Lage in den Universitäten und unter den Studenten
18. Mai 1956
Lage in den Universitäten und unter den Studenten [Information Nr. M104/56]
Lage in den Universitäten und unter den Studenten
I. Stimmung der Studenten
a) Zu politischen Fragen
In den letzten Wochen standen unter den Studenten die Diskussionen über [den] XX. Parteitag der KPdSU,1 [die] 3. Parteikonferenz der SED2 und Urlaubsfahrten nach Westdeutschland im Mittelpunkt.
Sehr rege und in großem Umfang wurde an fast allen Universitäten über den XX. Parteitag gesprochen. Allerdings standen nicht die politischen und ökonomischen Perspektiven im Mittelpunkt, sondern die Erklärungen über die Rolle und die Auswirkungen des Personenkultes, besonders in Bezug auf Stalin. Zu bemerken war jedoch, dass eine ganze Reihe von Studenten verschiedener Fakultäten (z. B. verschiedene Institute der Philosophischen Fakultät in Leipzig) nicht in erster Linie bestrebt waren, die Schädlichkeit des Personenkultes zu erkennen, sondern es wurden vielmehr alle Veröffentlichungen über die Fehler Stalins wie Sensationen aufgegriffen und diskutiert.
In diesem Zusammenhang gab es an der medizinischen Fakultät der Universität Leipzig vereinzelt auch Meinungen, die sich gegen die Presse-Artikel von Walter Ulbricht über die Fragen des Personenkultes richten.3 Teilweise wurde in provokatorischer Weise diskutiert und erwartet, dass die 3. Parteikonferenz zu Fehlern besonders Stellung nimmt. An der juristischen Fakultät wurde außerdem besonders darüber gesprochen, wie es möglich war, die Prozesse in der SU auf gefälschtem Material aufzubauen. Am Institut für Marxismus-Leninismus der Philosophischen Fakultät wird gefragt, warum in unserer Partei nicht ebensolche Auseinandersetzungen eingeleitet werden, wie in den Bruderparteien. (Dabei wird besonders auf die Ablösung verschiedener Funktionäre spekuliert.)
Auch in der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wird in ähnlicher Weise die Frage aufgeworfen, weshalb man sich bei uns nicht ebenfalls zum Personenkult äußert, mit den Worten des Genossen Walter Ulbricht über diese Frage sind sie nicht einverstanden. Sie erwarten täglich vom ZK dazu noch Erklärungen. Der Medizinstudent [Vorname Name 1] sagte, dass nach Stalins Tod Bulganin4 versucht habe, die Macht an sich zu reißen, deshalb sei Berija5 »ermordet« und Malenkow6 »kaltgestellt« worden. Durch solche und ähnliche Äußerungen wurde teilweise Verwirrung hervorgerufen. Mehrere Studenten der Martin-Luther-Universität Halle stellten die Frage, warum die Genossen des ZK der KPdSU die Fehler Stalins so lange duldeten und warum einige führende Genossen wie Mikojan7 noch vor einigen Jahren in Artikeln Loblieder auf Stalin sangen. Die Studenten glauben, dass die führenden Genossen im ZK der KPdSU schon zu Lebzeiten Stalins gegen dessen Abweichungen auftreten konnten.
Über die 3. Parteikonferenz waren die Diskussionen bei Weitem nicht so umfangreich wie nach dem XX. Parteitag. In der Universität Jena, [Bezirk] Gera, wurde vorwiegend über die Rentenerhöhung8 und die geplante Einführung des 7-Stunden-Tages9 gesprochen. Unter den Medizinern sagt man, es wäre schon viel versprochen worden, aber nichts eingehalten. Jetzt würde man es an bestimmte Voraussetzungen knüpfen und sagen, es hänge von den Arbeitern selbst ab. Damit hätte man sich eine Hintertür geschaffen und könnte dann sagen, dass die Arbeiter nicht die notwendigen Voraussetzungen dazu geschaffen hätten. Unter den Physikern und Chemikern der Universität Jena wird speziell über die Perspektive gesprochen, die sich im Verlaufe des 2. Fünfjahrplanes10 auf dem Gebiet der Kernphysik ergeben, was von ihnen für ihre zukünftige berufliche Entwicklung sehr begrüßt wird.
So waren z. B. die Studenten der Karl-Marx-Universität Leipzig enttäuscht, weil die erwartete Kritik an Genossen Walter Ulbricht ausblieb. Mehrere Studenten der medizinischen Fakultät äußerten, dass auf der 3. Parteikonferenz nichts Neues gesagt worden sei.
Zur Stimmung über die Urlaubsfahrten von Studenten nach Westdeutschland wird in der Anlage gesondert berichtet.11
b) Stimmung und besondere Erscheinungen zu fachlichen Fragen
Es gibt eine ganze Reihe Hinweise – besonders an den Universitäten Rostock und Jena –, dass von den Studenten der obligatorische »Russisch-Unterricht« abgelehnt wird. »Es ist zwar richtig, eine Fremdsprache zu erlernen, aber es muss jedem überlassen bleiben, welche Sprache er wählt« (Jena). »Für unsere weitere Arbeit benötigen wir vor allem englische Sprachkenntnisse. Die an den Oberschulen erworbenen russischen Sprachkenntnisse reichen vollkommen aus« (Rostock). Außerdem sind Stimmungen vorhanden (beispielsweise in der Universität Greifswald), die eine Einschränkung des gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums verlangen.12
Zum Rücktritt von Lyssenko gab es an der Universität Rostock Diskussionen, wo auch in der Vergangenheit Lyssenko nicht als Wissenschaftler anerkannt wurde.13 Dort vermutet man (mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät), dass er gar keine wissenschaftlichen Ergebnisse nachzuweisen hat und dass seine Theorien »wie bei Stalin diktatorisch durchgesetzt wurden«.
In der Karl-Marx-Universität in Leipzig sind die Studenten der medizinischen Fakultät nicht mit der von Professor Bauereisen14 vorgenommenen Kürzung der Prüfungszeit für das Physikum einverstanden. In verschiedenen Instituten dieser Universität wird bemängelt, dass wissenschaftliche Literatur aus dem Westen ungenügend zur Verfügung steht und im Lehrstoff auch nicht mit angegeben ist.
Unter den Geographiestudenten in Greifswald herrscht eine gedrückte Stimmung (verschiedene tragen sich mit dem Gedanken einer Republikflucht), weil verschiedene Examens-Kandidaten trotz Vorbesprechung und Arbeitsplatzzuweisung von den dafür in Frage kommenden Institutionen (Institut für Marktforschung der DDR und Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse)15 ablehnenden Bescheid erhielten.
II. Hetze
Die Hetze und Beeinflussung im feindlichen Sinne geschieht hauptsächlich durch die Sendungen westlicher Rundfunkstationen wie RIAS und Freies Berlin – die noch von einem großen Teil der Studenten gehört werden – und durch verschiedene Hetzschriften der feindlichen Zentralen wie beispielsweise »Colloquium«.16 Neben grundsätzlichen Fragen, wie ideologische Auseinandersetzungen mit dem Marxismus (die der Mentalität und Ausdrucksweise der Studenten geschickt angepasst sind) werden von den feindlichen Zentralen die sich ständig verändernden politischen Gegenwartsfragen zum Anlass genommen, eine wüste Hetze, Entstellung und feindliche Beeinflussung zu entfachen. Oft sind die Auswirkungen dieser Hetze in den Diskussionen der Studenten spürbar.
In der letzten Zeit standen dabei die 3. Parteikonferenz und der XX. Parteitag im Mittelpunkt dieser Tätigkeit. Aber auch rein fachliche und organisatorische Fragen werden zum Ausgangspunkt für Verleumdungen gemacht, um Unzufriedenheit zu erzeugen und die Studenten gegen die DDR und deren Einrichtungen [auf] zu bringen, unter Propagierung des »Gegenstückes« in Westdeutschland. (RIAS vom 12.4.1956) Hierzu einige konkrete Beispiele:
- –
In der RIAS-Sendung vom 8.3.1956 wird im Hochschulfunk unter dem Thema »Deutsche Studenten in Ost und West« ein »Rückblick« auf die Jahre 1946 bis 1956 gehalten. Diese Sendung, die hauptsächlich mit Tonbandaufnahmen (»ostzonaler Sender«) und Kommentaren bestritten wird, hat die eindeutige Tendenz, die Entwicklung der Universitäten und des studentischen Lebens in der DDR zu verleumden und ins Gegenteil umzukehren.
- –
Für den »Kampf um die Freiheit und die freie Lehre an den Universitäten« werden Ereignisse wie die in Greifswald als Vorbild proklamiert. Wörtlich heißt es: »Ein Kampf der kommunistisch-ideologischen Bevormundung ist aus dem Kampf um die Universität geworden, ein Kampf nicht mehr um den Aufbau der Universität, sondern für ihre Vernichtung.« Der Stil dieser Sendung ist Lächerlichmachung, Gemeinheit und Verleumdung.
- –
Zur bevorstehenden 500-Jahr-Feier der Universität Greifswald17 nimmt Freies Berlin18 am 20.4.1956 Stellung und versucht den Rektor der Universität, Dr. Katsch,19 der mit der Vorbereitung der Feierlichkeiten beauftragt ist, in Widerspruch zur Partei zu bringen und die Feierlichkeiten zu boykottieren: »Man kann es einem Akademiker aus dem Westen nicht zumuten, in einem Festzug mit Fahnen, Transparenten und Musikkapellen zu marschieren, deren freiheitsbewusste Studenten unschuldig in sowjetzonalen Strafanstalten festgehalten werden.«
- –
In der »Zeitschrift der Freien Studenten Berlins Colloquium« wird unter der Überschrift »Das zweite Begräbnis« über Fragen des XX. Parteitages bzw. zur Frage Stalin Stellung genommen. Im Hauptinhalt werden diese Fragen nur als Taktik hingestellt, vor der man auf der Hut sein muss. »… der weltumspannende Konflikt zwischen den Kontrahenten des sog. kalten Krieges dürfte in seiner Gesamtheit nicht früher beigelegt werden, als seine wesentlichste Ursache, der Versuch ideologischer Expansion des Bolschewismus, beseitigt ist …« Außerdem wird in dieser »Zeitschrift« in einem Artikel über die FDJ (»Das Vergnügen hat Methode«) gleichfalls das frohe Jugendleben als Taktik bezeichnet, um die »Nichtlinientreuen« aus der Reserve zu locken.20
- –
Es wird versucht, die Hetzschrift »Colloquium« in einer Höhe von monatlich ca. 7 000 Exemplaren durch die Post an die Studenten aller Bezirke zu versenden. Daneben werden aber auch die üblichen Hetzschriften, besonders die der KgU21 und des Ostbüros der SPD,22 an Studenten versandt.
III. Die Arbeit der Parteiorganisationen und FDJ-Einheiten an den Universitäten.
a) Die Parteiarbeit
ist bis auf wenige Ausnahmen mangelhaft. Es wurden zwar nach dem XX. Parteitag und nach der 3. Parteikonferenz regelmäßige und auch besser besuchte Versammlungen organisiert, die aber in der Endkonsequenz nur der Erörterung der Frage Stalin dienten. Da auch die Parteileitungen in vielen Fällen keine Klarheit schaffen konnten, vertreten beispielweise Studenten des Franz-Mehring-Institutes in Leipzig die Meinung, dass der Marxismus-Leninismus keine exakte Wissenschaft ist.
An der Universität Rostock ist die Parteiarbeit insgesamt gesehen zwar besser, doch gibt es auch hier schlechte Beispiele: So weicht ein großer Teil der Genossen politischen Diskussionen aus, obwohl sie – das ergeben die Seminare für Gesellschaftswissenschaften – die Zeitung gut verfolgen und die Probleme kennen. In diesem Zusammenhang sind auch die Äußerungen verschiedener Studenten des IV. Studienjahres zu sehen, dass sie nach Abschluss des Studiums aus der Partei austreten wollen. Bis dahin »müssten sie noch aushalten«.
Vollkommen inaktiv verhalten sich die Genossen Studenten an der Universität Greifswald, besonders die jüngeren. Die parteilosen Studenten äußern sich zu Fragen der Parteiarbeit kaum. Ein Grund ist mit in der von dem parteilosen wissenschaftlichen Assistenten [Name 2] (Chemisches Institut) bezogenen Haltung zu suchen, der abfällig und höhnisch äußerte: »Ich werde ja die Studenten bei der Prüfung wiedersehen, die jetzt als Genossen eine aktive gesellschaftspolitische Arbeit leisten.«
Die Parteileitungen geben den Genossen zu all diesen Fragen keine Hilfe. Auch an der Universität Halle entspricht die Partei noch nicht den Erfordernissen der Universität, obwohl sich einiges gebessert hat. Durch die in der Vergangenheit meist schwache Parteiarbeit sind die Genossen nur schwer zu einer Mitarbeit zu bewegen und es hat den Eindruck, dass mancher seine Parteimitgliedschaft verheimlichen will. In den Kliniken wird die Parteiarbeit hauptsächlich von den technischen Kräften durchgeführt. Begründet wird die schwache Parteiarbeit mit Mangel an geeigneten Kadern.
Folgendes Beispiel beweist, dass der Einfluss der Partei noch ungenügend ist: Am 2.5.1956 demonstrierten in Weimar 200 Studenten der Musik-Hochschule mit einer zehn Mann starken Kapelle, der sich noch ca. 100 andere Personen anschlossen, gegen den Komponisten Herbert Roth,23 der in Weimar gastierte. Die Absicht der Studenten, zu demonstrieren, war vorher bekannt gegeben worden, konnte aber trotzdem nicht verhindert werden.24
b) FDJ-Arbeit und Rolle der GST
In der Hauptsache tritt in den Universitäten die FDJ als Träger der kulturellen Arbeit in Erscheinung. Bemühungen, auf allen Gebieten des Jugendlebens Initiator zu sein, gibt es, diese werden aber oft durch die Interesselosigkeit der Studenten für FDJ-Arbeit (Rostock, Greifswald) und bürokratische Arbeit (Halle) gestört. So verbringt der hauptamtliche FDJ-Sekretär der Universität Halle 80 % der gesamten Arbeitszeit auf Pflichtsitzungen. An dieser Universität sind fast alle Studenten Mitglieder der FDJ und es bestehen gewählte Leitungen bis in die kleinsten Einheiten. Trotzdem ist von einer FDJ-Arbeit nicht viel zu spüren. Ähnlich ist es auch an den übrigen Universitäten.
Von den übrigen Massenorganisationen spielt lediglich die GST eine erwähnenswerte Rolle, die z. B. in der Universität Halle aktiv arbeitet. Dort ist ein großes Interesse seitens der Studenten vorhanden und in den Ausbildungsstunden werden auch politische Probleme behandelt. Hemmend wirkt sich aber das Fehlen von Ausbildungsgeräten und Fahrzeugen aus. Ebenfalls gut arbeitet die GST in den Universitäten Rostock und Greifswald. Nachgelassen hat die GST-Arbeit an der Universität Leipzig, weil die Ausbildungsstunden uninteressant gestaltet sind. Ungenügende Arbeit auf diesem Gebiet wird in Jena geleistet. Die Mitglieder der GST haben keine Lust, weil seit Jahren immer das Gleiche gemacht wird und sie nicht immer nur mit Luftgewehren schießen wollen.
IV. Evangelische Studentengemeinde (ESG)
Die Mitgliederzahl der ESG, die an Universitäten, Hochschulen, ebenso an den Fachschulen existieren, schwankt erheblich. Es gibt kleine »Gemeinden« (z. B. Bergakademie Freiberg 25 »Glieder«) und sehr große (z. B. TH Dresden 500, Universität Halle 600, Universität Rostock 230, Universität Greifswald 200 und Universität Leipzig über 600).
Der Einfluss der ESG hat steigende Tendenz, was sich besonders in der Schaffung der sog. »Nachbarschaften« zeigt, die zur Verbindung zu den Studentenmassen und zur Neuwerbung eingerichtet werden. Neue ESG wurden z. B. in Güstrow und Magdeburg gegründet. Das zeigt sich auch in Austrittserklärungen aus der FDJ, nachdem das V. Parlament das neue Statut der FDJ annahm.25 Z. B. traten alle Mitglieder der ESG der Bergakademie Freiberg aus der FDJ aus. Mit derselben Begründung erklärte der Theologiestudent Günter Pilz, Greifswald,26 seinen Austritt aus der FDJ. Er war FDJ-Sekretär und Träger des Abzeichens »Für Gutes Wissen« in Gold. In dieser Haltung zur FDJ werden sie durch den Lehrkörper bestärkt und gestützt. Die Professoren der Humboldt-Universität Berlin, Schneider27 (Dekan der Theologischen Fakultät) und Elliger28 (Theologische Fakultät) erklärten, es könne christlich orientierten Studenten nach dem V. Parlament nicht zugemutet werden, in der FDJ zu arbeiten. Der Rektor der Universität Greifswald, Professor Katsch (Nationalpreisträger),29 setzt sich für die Arbeit der ESG ein und macht die FDJ-Hochschulleitung für die Behinderung der ESG verantwortlich.
Verbindungen nach Westdeutschland
Die ESG der DDR und Groß-Berlin steht völlig unter dem Einfluss der westdeutschen Studentengemeinden und ist auch organisatorisch ihr getreues Abbild. Es bestehen Patenschaften und gemeinsam werden Tagungen, Konferenzen, Auslandsreisen und Sommerlager organisiert und zum Teil von Westdeutschland finanziert.
- –
Die Bonner ESG hat z. B. die Patenschaft über die Greifswalder ESG übernommen, Tübingen über Jena und Göttingen über Leipzig. Dr. Sick,30 Studentenpfarrer in Karlsruhe, kündigte für 1956 gemeinsame Sommerlager in Süddeutschland an.
- –
Vom31 2. bis 6.8.1956 findet in Mannheim die Sommerkonferenz der ESG mit internationaler Beteiligung statt (anschließend Teilnahme am Kirchentag in Frankfurt).32
- –
Vom 27.3. bis 5.4.1956 fand ein französisch-deutsches Treffen in Bièvres bei Paris statt.
- –
Vom 9. bis 14.4.1956 tagte die Gesamtdeutsche Konferenz der Studentenpfarrer in Arnoldshain/Taunus.
Auslandsverbindungen
Hierbei treten besonders die Verbindungen zur ČSR und Frankreich in den Vordergrund. Anlässlich des Besuches von Prof. Hromádka,33 Prag, in Berlin (25.9.1955) fanden persönliche Begegnungen mit Mitgliedern der ESG statt, bei denen Korrespondenzen und Einladungen zwischen Studenten aus beiden Ländern vereinbart wurden. Die ESG der DDR hofft im Sommer 1956 durch ökumenische Aufbaulager die persönlichen Verbindungen mit Studenten aus der ČSR zu erweitern. Am 1.1.1956 trafen sich in Freiberg zum vierten Mal Mitglieder der ESG und Studenten der Protestantischen Studentenvereinigung Frankreichs. Die ESG will versuchen, mit chinesischen Studenten, die in der DDR studieren, in Kontakt zu kommen.
Neue Methoden
Studenten, die ihr Studium beendet haben, sollen sechs Monate in der Produktion arbeiten, um mit den Werktätigen in Kontakt zu kommen. Sie sind beauftragt, die Arbeiter zur »Rettung des Privatlebens« aufzufordern, die »Unmöglichkeit der Planerfüllung« und die »Ausbeutung« durch den Staat zu beweisen und gleichzeitig unter den Jungarbeitern kleine Gruppen der »Jungen Gemeinde« zu bilden. Ein ehemaliger Theologiestudent hat so bereits im Werk »7. Oktober«34 und an der Bode-Talsperre35 gearbeitet und dort gegen den Plan gehetzt. Der Kandidat der Theologie [Vorname Name 3], der im Herbst 1955 das 1. Examen ablegte, arbeitet sechs Monate im Faserwerk in Tangermünde,36 um dann als Vikar bei der Kirche anzufangen. Auf der Mannheimer Sommerkonferenz (2.8.1956) lautet ein Thema »Die Kirche geht in die Fabrik«.37
Angriffe gegen Staat und SED
Die Angriffe in den Fragen »Nationale Volksarmee«38 und »Marxismus-Leninismus« werden offen vorgetragen, dagegen ist bei anderen politischen Fragen Zurückhaltung zu bemerken, wobei aber versteckt – besonders in Gebeten und Predigten eingestreut – weiter gegen die DDR gehetzt wird. Positive Stellungnahmen gibt es für die Beseitigung der Pariser Verträge39 und in der Abrüstungsfrage.
Zur Auseinandersetzung mit dem Marxismus wird die Bildung sog. »fliegender Kleinkreise« in einem Schreiben der ESG-Zentrale vorgeschlagen. Das Studium des Marxismus sei gegenwärtig die wichtigste Aufgabe, um richtige Gegenargumente zu sammeln, sagte Studentenpfarrer Neumann40 aus Eberswalde. Das Buch von Dibelius »Die Grenzen des Staates« wird im Sommersemester 1956 im dogmatischen Kleinkreis der Humboldt-Universität studiert.41
In den vorgeschriebenen Gebeten befinden sich solche Stellen:
Sündenbekenntnis,
… dass wir so schnell mit bloßen Diskussionen und Ideen zufrieden waren statt tätig zu werden.
… dass wir Furcht vor denen hatten, die uns feindlich gesinnt sind …
Fürbittengebete für alle,
… denen der Sinn ihres Studiums verloren gegangen ist.
… deren Existenz als Studenten sozial oder politisch bedroht ist.
… die der Wahrheit um falscher Ideologien willen Gewalt antun.
… denen kein Raum für ein privates Leben mehr bleiben soll und die von vielen Konferenzen und Tagungen müde geworden sind.
Internationale Organisation
Die ESG der DDR ist dem Christlichen Weltstudentenbund angeschlossen.42 Das Oberste Organ – 150 Mitglieder – ist das Generalkomitee, welches alle drei Jahre zusammentritt. Es regelt Hilfsprogramme, Reisen, Finanzen, Publikationen und tagt vom 12. bis 26. August 1956 in der Evangelischen Akademie Tutzing bei München. Fünf deutsche Delegierte nehmen teil.
Der Arbeitskreis für Mission (AfM)
gehört zur ESG in Deutschland und wurde am 28.3.1896 in Halle gegründet.43 Diese Organisation ist nach dem Zweiten Weltkrieg vorwiegend amerikanisch beeinflusst worden. Ein Teil seiner hauptamtlichen Mitarbeiter, z. B. der Reisesekretär Günter Dulon,44 studierte in Amerika. Der Arbeitskreis arbeitet eng mit der Osteuropäischen Mission45 – Zentrale Pasadena46/Kalifornien/USA – zusammen, die durch ihre Mitarbeiterin Charlotte Teubner47 in Westberlin die Lager der Republikflüchtigen bearbeiten lässt. Die Leitung der Berliner Gruppe des AfM in der ESG liegt vor allem in den Händen der Amerikanerin Evelyne Peters,48 Berlin W 18, Fasanenstraße 46. In der Stöckerstiftung, Berlin-Weißensee,49 finden sogenannte »Freizeiten« statt, an der Studenten aus Ost und West teilnehmen. Im August 1956 (24.–31.) werden Dulon und ein gewisser Sundermeier50 dort eine »Freizeit« organisieren. Das Geld liefert die westdeutsche Organisation zu einem Teil. Zur Tarnung soll ein Vikar aus der DDR als Leiter fungieren.
V. Republikfluchten
In der DDR sind zurzeit ca. 40 000 Studenten an den Universitäten immatrikuliert (Hoch- und Fachschulen nicht mit einbezogen), die von einem Gesamtlehrkörper (Professoren, Dozenten, Assistenten) mit ca. 1 370 ausgebildet werden. Von den Studenten sind Arbeiter und Bauern 57 %, Kleinbürgerliche 38,4 % und Bürgerliche 4,6 %.
Im I. Quartal 1956 wurden 439 Studenten republikflüchtig, ist gleich 1,1 %. Im gleichen Zeitraum flüchteten vom Lehrkörper 45 Personen, ist gleich 3,3 %. Den größten Anteil haben hier die wissenschaftlichen Assistenten mit ca. 45 %. Beim Lehrkörper ist nach dem vorliegenden Material die Begründung wie folgt angegeben:
- –
Abwerbung 7 %
- –
politische Gründe 18,6 %
- –
fachliche Gründe 25,6 %
- –
persönlich-familiär 20,8 %
- –
unbekannt 28,0 %
- –
[gesamt] 100,0 %
Die Gründe der Republikflucht der Studenten können nicht genau analysiert werden. Zweifellos haben aber die in Westdeutschland und Westberlin durchgeführten Maßnahmen das Ziel, mehr Studenten zur Republikflucht zu ermutigen. (Feststellung, dass »Ost-Flüchtlings-Studenten« kein Notaufnahmeverfahren und kein Lager mehr durchlaufen müssen,51 und lt. Kurier vom 24.2.1956, dass alle Fraktionen vom Bundestag eine stärkere Förderung – vorwiegend finanzieller Art – der Ost-Flüchtlings-Studenten erwarten.)52
Zu erwähnen ist noch, dass sich die Republikflucht von Angehörigen des Lehrkörpers – die prozentual ja höher als die der Studenten liegt – auf die Studenten wie folgt auswirkt: Unter den Studenten der ABF »Wilhelm Pieck« in Freiberg ist zurzeit die Republikflucht der Dozenten für Kader und Erziehung der Hauptgesprächsstoff, der die politischen Probleme in den Hintergrund drängt. Das Vertrauen der Studenten zu den Dozenten ist zum Teil verloren gegangen. Ein Student, parteilos, 20 Jahre sagte: »Ich hatte zu dem Dozenten, welcher republikflüchtig wurde, großes Vertrauen, jetzt weiß ich nicht mehr, wem ich vertrauen soll.« Ein anderer Student brachte Folgendes zum Ausdruck: »Ich weiß nicht mehr, was ich von unserem Dozenten halten soll. Erst hält er einen Vortrag über die Rassendiskriminierung in Westdeutschland und jetzt ist er selbst nach drüben gegangen, er ist doch Halbjude.«