Lage in der DDR (1) 25.–26.10.
26. Oktober 1956
Information Nr. 278/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (25.10., 18.00 Uhr, bis 26.10.1956, 6.00 Uhr, eingegangenes Material)
I. Lage in der Industrie
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Berlin: Im Privatbetrieb Firma Lonkhold (Feinmechanik) in Heinersdorf herrscht eine sehr gedrückte Stimmung, weil ca. 30 Arbeiter – in der Mehrzahl Frauen, deren Männer arbeiten – angeblich wegen Materialmangel entlassen wurden. Die Arbeiter im VEB »Heinrich Rau« Wildau sind unzufrieden über die unregelmäßige Belieferung mit Rohmaterial. So haben sie jetzt wegen Materialmangel wenig Arbeit und befürchten am Jahresende wieder mit Hochdruck arbeiten zu müssen. Im Kraftwerk Klingenberg ist der Kessel B 7 ausgefallen. Ursache ist noch nicht bekannt. Von 17.30 Uhr bis 19.30 Uhr musste deshalb in einigen Teilen von Johannisthal das Licht gesperrt werden.
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Leipzig: Der VEB Eilenburger Zelluloid-Werk musste ab 24.10.1956, 16.00 Uhr, in der Abteilung Röhrenpresserei und Kalander wegen Fehlen von BCU;-Pulver die Arbeit einstellen. Betroffen sind 100 Personen.
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Erfurt: Ein Arbeiter vom Kali-Schacht Alexandershall, [Kreis] Eisenach, erklärte: »In einigen Tagen gibt es bei uns auch einen Streik, er wird aber anders aussehen, als der in Karl-Marx-Stadt.« Im Kali-Werk Volkenroda1 und »Karl Marx« in Sollstedt2 lehnen viele Arbeiter (Hauer, Mechaniker, Verlade- und Bauarbeiter) den Wirtschaftszweig-Lohngruppenkatalog3 ab und fordern höhere Bezahlung. Zwei typische Stimmen dazu: »Die sollen weniger Panzer bauen, wenn sie Geld brauchen. Das sind alles Verräter.« »Wisst ihr überhaupt, wie die Stimmung hier im Werk ist? Die meisten Arbeiter warten auf einen neuen 17.6.«
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Dresden: Im BKW Hirschfelde, [Kreis] Zittau, (Nasspressstein-Anlage) herrscht starke Unzufriedenheit, weil die Kollegen nicht die für den gewonnenen Wettbewerb zugesicherte Prämie erhielten. Sie wollen die Arbeit niederlegen, wenn nicht bis Sonnabend die Prämie gezahlt wird. Einige Kollegen vom Stahlwerk Riesa haben ihren Betrieb beim Arbeitsgericht verklagt, weil sie nicht nach den entsprechenden Lohngruppen bezahlt wurden. Sie bekamen Recht und der Betrieb muss Tausende nachzahlen. Jetzt fordern viele Kollegen ebenfalls Nachzahlung.
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Magdeburg: Am 25.10.1956 um 13.15 Uhr brannte die Unterkunftsbaracke des Rohstoffbetriebes im EWW Calbe nieder. Schaden ca. 100 000 DM. Brandursache nicht bekannt.
II. Besondere Vorkommnisse
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Berlin: Der Aufnahmeleiter vom DEFA-Spielfilmstudio Herbert Lockau erklärte im Kreise von Schauspielern und Regisseuren: »Es ist gut, dass es so gekommen ist (Polen).4 Auch bei uns wird es Zeit, dass sich einiges verändert. Herr Ulbricht wird wohl höchstens noch acht Wochen an der Macht sein.« An der Hochschule für Plankökonomie Berlin-Karlshorst wird in allen Studienjahren über die Einziehung der »BZ«5 und die »Verzögerungstaktik« unserer Presseorgane gesprochen. Fast organisiert wird RIAS gehört und von einem Teil die Westpresse studiert. Die Genossen hinken zum Teil den Ereignissen hinterher und sind nicht in der Lage, die Diskussionen zu lenken.
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Karl-Marx-Stadt: Am 24.10.1956 wurden von zwei Jugendlichen zwei Pistolen, 58 Schuss dazugehörige Munition und zwei Magazine angeblich bei der Fa. Köhler – Kältetechnik – in einem Schuppen gefunden. Die Waffen sind gut erhalten. Maßnahmen wurden eingeleitet.
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Erfurt: Drei Studenten der Hochschule für Architektur in Weimar wandten sich an ihren Dozenten, um einen Brief an Walter Ulbricht abzufassen. Über ihre Forderungen war noch nichts zu ermitteln. Forderungen des 17.6.1953 wurden von Arbeitern in Apolda gestellt. (Bekannt geworden durch Diskussionen im Berufsverkehr.)
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Grenze: Gegen 16.30 Uhr wurden von dem Kommando Salzwedel drei Jeeps und ein Pkw beobachtet, die bis ca. 150 m an den Schlagbaum fuhren. Zur gleichen Zeit wurden zwei Personen (ein Zivilist, ein schwarz Uniformierter) ca. 10 m vor dem Schlagbaum gesehen. Ebenfalls im Grenzkommando Gardelegen kreiste ab 18.00 Uhr ein Flugzeug unbekannter Art in ca. 4 000 bis 5 000 m Höhe mit besetzten Positionslampen. Es kam aus Richtung Brome6/Westdeutschland.
III. Feindtätigkeit
Hetzlosungen
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Magdeburg: In der Nacht vom 24. zum 25.10.1956 wurde in Halberstadt eine selbstgefertigte Hetzschrift angebracht (»Iwan, wo bleibt Deine Solidarität, mach Dich nach Hause«).
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Erfurt: An einem Eisenbahnwaggon auf dem Bahnhof Großrudestedt und an eine Anschlagtafel in Holzthaleben,7 [Kreis] Sondershausen, wurden Hetzlosungen gegen Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck geschmiert.
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Dresden: Am 22.10.1956 wurden in Löbau drei Hakenkreuze und eine Hetzlosung gegen Wilhelm Pieck und gegen die Sorben angeschmiert.
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Frankfurt/O.: Im EKS wurde die Hetzlosung »Nieder mit dem Spitzbart,8 dem Ausbeuter der Arbeiterklasse, es lebe Adenauer« in einer Toilette angeschmiert.9
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Potsdam: Im Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf wurde am 24.10.1956 eine schwarz-rot-goldene Fahne von zwei angetrunkenen Jugendlichen heruntergerissen10 und von unbekannten Tätern das Kabel der Lautsprecheranlage zerschnitten. Am 25.10.1956 war in der Stahlform-Gießerei die Hetzlosung »Es lebe der 17. Juni« angebracht.
Andere Delikte
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Der Leiter des Wohnungsamtes Jüterbog (SED) erhielt am 20.10.1956 durch die Post eine Karte mit folgendem Text: »Du Mistvieh, sieh Dich vor. Dir geschieht etwas in nächster Zeit. Dein Kopf endet im blanken Teich.«
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Halle: In der Nacht vom 24. zum 25.10.1956 wurden auf dem Güterbahnhof Roßlau elf Waggons mit Stückgut – meist Textilien – aufgebrochen und ein Waggon in Brand gesteckt. Vor dem Bahnhof Mücheln (Strecke Merseburg – Querfurt) wurde das Drahtseil vom Hauptsignal F zum Vorsignal verklemmt. Täter sind noch nicht bekannt.
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Frankfurt/O.: Am 24.10.1956, gegen 20.00 Uhr, wurde ein VP-Helfer zwischen Rehfelde und Strausberg11 von drei unbekannten Personen mit den Worten »jetzt haben wir Dich endlich, Du dreckiges Polizeischwein« überfallen und geschlagen.
Flugblattfunde
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Schwerin: 18.15 Uhr wurden in Dömitz, [Bezirk] Schwerin, 16 Ballons in Richtung Schwerin treibend gesichtet.
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Frankfurt/O.: Im Kreis [Bad] Freienwalde wurden mehrere Ballons mit Hetzschriften gesichtet. Im Kreis Stalinstadt wurden Hetzblätter mit der Überschrift »Länger leben, langsamer arbeiten« gefunden.
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Erfurt: Im Kreis Mühlhausen wurden drei Hetzschriften »Die Wahrheit von A–Z« und im Kreis Arnstadt »Einheit« durch die Post versandt.
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Berlin: Neuaufgetauchte Flugblätter:
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»Aufruf an die Bauern der sowjetischen Besatzungszone« fordert auf, die »Uneinigkeit in der SED« auszunützen, den Erfassern vorsichtig und zurückhaltend gegenüber zu treten und die Parteifunktionäre wie »Aussätzige« zu behandeln. Als Vorbild werden die Vorfälle im Kreis Pirna hingestellt.12
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»Die bolschewistische Revolution frisst nicht nur ihre eigenen Kinder, sondern auch ihre Gründer«. Tendenz: Trotzkismus, Titoismus, Objektivismus und Opportunismus sind vom Kommunismus gezeugt, der ihre Anhänger mordete. Welche Opfer wird der Stalinismus fordern?
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»Freiheitsschwur« fordert: Freiheit den Eingekerkerten, dem deutschen Land jenseits der Oder und Neiße, der persönlichen Meinung, für Presse, Funk und Film, freie Wahlen.
Alle drei Flugblätter sind unterzeichnet mit »Freie deutsche Arbeiter und Bauernbewegung in der Sowjetzone«.13
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Gerüchte
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Berlin: Im ADN wird unter den Mitarbeitern das Gerücht verbreitet, dass in Polen Wahlen nach westlichem Muster durchgeführt werden sollen und auch in der DDR bald solche kommen.
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Frankfurt/O.: Im Kraftwerk Stalinstadt: »Aufgrund der Unruhen in Polen ist Polizei der DDR nach Polen gegangen.«
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Potsdam: Eine bei der Reichsbahn in Berlin beschäftigte Person aus Zossen erklärte, dass am Sonntag, den 27.10.1956 in Berlin der Streik beginnt.
Nachtrag
Die privaten Verkehrsunternehmer in Berlin äußerten sich, am Sonnabend eine Protestfahrt zu veranstalten, weil sie erfahren haben, dass 250 Kraftfahrzeuge aus Exportkontingenten den volkseigenen Verkehrsbetrieben zur Verfügung gestellt wurden und sie keine bekamen.