch Mitglieder der SED beteiligten (verschiedene Fakultäten der Humboldt-Universität, die eine Resolution dagegen verfassten sowie Hochschule für Ökonomie u. a.).
Der »Prawda«-Artikel über die polnische Presse wurde von den Studenten vielfach als beleidigend für das polnische Volk bezeichnet (Hochschule für Schwermaschinenbau, Karl-Marx-Universität Leipzig, Humboldt-Universität).11 Auf einer Aktivtagung der FDJ an der Humboldt-Universität traten verschiedene Fakultäten mit ausgearbeiteten Forderungen auf, wobei die häufigsten sich auf die »freie Meinungsäußerung« und »Pressefreiheit« bezogen.
Äußerungen gegen das Führungskollektiv der SED
Die Äußerungen gegen die Führung der SED – insbesondere gegen Walter Ulbricht – haben wieder zugenommen. Forderungen auf Änderungen im Politbüro wurden in Verbindung mit den Ereignissen in Polen und Ungarn erhoben (Hochschule für Ökonomie, Universität Leipzig, Humboldt-Universität). Äußerungen gegen W. Ulbricht, die mit der Forderung nach seinem Rücktritt verbunden sind, werden vorwiegend mit dem Führungswechsel in Ungarn/Polen begründet (Universität Leipzig, Hochschule für Ökonomie, Universität Halle, Pädagogische Hochschule Potsdam).
Das Auftreten westdeutscher und auch polnischer Studenten an den Hochschulen12
Eine westdeutsche Studentendelegation (10) hielt sich eine Woche an der Universität Halle auf. Die westdeutschen Besucher gingen auch zu Vorlesungen, nach deren Beendigung sie Aussprachen mit unseren Studenten führten. Dabei agitierten sie – von den Hallenser Studenten unterstützt – scharf gegen die DDR:13
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die Regierung der DDR ist keine legalisierte Vertretung des Volkes;
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W. Ulbricht muss zurücktreten.
Außerdem verherrlichten sie Franco-Spanien, die »Arbeiterfreundlichkeit« der westdeutschen Monopole und feierten Hitler als »Beschützer vor dem Kommunismus«. An der Hallenser Universität traten dann später auch Diskussionen für »freie Wahlen«, Äußerungen gegen die Oder-Neiße-Grenze und vereinzelt auch antisowjetische Tendenzen auf.
Beachtlich ist, dass die Hochschule für bildende und angewandte Kunst Weißensee, an der starke negative Tendenzen auftraten und regierungsfeindliche Demonstrationen angedroht wurden, ständige Verbindung zu einer gleichartigen polnischen Hochschule unterhält und gerade davor (18.10.1956) den Besuch einer polnischen Studentendelegation hatte.
Polnische Studenten erboten sich gegenüber dem Rektor der Karl-Marx-Universität Leipzig vor unseren Studenten über Gomulka und sein Programm zu referieren, was jedoch verhindert wurde. Die an der Leipziger Universität eingeschriebenen polnischen Studenten orientieren sich nach dem Sender »Freies Europa«,14 während die ungarischen Studenten, mit denen sie in Kontakt kommen wollten, sich zu ihrer Regierung bekannten. Es sollen jedoch Differenzen zwischen polnischen und sowjetischen Studenten aufgetreten sein. Dagegen brachten ungarische und deutsche Ärzte – darunter ein Westdeutscher – an der Leipziger Frauenklinik ihre Sympathie mit den ungarischen Konterrevolutionären zum Ausdruck.
Stellungnahme der Professoren
Die Professoren unterstützten in zahlreichen Fällen die Studenten. So erklärte der Leipziger Medizinprofessor Bredt,15 »man müsse jetzt doch einsehen, dass der Kommunismus nichts für die Menschheit sei«. Charakteristisch dürfte für die Haltung größerer Kreise der akademischen Lehrerschaft die Stellungnahme des Berliner Prof. Havemann16 (SED) auf einer Parteiaktivtagung sein. Havemann – aber auch andere Professoren – machte feindliche Äußerungen gegen Führung und Politik der SED, die er gegen Ende seiner Ausführungen zu verwischen suchte. Er wandte sich scharf gegen den bekannten »Prawda«-Artikel, der an die finsterste jüngste Vergangenheit erinnere und sagte, die Beschlagnahme der »BZ am Abend« sei ein Beweis dafür, dass viele Bonzen und Karrieristen im Staatsapparat die Demokratisierung bremsen. Dadurch könne es zu einer Wiederholung der Juni-Ereignisse von 1953 kommen und das seit dem XX. Parteitag Erreichte verloren gehen. Die Vorfälle im Juni 1953 wären oberflächlich eingeschätzt worden.