Lage der Studenten
25. Oktober 1956
Information Nr. 275/56 – Betrifft: Lage der Studenten (Anhang zum Punkt 2 der Information Nr. 274)
Humboldt-Universität Berlin
An der Philosophischen Fakultät, Fachrichtung Slawistik, wurde zum Hauptinhalt der Diskussion die Wahl des Genossen Gomulka zum 1. Sekretär der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei.1 Seine Wahl sei deshalb erfolgt, weil er der konsequenteste Gegner des Personenkults sei und damit die Volksmassen beruhigt werden sollen. Ebenso wird der »Prawda« Artikel (ND v. 21.10.1956) als nicht objektiv bezeichnet.2 In diesem Artikel trete die Meinung des Verfassers zu sehr in den Vordergrund, er wirkt als Angriff und Beleidigung für das polnische Volk.3
In den Diskussionen wird gesagt, dass in unserer Presse zu wenig aus der Weltpresse berichtet wird. In unserer Presse wurde z. B. nicht wie in der polnischen Presse berichtet, dass Zeugen in Poznan ihre Aussagen widerrufen haben zu denen sie vorher gezwungen worden sind.4 An der Wandzeitung der medizinischen Fakultät wurde folgender Artikel veröffentlicht (sinngemäß): Am Montag wurde eine Ausgabe der »BZ am Abend« beschlagnahmt, die Auszüge aus der Rede des 1. Sekretärs der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei veröffentlichte.5 Diese Maßnahme sei ein Eingriff in die demokratischen Rechte. Der Verfasser ist der Meinung, dass die Bürger der DDR zuerst ein Recht auf wahrheitsgetreue Informationen über die Vorgänge in den Volksdemokratien. Nicht erst durch die Westpresse.
Durch einen Studenten wurde eine Resolution entworfen, die den Protest gegen das Vorgehen des Presseamtes der DDR ausspricht. Diese Resolution wurde von der FDJ-Studienjahrleitung abgelehnt ohne den Studenten vorgelegt zu werden. Damit würde die Leitung beweisen, dass sie nicht die Interessen der Studenten vertrete, die politische Willensbildung der Studenten missachtet. (Bewilligung von Reisegenehmigungen nach Westdeutschland, nichteinladen eines SPD-Abgeordneten zu einer Diskussion) Diese Verfahrensweise der Leitung, sich sklavisch an die Forderungen der übergeordneten Leitung zu halten, stempelt die Studenten zu politischen Säuglingen. Prinzipielle Fehler könnten nur verhindert werden, wenn die »Geleiteten« ihre Meinung unmissverständlich und laut zum Ausdruck bringen. Forderung: 1. Resolution vor dem 1. Studienjahr zur Abstimmung bringen, 2. FDJ-Studienjahrleitung als echte Studentenvertretung neu zu bilden, wenn sie nicht endlich Konsequenzen aus ihren Fehlern zieht. Der Artikelschreiber – Wolters, Hans-Georg6 – war bisher noch nicht in Erscheinung getreten. Er soll Verbindung nach Westberlin haben.
Auf einer Aktivtagung der FDJ an der Universität traten verschiedene Fakultäten mit ausgearbeiteten Plattformen auf. Die häufigste Forderung war freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit. In einer Parteiaktivtagung brachten Genossen zum Ausdruck, dass sie im Allgemeinen die Wahlen 1954 mit vorbereitet haben, jedoch mit der Form der Durchführung der Wahlen nicht einverstanden waren.7 Die Partei konnte ihnen diesbezüglich keine erschöpfende Arbeit geben.
Inaktivität der Genossen der medizinischen Fakultät wurde mit der nur fünfjährigen Studienzeit begründet (früher 6 Jahre). Der Parteiorganisator des 3. Studienjahres der Philosophischen Fakultät, Fachrichtung Geschichte, erklärte: »… Die Lage ist so ernst, ich verstehe nicht, warum die Partei noch nicht in Aktion ist …«
An der Universität bestand ein »Jakobiner-Club«. Ihm gehörten Genossen an, die jeden Freitag zusammentrafen und über wissenschaftliche, politische und philosophische Probleme diskutierten. Es bildete sich eine Opposition gegen die Parteipolitik heraus, die die Auflösung dieses »Jakobiner-Clubs« durch die Partei mit sich brachte.8 Am 11.10.1956 fand ein Diskussionsabend der ehemaligen »Jakobiner« statt (ca. 50 Personen), der sich mit folgenden Problemen beschäftigte: Der Schritt der polnischen Jugend neue Wege zu suchen (Veröffentlichungen in »Nowa Literatura«)9 ist zu begrüßen. Sperrbibliotheken sollen allgemein zugänglich werden.10 Diskussion über das Buch »Die Revolution entlässt ihre Kinder« von Wolfgang Leonhard.11 Dieses Buch war allgemein bekannt. Es wurde festgestellt, dass der Autor in vielen Fällen Recht habe.
Über die »Geheimrede« des Genossen Chruschtschow wurde gesprochen und bemängelt, dass die Rede den Studenten vorenthalten wird und sie sich durch andere »Quellen« informieren müssten.12 Sie erklärten sich mit der Feststellung Togliattis13 einverstanden, dass der Stalinismus eine Entartung der Sowjetgesellschaft ist.14 Besonders wurde gegen die ungenügende Information durch das »ND« Stellung genommen.
Der Parteiorganisator des 3. Studienjahres, Fachrichtung Geschichte, forderte eine überparteiliche Zeitung für die Intelligenz. Es wurde ein Aufruf zum 2. Studentenforum am 25.10.1956, 18.00 Uhr, von unbekannter Seite veröffentlicht. Es sollte sich mit der Einziehung der Montagsausgabe der »BZ am Abend« beschäftigen. Es wird Antwort gefordert, ob die Pressefreiheit und Demokratisierung diese Maßnahme rechtfertige.
Auch an der Hochschule für Ökonomie, 4. Studienjahr der Volkswirtschaftlichen Fakultät, wurde über die Lage in der Volksrepublik Polen diskutiert. So z. B.: Die Genossen fordern eine Stellungnahme des ZK der SED zu den Fragen in Volkspolen. Deswegen wurden drei Genossen zur Redaktion des »ND« delegiert um dort die Forderungen zu vertreten. Es wurde gegen die Einziehung der »BZ am Abend« Stellung genommen. Gegen eine Veröffentlichung des Artikels hat nichts gesprochen, da er nichts Parteifeindliches zum Inhalt hatte. Es bestehen Unklarheiten über die Person des Genossen Gomulka. Es wurden Vergleiche gezogen über die Höhe der Strafen in der DDR nach dem faschistischen Putschversuch am 17.6.1953 und den Vorfällen in Poznan. Warum in der DDR so hohe Strafen, in der Volksrepublik Polen jedoch nicht. Ein Student äußerte, »wenn im ZK der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei Mitglieder des Politbüros ausgeschieden sind,15 müsste es bei uns zu dieser Maßnahme auch an der Zeit sein«.16 Der Kandidat für die ZPL (1. Sekretär) nimmt zu diesen Diskussionen eine abwartende Haltung ein. Er wartet auf eine Veröffentlichung des ZK der SED.
An der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee wurde Kritik an der Arbeitsweise des »ND« und dem Aussehen der Zeitung geübt. Es wurde wiederholt die Redaktion, das ZK und die Bezirksleitung kritisiert und eine Aussprache gefordert. Diese Aussprache fand nicht statt. Die Stimmung verschlechterte sich nach der angeblich schlechten Berichterstattung über die Ereignisse in Volkspolen. Die Studenten forderten Aufklärung über diese Fragen in einer Versammlung. Diese Versammlung sollte am 24.10.1956 stattfinden. Dafür sprach auch der FDJ-Sekretär, der Mitglied der Parteileitung ist.
Am 23.10.1956 wurde in der Parteileitung diese Versammlung abgesetzt. In einer Aussprache mit den Vertretern der Seminare, wo für 15 bis 20 Personen, 50 bis 60 Personen (3 Dozenten) erschienen. Hauptpunkte der Diskussion:
- 1.
Endlich Schlussmachen mit der Nachtrabpolitik.
- 2.
Warum keine rechtzeitige Information? Weshalb keine richtige Argumentation zu den Ereignissen?
- 3.
Wer ist Gomulka?
- 4.
Seine Rede muss veröffentlicht werden zur eigenen Meinungsbildung. Die Zeit des Diktats müsse vorbei sein.
- 5.
Es geht um zwei Hauptfragen:
a) um die Redaktion des ND
b) um die Ereignisse in Polen.
- 6.
Solange Achtgroschenjungen eine Provokation organisieren können, ist in unserer Politik etwas nicht in Ordnung (NDPD-Mitglied).
- 7.
Wir werden zur polnischen Botschaft gehen und uns die Rede Gomulkas holen.17
Auf den Hinweis des 1. Sekretärs der SED Kreisleitung, dass die Note der SU zum Deutschlandproblem im Mittelpunkt stände,18 ertönte ein vielstimmiges Gelächter und der Hinweis, diese Ablenkungsmanöver seien bekannt. Wenn nicht Klarheit über Polen gegeben wird, könnten ja einmal 200 Studenten marschieren. Die Hochschule hat enge Verbindungen mit der gleichartigen Hochschule in Warschau.
An der Karl-Marx-Universität Leipzig wurden folgende Diskussionen bekannt: Der »Prawda«-Artikel mische sich in die inneren Angelegenheiten Polens.19 Er ist keine Auseinandersetzung sondern Schimpferei. Die Wahl Gomulkas erfolgte auf Druck der Massen. Es muss schon schlimm sein, wenn Chruschtschow erst nach Warschau fahren muss. In Ungarn sind die Studenten massenweise aus dem Kommunistischen Jugendverband ausgetreten. Sie bilden eine eigene Jugendorganisation.20 Das Grundstudium ist abgeschafft. Weitere Diskussionen sind denen an der Humboldt-Universität ähnlich.
Studenten der Schiffsbau und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock diskutierten ebenfalls über den Austritt von 3 000 Studenten aus dem Jugendverband Ungarns.