Lage in der DDR (11) 1.–2.11.
2. November 1956
Information Nr. 299/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (1.11.1956, 17.30 Uhr, bis 2.11.1956, 8.00 Uhr)
I. Lage in der Industrie
Berlin: Im zentralen Konstruktionsbüro Metallurgie1 ist die Beteiligung an der Kampfgruppe sehr gering (35 %).2 Am 25.10.1956 machte sich ein Teil der Kollegen beim Abmarsch der Kampfgruppe über sie lustig.
Karl-Marx-Stadt: Wenn im Kombinat 277 ein Streik ausbricht, so ist das kein Wunder, da seit einem halben Jahr schlechtes Material an Bohrstangen, Bohrkronen, Spülköpfen usw. geliefert wurde und alle Kumpel darunter finanziell zu leiden haben.
Rostock: Auf der Mathias-Thesen-Werft in Wismar sind ca. 350 bis 400 Arbeiter wegen Materialmangel ohne Arbeit, wodurch eine schlechte Stimmung hervorgerufen wird.
Magdeburg: Die Kollegen im Bw Güsten sind der Meinung, dass auch bei uns ein Wandel in der Regierung kommen muss. Sie schlagen dazu Ackermann3 und Kreidemeier4 vor.
Frankfurt/O.: Im Ziegelkombinat Altglietzen, Kreis [Bad] Freienwalde, sind die Arbeiter mit den Normen nicht einverstanden, weil diese zu hoch sind und sie dadurch nur wenig Geld verdienen. Die Bauarbeiter äußerten: »Wenn es auf anderen Arbeitsplätzen ebenso aussieht wie bei uns, dann wird es bald so kommen wie in Ungarn.«
Gera: In der VEB Papierfabrik Greiz äußerte ein ehemaliger Umsiedler: »Schade, dass es bis jetzt da drüben nicht so ausgelaufen [sic!] ist, wie es hätte sein müssen. Sonst hätten wir Umsiedler schon unseren Ausgleich erhalten. Euch Greizern werden wir auch schon das Laufen lernen. In Greiz reichen die Bäume nicht aus, um alle aufhängen zu können.« Im Kreis Zeulenroda tritt die Frage auf, warum greift die SU als Verbündeter der ungarischen Werktätigen nicht ein und macht dem faschistischen Spuk ein Ende.
Halle: Die Lage im Güterverkehr ist in der Rbd5 schlecht. In allen drei Amtsbezirken sind erhebliche Verspätungen zu verzeichnen. Die Lokgestellung zu den einzelnen Zügen ist mangelhaft. In den Amtsbezirken Wittenberg und Leipzig stehen Züge, die nicht bespannt werden können. Ursache: Unfälle kleinerer Art und Schienenbrüche. Die Entladung im Reichsbahnbezirk geht sehr schleppend vor sich. Dadurch macht sich eine Verzögerung in der Abfuhr der Kohle bemerkbar.
Rostock: Ein strittiges Problem auf der Warnow-Werft Warnemünde ist der Wegfall von Milch für Handmaschinenbrenner ab 1.11.1956. Einige Kollegen äußerten: »Wenn das der Fall sein sollte, dann schmeißen wir den Laden hin und streiken.«
Dresden: Infolge der starken Regenfälle bestand im BKW Berzdorf,6 [Kreis] Görlitz, in der Zeit vom 27. bis 29.10.1956 ein Produktionsausfall von 2 300 t. Kohle. Seit dem 30.10.1956 ist die Produktion wieder voll aufgenommen. Am 30.10.1956, gegen 16.20 Uhr, ist im VEB Waggonbau Niesky eine 280 kW Dampfmaschine ausgefallen. Die bisherigen Untersuchungen ergaben, dass die Ursache im Bruch des Pleuellagerbolzens zu suchen ist. Schaden: ca. 100 000 DM. Auf dem Bahnhof Coswig verzögerte der Rangierleiter eine Zugbildung, indem er durch langsame Arbeit einen Berliner D-Zug um 20 Minuten verspätete.
II. Landwirtschaft
Gera: Am 30.10.1956 brach in der LPG Wöhlsdorf, [Kreis] Zeulenroda, ein Brand aus. Dabei wurde ein Gebäude zerstört. Der Sachschaden beträgt 35 000 DM. Es ist bereits der dritte Brand seit Bestehen der LPG und lässt auf Brandstiftung schließen.
Frankfurt/O.: In der Gemeinde Ranzig, Kreis Beeskow, wird von den Großbauern – unter deren Einfluss ein Teil der Dorfbevölkerung steht – die Meinung vertreten: »Die Völker rufen nach Freiheit und da können wir nicht zusehen, sondern müssen auch etwas tun. Wir haben uns nach dem Krieg geschworen, keine Waffe mehr in die Hand zu nehmen. Wenn es aber darum geht die ›Russen‹ aus Deutschland zu vertreiben, werden wir auch noch einmal zur Waffe greifen und mitmachen.«
Magdeburg. In der Schmiede der LPG Groß Rosenburg,7 [Kreis] Schönebeck, erklärten Arbeiter dieser LPG, dass sie streiken werden, falls nicht bald eine Änderung in der Bezahlung erfolgt. Der Rat des Kreises will in der LPG eine Aussprache durchführen.
III. Versorgung
Rostock: Durch die schlechte Versorgung mit Einkellerungskartoffeln in Wismar gibt es unter den Arbeitern der Mathias-Thesen-Werft heftige Diskussionen. Die Frauen äußerten, dass sie nicht eher wieder zur Arbeit gehen würden, bevor sie die Kartoffeln im Keller haben.
Berlin: Verschiedentlich ist zu verzeichnen, dass auffallend viel Fleisch, Wurst und Konserven gekauft werden. Als Begründung wird angegeben, falls es bei uns so kommt, wie in Ungarn, müssen wir wenigstens für die ersten Tage etwas zum Essen haben.
Dresden: In der Gemeinde Lohmen, [Kreis] Sebnitz, ist die Bevölkerung unzufrieden, weil es keine HO-Butter, keinen Staub- und Würfelzucker und keinen Grieß und keine Haferflocken gibt.
IV. Feindtätigkeit
Hetzlosungen
Karl-Marx-Stadt: Am 30. und 31.10.1956 wurde im VEB Press- und Schmiedewerk »Einheit« Brand-Erbisdorf eine Hetzlosung mit Rotstift an die Wand geschrieben. Inhalt: »Ihr dummen Arbeiter müsst erst mal weiterdenken!« In Karl-Marx-Stadt wurde auf der Weststraße mit Kreide »Es lebe die SPD« geschrieben.
Frankfurt/O.: In der Nacht vom 30. zum 31.10.1956 wurden an zehn verschiedenen Stellen in Wriezen, [Kreis] Freienwalde, an Häuserwänden und auf Gehsteigen Hetzlosungen mit Ölfarbe angeschmiert. Inhalt: »Freiheit für Ungarn«, »Ungarn liebt seine Heimat«, »Deutschland erwache«, »Russki raus«.
Dresden: Am 31.10.1956 in den frühen Morgenstunden wurden in Altenberg folgende Hetzlosungen angeschmiert: »Freiheit – Ungarn ein Beispiel«,8 »Raus mit den Russen«, »Es lebe Ungarn«.
Magdeburg: Am 31.10. und 1.11.1956 wurden in Halberstadt, in Wegenstedt, Kreis Haldensleben, und in Stendal an Mauern und Bäumen die Losungen »Russki go home«, »Deutsche in der Ostzone! Greift zu den Waffen!«, »Es lebe der Freiheitskampf in Ungarn« angeschrieben.
Rostock: In Ahrenshagen, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], wurde am 31.10.1956 an der öffentlichen Anschlagtafel die Losung »Nieder mit der SED« angeschrieben.
Flugblätter
Magdeburg: Im Kreis Gardelegen wurden ca. 10 000 Hetzschriften verstreut aufgefunden. Es handelt sich um Flugblätter der NTS,9 der Zope10 und des SPD-Ostbüros,11 in welchen zu aktiven Aktionen nach ungarischem Vorbild aufgerufen wird. Am 31.10.1956 wurden im Raum Hillersleben/Colbitz und Angern/Rogätz, Kreis Wolmirstedt, von einem Flugzeug Hetzschriften abgeworfen. Insgesamt wurden ca. 20 000 Flugblätter (NTS) in sechs verschiedenen Ausführungen aufgefunden. Inhalt: Volksaufstand in Ungarn.
Berlin: Am 1.11.1956, gegen 17.00 Uhr, wurden auf dem Bahnhof Zoo durch den Dienstvorsteher einige Gepäckstücke kontrolliert, die schon einige Zeit in der Gepäckaufbewahrung lagerten. In zwei großen Persilkartons wurden ca. 352 000 kleine Hand- und Klebezettel in dreißig verschiedenen und bekannten Sorten gefunden.
Potsdam: In Potsdam-Babelsberg wurden am 31.10.1956 16 selbstgefertigte Hetzschriften verbreitet. Inhalt: »Fordert freie Wahlen«, »Russenschweine raus«, »Ulbricht – an den Galgen, dann wird es besser werden«,12 »SED nach Moskau – frei wollen wir sein«, »Ungarn gibt das Beispiel, wie es wird möglich sein«.
Hetzbriefe
Karl-Marx-Stadt: Im Kreis Reichenbach werden mit Schreibmaschine geschriebene Briefe verschickt. Inhalt: »Es lebe die Ungarische Befreiungsfront. Seid wachsam, auch für uns wird die Stunde der Befreiung kommen. Hört die Sender des freien Westens. Unseren ungarischen Brüdern schlagen unsere Herzen. Denkt daran, freiheitliches Blut fließt auch für uns.« Andere Briefe beinhalten: »Es lebe der Ungarische Befreiungskampf. Hört die freien Sender des Westens. Denkt daran, Freiheitsblut fließt auch für uns. Seid wachsam für ein einheitliches Vaterland.« | Komitee für Frieden und Freiheit
Gerüchte
Suhl: In der Hofabteilung des VEB Porzellanwerk Neuhaus-Schierschnitz, [Kreis] Sonneberg, wurde erklärt, dass in Ungarn ca. 150 000 junge Genossen den Austritt aus der Partei erklärt haben.
Halle: In Ballenstedt, [Kreis] Quedlinburg, wird verbreitet, wer in den Volksdemokratien nicht so wollte wie die »Russen« müsste sterben. Z. B. Gottwald,13 Bierut14 und selbst Wilhelm Pieck wäre krank gewesen, da er aber noch rechtzeitig umgeschwenkt habe, wäre er am Leben geblieben.
Berlin: Ein Angestellter der Invest-Bauleitung/Oberbau der Reichsbahndirektion Berlin verbreitete: »Das ZK der SED ist gespalten. Der stalinistische Flügel wird von Walter Ulbricht und Matern15 geführt. Der andere Flügel, geführt von Fred Oelßner,16 Heinrich Rau,17 Willi Stoph18 und Otto Grotewohl fordert den Rücktritt Ulbrichts, aber auf friedliche Weise, er soll in Urlaub geschickt werden.«
Westberlin: Kundgebung der VOS,19 der Liga für Menschenrechte20 und der Arbeitsgemeinschaft 17. Juni21 in den Cäzilienfestsälen22 in Westberlin. Die Versammlung war von ca. 450 Personen besucht. Es hatte den Anschein, als ob an dieser Versammlung nur Mitglieder der sogenannten Liga für Menschenrechte und der sogenannten Opfer des Stalinismus teilnahmen. Zu Beginn der Versammlung zog eine Gruppe von ungarischen Emigranten in den Saal ein, die von den Anwesenden stürmisch begrüßt wurde. Die Versammlung eröffnete ein ungarisches Jurnal [sic!]. Dann ergriff R. Hildebrand23 das Wort und erklärte, dass die Aufständischen die Lage in Budapest beherrschen würden, und dass die SU sich nun bereit erklärt habe die Truppen aus Ungarn abzuziehen. Für Deutschland würde daraus die Aufgabe entstehen, die Losung »Ostzone erwache« aufzustellen.
Besondere Vorkommnisse
Der deutsche Freiheitssender 904 brachte in seinen Nachrichten am 1.11.1956 um 21.30 Uhr und 22.00 Uhr, dass an der Grenze der DDR 100 000 amerikanische Soldaten und ca. 1 000 Panzer stationiert sind und es sich um kein Manöver handelt.24
Magdeburg: Am 1.11.1956, um 0.15 Uhr, fand auf dem Bahnhof Roßlau Gleis 4 eine Flankenfahrt zwischen zwei Lokomotiven statt. Es handelt sich um eine Rangierlok und eine 41-er Lok. Der Schaden beträgt 2 000 DM. Ursache: Der Stellwärter erteilte der Rangierlok den Fahrauftrag, obwohl er sich nicht von der richtig gelegenen Fahrstraße überzeugte.
Am 31.10.1956 wurde eine Luftraumverletzung im Kreis Salzwedel/Grenzgebiet Grabenstedt durch ein zweimotoriges Flugzeug (Düsenbomber) unbekannter Nationalität festgestellt. Die Flugrichtung ging weiter nach dem Kreis Seehausen. Am 1.11.1956 wurde im Kreis Salzwedel eine Grenzverletzung durch ein amerikanisches Düsenflugzeug festgestellt. Nach kurzer Zeit wurden ca. 100 Flugblätter des SPD-Ostbüros mit der Schlagzeile »Freiheit marschiert« festgestellt.
Dresden: Am 1.11.1956, um 9.17 Uhr, fuhr der von Großenhain kommende Güterzug mit Personenbeförderung 15510 auf Bahnhof Priestewitz den Durchgangsgüterzug 19375 in die Flanke. Sachschaden: ca. 67 000 DM. Ursache: Der Güterzug mit Personenbeförderung erhielt am Einfahrtssignal B des Bahnhofes Priestewitz »Halt«. Nachdem der Zugführer des GmP den »Vorsichtsbefehl zur Einfahrt in besetztes Gleis« erhalten hatte, gab er dem Lokpersonal den Auftrag, ohne die eigentliche Einfahrt abzuwarten, in den Bahnhof einzufahren. Der Zugführer und das Lokpersonal hatten ungenügende Kenntnis der Fahrdienstvorschrift, nach der sie trotz Vorsichtsbefehl nicht am haltzeigenden Einfahrtssignal vorbeifahren dürften.
Am 31.10.1956 wurde im Pionierpalast Walter Ulbricht25 ein Einbruchdiebstahl verübt. Die Täter entwendeten aus einer Glasvitrine verschiedene Plakate aus der Kampfzeit der KPD.
Karl-Marx-Stadt: Durch einen Arbeiter vom Gaswerk Karl-Marx-Stadt wurde am 30.10.1956 ein Originalbehältnis für 25 Sprengkapseln mit einem Inhalt von 17 Sprengkapseln unter den Kohlen des Gaswerkes gefunden.
Erfurt: Am 1.11.1956, um 19.00 Uhr, entgleisten auf dem Bahnhof Bad Liebenstein bei Einfahrt in die Weiche 3 der Personenzug 494, ein Wagen mit vier Achsen und zwei Wagen mit zwei Achsen. Ursache: Vorzeitige Auflösung der Fahrstraße. Strecke gesperrt, Tote und Verletzte keine.
Berlin: Gegen 21.00 Uhr stellte eine Polizeistreife in der Luisenstraße – Volkskammergebäude – fest, dass sehr starker Rauch aus den Kellerfenstern des Volkskammergebäudes kam.26 Durch sofortiges hinzuziehen wurde festgestellt, dass die seit einigen Tagen im Keller lagernden 20 Tonnen Kohle sich selbst entzündet hatten. Durch Öffnen der Lüftungsklappen drang noch mehr Frischluft in den Keller, wodurch die Kohle noch mehr zu schwelen begann. Die Rauchentwicklung war so stark, dass sogar das ganze Haus, sogar der Plenarsaal, voll Rauch war. Feuerwehr und Brandschutzkommission gelang es gegen 24.00 Uhr mit Spezial-Saugvorrichtungen den Rauch abzuziehen und die Brandherde zu beseitigen. Auch die Feuerwehr stellte als Ursache Selbstentzündung fest.