Lage in der DDR (10) 31.10.–1.11.
1. November 1956
Information Nr. 297/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (31.10., 17.30 Uhr, bis 1.11.1956, 8.00 Uhr, eingegangenes Material)
I. Lage in der Industrie
Leipzig: Am 27.10.1956 richteten vier Kollegen vom Stellwerk A an die Dienststellenleitung des Bahnhofes Engelsdorf, [Kreis] Leipzig[-Land], die Aufforderung, dafür zu sorgen, dass endlich die verkürzte Arbeitszeit für die überlasteten Dienstposten eingeführt wird, um der Betriebsleitung »eine fatale Aussprache mit einem öffentlichen Organ« zu ersparen. Die Gewerkschaftsleitungen sollten sich mehr mit den Sorgen der Arbeiter befassen, auch wenn es der Werkleitung oder dem technischen Leiter nicht immer angenehm ist. Im Abraum des BKW Borna äußerte ein Arbeiter bei einer Diskussion zwischen drei Arbeitern: »Ihr solltet erst einmal sehen, wenn es bei uns losgeht, wie wir dann kämpfen. Ich suche mir schon meine Freunde aus. Deren Tage sind dann gezählt, wenn es hier einmal kracht. Wenn die Polizei nicht wäre, wäre es schon längst vorbei. Unsere zittern ja schon vor Angst, wenn es losgeht.«
Gera: Der VEB Montagebau Gera ist Schwerpunkt feindlicher Diskussionen. Besonders werden die Argumente der Westsender benutzt und diesen zugestimmt. Typische Äußerungen sind: »Es wird bedauert, dass ein solcher Aufstand in der DDR nicht möglich sei, weil Menschen zu feige sind und überall die sowjetische Armee wäre« (AGL-Vorsitzender). Ein Arbeiter forderte auf, den RIAS zu hören. Er selbst würde auch Offiziere und Kommunistenführer erschießen und aufhängen. Personen, die eine fortschrittliche Haltung zu den Fragen Polen1 und Ungarn einnehmen,2 [werden] verächtlich gemacht oder bedroht.
Frankfurt/O.: Im Sägewerk Werbellinsee erklärten Angestellte und einige Arbeiter, dass die Genossen Ulbricht und Grotewohl bis Weihnachten verschwunden sein sollen.
II. Besondere Vorkommnisse
Die SPD-Versammlung im Sportpalast in Westberlin begann 18.00 Uhr. Anwesend waren ca. 1 800 Personen, meist Angestellte und ältere Männer, wenig Jugendliche. Als Ordner sollen Arbeiter – meist von der BVG/West – eingesetzt gewesen sein. Außerdem war ein 20 Mann starkes Stupo-Kommando anwesend.3 Im Saal war eine alte National-Flagge von Ungarn und die Schwarz-rot-goldene Fahne angebracht. Vor dem Sportpalast befand sich ein großer Kranz für die »Opfer der Freiheit«, eine Tragbahre mit einem Stacheldrahtkranz. Brandt4 eröffnete die Versammlung und sprach ca. 15 Minuten. Er bedauerte die geringe Beteiligung, die er auf die kurzfristige Ansetzung und die Weigerung des RIAS (der abgelehnt hatte einzuladen, weil es eine Parteiangelegenheit sei) zurückführt. Weiter führte er aus, dass angeblich eine Delegation aus »Mitteldeutschland« anwesend sei und für Ungarn eine Spende von 4 700 DM überbracht hat. Anschließend sprach Franz Neumann5 über Solidarität mit den ungarischen »Freiheitskämpfern« er betonte, dass in Ungarn die Zersetzung der sowjetischen Truppen weiter fortschreiten. Dann wurde eine Bandaufnahme der Fernsehsendung mit den Genossen Ulbricht und Grotewohl wiedergegeben.6 Neumann verlangte, dass alle in der »Ostzone« noch inhaftierten »politischen Gefangenen« entlassen werden. Am Sonnabend, den 3.11.1956, sollen in der »Berliner Stimme« die Namen von angeblich 21 000 »politischen Gefangenen« bekannt gegeben werden.7 Am 2. oder 3.11.1956 (?)8 soll in diesem Zusammenhang eine Pressekonferenz stattfinden. Wie üblich, hetzte Neumann in gemeiner Weise besonders gegen die Genossen Ulbricht und Grotewohl. An die SP Ungarn9 wurde ein Begrüßungstelegramm abgesandt. Mit einem Fackelzug (ca. 700 bis 800 Teilnehmer) wurde die Versammlung abgeschlossen. An der Spitze des Zuges wurde der Stacheldrahtkranz getragen, der am »Denkmal 17. Juni« niedergelegt und solange dort bleiben soll, bis überall in den östlichen Ländern der Stacheldraht verschwunden sei.
Am 31.10.1956, in der Zeit von 20.00 bis 21.30 Uhr, fand eine »Solidaritätskundgebung« an der Freien Universität, Westberlin, Garystraße, statt. Anwesend waren ca. 1 000 Personen, meist Studenten. Es sprachen: Professor Hofer,10 Brandt, Silex,11 Franke,12 Kundt, Klaus.13
Die wichtigsten Beiträge waren:
Brandt: Der Kampf der Studenten in Ungarn ist Vorbild für die deutschen Studenten. Jetzt dürfen wir nicht wieder die Gelegenheit verpassen, wie am 17.6.1953 Ulbricht hat schon Zugeständnisse an die Studenten gemacht, indem er gestattete, westdeutsche Bücher zu lesen. Im ZK der SED wäre heute über das Schicksal Walter Ulbrichts verhandelt worden und außer Schirdewan hätte niemand für Walter Ulbricht gesprochen. Grotewohl hätte sich neutral verhalten und Walter Ulbricht selbst hätte sich nach Karlshorst begeben, von wo das ZK zurechtgewiesen worden sei.
Kundt: Wir dürfen nicht nur zusehen, sondern müssen unsere Brüder im Osten befreien, nicht durch Schweigemarsch, sondern durch positive Maßnahmen.
Franke: Sprach phrasenhaft und erhielt im Gegensatz zu seinen Vorrednern keinen Beifall.
Es wurde ein Solidaritätsappell an die ungarischen Studenten und ein Appell an die Studenten der DDR (zu Händen des Rektors der Humboldt-Universität) gerichtet. Der letztere lautet sinngemäß folgendermaßen:
- 1.
Entstalinisierung der Humboldt-Universität sowie weitere Demokratisierung derselben. Humboldt muss Vorbild für Freiheit der Wissenschaft sein. Die Studenten sollen versichert sein, dass in der »freien Welt« etwas für sie getan wird.
- 2.
Freie und geheime Studentenratswahlen, vorher eine Vollversammlung, wo die freie Meinungsäußerung und freie Persönlichkeit garantiert wird.
Falls dieses nicht verlesen werden sollte, sollen die anwesenden Studenten diesen Text und die Forderungen mündlich in der Humboldt-Universität verbreiten. (Zurzeit soll in der Humboldt-Universität eine Spendensammlung für Ungarn laufen. Der Betrag soll durch Studenten der Humboldt-Universität nach Ungarn gebracht werden.)
Eine Diskussion war auf dieser Kundgebung nicht vorgesehen und fand auch nicht statt. Auch nach der Kundgebung gab es keine Gruppenbildungen.
Karl-Marx-Stadt: In einer NDP-Mitgliederversammlung am 29.10.1956 in Plauen legte ein Konditormeister, der oft beruflich in Westdeutschland weilt, ein vierseitiges schriftliches »Programm« mit folgenden Punkten vor:
- –
Misstrauen gegen Grotewohl aussprechen;
- –
Bildung eines Rates der DDR unter Leitung von Buchwitz14 und Dr. Dieckmann;15
- –
Wahlen am 27.1.1957 (Kaisers Geburtstag);16
- –
Teilnahme aller Parteien, die am 31.12.1955 bestanden;17
- –
Auflösung des MfS, der GST und Volksarmee, mehr Rechte den Betriebsvertretern, weniger Recht der Betriebspartei-Organisation;
- –
alle Angestellten in die Produktion, Marken beibehalten,18 Akzise wegfallen lassen;
- –
alle Angehörigen der Intelligenz, die die DDR verlassen haben und zurückkommen, ein Jahr steuerfreies Gehalt.
Wie dieses »Programm« aufgenommen wurde, ist noch nicht bekannt.
In Hohenstein, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, forderte ein NDP-Mitglied in einer Mitgliederversammlung Folgendes:
- –
Auflösung der Blockausschüsse;19
- –
alle Funktionäre aus den Volksvertretungen ausscheiden, denn sie kennen die Meinung des Volkes nicht;
- –
Beseitigung der Diktatur und der einheitlichen Meinungsbildung (in allen Zeitungen steht das Gleiche).
Potsdam: Am 31.10.1956 wurden in Potsdam insgesamt 379 Kraftfahrzeuge anderer Bezirke festgestellt, davon ca. 80 % aus Leipzig. Vom S-Bahnhof Potsdam wurden vom 30. bis 31.10.1956, jeweils 12.00 Uhr, 5 000 Fahrscheine nach Westberlin mehr verkauft, als an anderen Tagen.
Grenze und Westdeutschland
Im Raum von Fulda sollen sich größere schwere Panzerverbände konzentriert haben. Näheres [ist] nicht bekannt. In Frankfurt/M. wurde für sämtliche amerikanischen Einheiten Ausgehverbot angeordnet.
III. Feindtätigkeit
a) Flugblattverbreitung
Leipzig: Drei mit einem Kinderdruckkasten hergestellte Hetzzettel »Fort mit Ulbricht« wurden in der Demmeringstraße20 in Leipzig gefunden.
Halle: 1 »Tarantel«21 im Aufenthaltsraum des Lokpersonals Merseburg. Eine Hetzpostkarte gegen die SED gerichtet, mit Hitlerbild, im Bahnpostamt 29 – Halle. Eine selbstgefertigtes Hetzblatt »Budapest, was machen wir?« in der Filmfabrik Wolfen.
Potsdam: Am 31.10.1956 wurden in der Zeit von 11.00 bis 13.00 Uhr ca. 25 Ballons von Wannsee in Richtung Werder/Havel treibend gesichtet.
Magdeburg: In der MTS Haldensleben wurde durch Hand ein altes Flugblatt der SED verbreitet. In der Konsumgenossenschaft Pretzier,22 [Kreis] Salzwedel, wurde ein handgeschriebenes Flugblatt »Arbeiter, folgt dem Beispiel der Ungarn« gelegt.
b) Hetzlosungen
Karl-Marx-Stadt: In Oberlungwitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Es lebe die Freiheit, es leben die tapferen Ungarn. Wir Deutschen fordern weg mit dem Stalinist Ulbricht, weg mit den Verrätern der SPD, Grotewohl,23 weg mit diesen Wahlfälschern, Demagogen und Russenknechten. Wir fordern freie und geheime Wahlen und Wiedervereinigung Deutschlands.« An der Autobahnbrücke bei Wüstenbrand wurde mit Kreide »nieder mit Ulbricht« angeschmiert. Fünf Hetzparolen, u. a. »Rentner erwachet«, »Rentner hungern«, »Ulbricht muss weg«, wurden im Stadtgebiet Karl-Marx-Stadt angeschmiert. In Eibenstock: »Ungarn hat gesiegt, wir werden auch siegen.« Im Steinkohlenwerk Karl Liebknecht in Oelsnitz: »Wir sitzen tief im Dreck, deshalb muss Ulbricht weg.«
Gera: Stadtgebiet Jena wurde mit Zahnpaste: »Freiheit« geschmiert.
Halle: In der Gemeinde Benndorf wurden an Lichtmasten Hakenkreuze gemalt. Im VEB EHW Thale wurde ein Bild Otto Grotewohls mit dem Gesicht zur Wand gehängt. Hetzlosungen gegen Partei, Regierung und Sowjetunion wurden im DHW Rodleben, [Kreis] Roßlau, Allstedt, VEB Fahrzeugbau Aschersleben, geschmiert.
Rostock: In der Neptun-Werft Rostock und in Ribnitz-Damgarten: »Nieder mit dem Kommunismus und der SED«. In Barth, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten]: »Deutschland den Deutschen«, »Spitzbart weg«,24 »Weg mit dem Bolschewismus«.
Erfurt: In Bad Sulza wurden zwei Hetzplakate angebracht: »Wir fordern von der Regierung Abzug aller sowjetischen Besatzungstruppen aus der DDR und die Umbildung der Regierung.«
Frankfurt/O.: Kranbau Eberswalde: »Hitler kommen wieder«; Wriezen: »Ungarn liebt seine Heimat«.
Magdeburg: VEB Schiffswerft Tangermünde: »Freiheit für Ungarn« (in 2 Fällen). Salzwedel: »Keine Gnade für Ulbricht«. Im BW Oebisfelde: »Iwan geh’ zu hause mit Dampf und nimm die Funktionäre mit«, »Deutsche an einen Tisch«, »Heil Budapest«; Wanzleben: »Heil Hitler«.
c) Vermutliche Terrorfälle
Am 27.10.1956 wurde der Parteisekretär Frankfurt/O. von unbekannten Tätern niedergeschlagen und erlitt Verletzungen an Nasenbein und Kopf.
d) Anonyme Anrufe und Briefe
Die SED-Kreisleitung Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, erhielt einen anonymen Anruf: »Der Krieg geht los, steckt die Waffen weg, am 1.11.1956 werdet Ihr aufgehängt«. Ein Wiegemeister vom Schlachthof Gotha, [Bezirk] Erfurt, erhielt einen Drohbrief, unterzeichnet mit »Alle Bauern«. Inhalt: »Dein Kopf baumelt am ersten mit. Die Bauern sind alle geladen über eure Schuftigkeit. Die ungarischen Verhältnisse können jederzeit kommen, es wird keiner vergessen«. NDP-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt erhielt einen Anruf: »Seid wachsam, die Zeit ist gekommen.« Am 28.10.1956 erhielt ein Angehöriger des MfS in Reichenbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, einen Kettenbrief aus Plauen mit der Aufforderung, jeden Mittwoch von 19.00 bis 19.10 Uhr schweigend zu demonstrieren.
e) Brände
Am 30.10.1956 brach in der LPG »Große Initiative« in Wöhlsdorf, [Kreis] Zeulenroda, ein Brand aus. Schaden: 35 000 DM. Ursache: vermutliche Brandstiftung. (Dies ist seit Bestehen der LPG bereits der 3. Brand.)