Lage in der DDR (13) 2.–3.11.
3. November 1956
Information Nr. 302/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (Material vom 3.11.1956, 8.00 bis 22.00 Uhr)
I. Lage in der Industrie
Karl-Marx-Stadt: An dem VEB Chemie Karl-Marx-Stadt1 wurde am 3.11.1956 von unbekanntem Absender folgendes Schreiben per Post zugeschickt:2 Text: »Zentraler Lenkungsausschuss zur Errichtung der Demokratie Berlin W 1,3 30.10.1956, Haus der Ministerien 0937. Überschrift: Ultimatum. Inhalt: Die Regierung der DDR sei sich ihrer Schwäche bewusst, sie verschleiere diese nur vor dem Volk. Durch die Reaktion auf die Ereignisse in Polen4 und Ungarn sei dies erst klar geworden.5 Es wäre notwendig, den Demokratisierungsprozess durchzuführen und Ulbricht, Wollweber6 und Benjamin7 zu entfernen.« Folgende Forderungen werden gestellt:
- –
»MfS mit den untergeordneten Organen auflösen«;
- –
»SPD wieder zulassen«;
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»Neuwahl der Vorstände aller Parteien«;
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»Abhaltung freier geheimer Wahlen mit getrennten Listen, nach dem Landtagswahlrecht vom 20.10.1946«.8
Nur wenn diese Forderungen erfüllt werden, könnte der DDR eine Revolution erspart werden. Sollten diese Forderungen bis 11.11.1956 nicht erfüllt werden, so würde die Bevölkerung am 12.11.1956 in den Generalstreik treten. Die Arbeit würde erst dann wieder aufgenommen werden, wenn die Regierung zurückgetreten sein würde. Ein gleiches Schreiben wurde an den Studentenrat der Karl-Marx-Universität Leipzig gesandt (siehe Bericht Nr. 301/56).
In der Nacht vom 2. zum 3.11.1956 fiel im VEB Sternradio Rochlitz der Transformator aus. Ursache: Kurzschluss, entstanden durch einen kurzen, starken Stromstoß im Verbundnetz. Der Trafo wird im Laufe des Tages (3.11.1956) ausgewechselt.
Dresden: Am 1.11.1956 nahmen um 6.30 Uhr im VEB Fortschritt-Werk Bischofswerda, Formerei, zwölf Former und Hilfsarbeiter die Arbeit nicht auf. Um 7.30 Uhr schlossen sich sechs Gießer den zwölf Formern an. Erst gegen 9.30 Uhr wurde die Arbeit aufgenommen. Grund: Die Formerei wurde in eine Halle verlegt, die noch nicht geheizt war, da erst am Vortage zwei Öfen eingebaut worden sind. Feindliche Diskussionen wurden nicht geführt.
Potsdam: Am 1.11.1956 entgleiste in Potsdam ein Triebwagen der Straßenbahn gegenüber dem RAW Potsdam. Ursache: In den Schienen und der Weiche wurde je eine Klemmplatte festgestellt. Ein Transportarbeiter aus dem VEB Gespannfahrzeugbau Rathenow sagte: »Das, was jetzt in Ungarn los ist, überträgt sich auch auf die DDR. Dann geht es aber ran an die SED, die werden dann auch aufgehängt.« Einige Wissenschaftler im Hauptobservatorium Potsdam erklärten, dass mit dem Rücktritt des Genossen Ulbricht der Beweis erbracht würde, dass die SED einen liberalen Kurs einschlägt.
Frankfurt/O.: Im VEB Ausbau Nord versuchte auf der Baustelle Frankfurt/O. ein Rückkehrer aus Westdeutschland andere Arbeiter zum Widerstand gegen die Regierung aufzuputschen.
Neubrandenburg: In der Nacht vom 2.11. zum 3.11.1956 fiel im Werk II der Vereinigten Ueckermünder Gießereien der 4-Kolbenkompressor zur Bedienung der Putzanlage aus. Ursache: Die Ermittlungen ergaben: Bei der letzten Instandsetzung des Ventils für den Zylinder wurde übersehen, dass im Ventilboden eine Rissbildung vorhanden war. Diese Rissbildung war die Ursache für das Ausbreiten des Gussstückes und des Kompressorschadens.
Berlin: Am 30.10.1956 schickte eine Zimmerbrigade vom VEB Industriebau, Baustelle Buchberger Straße, eine Abordnung von vier Mann zur Bauleitung und forderte Veränderung der Normen und Gewährung einer Schmutzzulage. Sie stellten das Ultimatum, die Forderungen zu erfüllen, andernfalls würden alle 23 Arbeiter die Arbeit niederlegen. Während der Verhandlungen hatte kein Angehöriger gearbeitet. Erst als die Forderungen anerkannt wurden nahmen sie die Arbeit auf. Den Forderungen wurde entsprochen, da Berechtigung vorlag.
II. Landwirtschaft
Frankfurt/O.: Auf dem MTS-Stützpunkt in Hohenwalde, [Kreis] Fürstenberg, ist die Arbeitsmoral sehr schlecht. Die dort beschäftigten Personen nehmen während der Arbeitszeit ständig Alkohol zu sich und drohen mit Arbeitsniederlegung. Ähnliche Zustände werden noch aus dem VEG Ziltendorf,9 [Kreis] Fürstenberg, bekannt. Einige Bauern aus dem Kreis Seelow, Wulkow10 und Trebnitz, äußerten: »Jedes Volk will seine Freiheit haben. Der ›Russe‹ soll abziehen, wenn dies nicht geschieht, kommt etwas Ähnliches wie in Ungarn. Nur der Russe hat die LPG eingeführt und wir brauchen so etwas nicht.«
Potsdam: Ein Mittelbauer aus dem Oderin,11 Kreis Königs Wusterhausen, erklärte: »Es müsste bei uns ebenso sein wie in Ungarn, dass die ganzen Sollgeschichten und Normen wegfallen.«
III. Versorgung
Erfurt: Im HO-Warenhaus Erfurt kam es zu ausgesprochenen Hamstereinkäufen. Hauptsächlich wurde Butter, Margarine Öl und Schmalz gekauft, sodass an einem Tage die Zuteilung von zehn Tagen verkauft wurde.
Leipzig: Seit dem 2.11.1956 treten in verschiedenen Stadtteilen in Leipzig und Torgau unter der Bevölkerung Angsteinkäufe auf. Insbesondere werden Mehl, Haferflocken und andere Nährmittel gekauft.
IV. Studenten
Halle: An der Philosophischen Fakultät wurden Diskussionen über die Bildung einer Studentenvereinigung geführt. Es wurden folgende Fragen gestellt:
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Warum sollte eine Studentenorganisation bei uns nicht möglich sein?
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Warum gibt es in China eine solche Studentenorganisation?
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Warum keine Fakultätsabzeichen?
Karl-Marx-Stadt: Im 1. Studienjahr der Fachrichtung Bergbau wurde in einer Versammlung von Studenten geäußert, wenn es in Ungarn an Freiwilligen bei den Konterrevolutionären mangelt, dann melden wir uns freiwillig und das zu 99 % der hier Anwesenden.
Gera: Am 5.11.1956 soll im Hörsaal der Chemie (Universität Jena) eine Versammlung stattfinden, wo man die Forderung stellen will, dass die Anweisung 76 des Staatssekretariats für Hochschulwesen abgeändert wird, dass die Abschlussprüfungen in Gesellschaftswissenschaft nicht, wie die Anweisung besagt, beim Staatsexamen abgelegt wird, sondern bereits ein Jahr vorher.12
V. Feindtätigkeit
Gera: Am 1.11.1956 wurden in der Nähe von Großlöbichau,13 [Kreis] Jena[-Land], zwei Telefonmaste der Sowjetarmee umgestürzt und die Drähte durchgeschnitten. Am gleichen Ort wurden sieben selbstgefertigte Hetzschriften mit Antisowjethetze gefunden.
Flugblattverteilung
Gera: Vor dem Gaswerk sieben selbstgefertigte Hetzschriften mit Hetze gegen die SED und der Aufforderung zu politischen Unruhen, wobei auch die Ereignisse in Ungarn hervorgehoben worden.
Erfurt: In Nordhausen wurden Flugblätter verteilt, die sich gegen Dr. Loch14 richten. Es wird vermutet, dass in Nordhausen eine feindliche Gruppe besteht. Es wird überprüft.
Magdeburg: In Steesow15 und Losse, Kreis Seehausen, wurden ca. 15 000 Flugblätter vom Ostbüro der SPD16 »Freiheit marschiert« gefunden. Am 2.11.1056 wurden im Kreis Salzwedel 750 »Tribüne«17 und 3 250 »Freiheit« marschiert vom Ostbüro der SPD gefunden.
Hetzlosungen
Gera: In der Toilette des VEB Volltuch18 Pößneck war ein Galgen gemalt mit der Unterschrift: »SPD« und »KPD«. Im Lesesaal der Universitätsbibliothek in Jena: »Freiheit, wir wollen keinen Gewi-Unterricht« mit Kreide angeschrieben. An einem Zaun vor der Krankenanstalt in Stadtroda wurde eine Hetzschrift, die sich gegen die DDR richtet angebracht. Auf der Hetzschrift waren außerdem Namen von VP-Angehörigen des VPKA Stadtroda aufgeführt und die Bevölkerung [wurde] vor diesen als »Spitzel« gewarnt.
Erfurt: Auf dem Bahnhof Weimar war an einem polnischen Güterwagen die Losung: »Jagd die Russen aus dem Lande.« An verschiedenen Stellen in Erfurt waren sechs handbeschriebene Hetzzettel angeklebt, die sich gegen die Sicherheitsorgane richteten:
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»Nieder mit dem Spitzelstaat«;
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»Nieder mit den Organen der Polizei«;
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»Nieder mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR«.
Leipzig: Am 2.11.1956 wurden im RAW-Delitzsch in einer Straßenbahnhaltestelle in Modelwitz und an einem Güterwagen folgende Losungen geschmiert:
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»Es lebe Adenauer,19 nieder mit den Kommunisten, wir haben bald gesiegt.«
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»Wir fordern freie Wahlen«;
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»Raus mit den Russen«;
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»Nieder mit der SED«;
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»Wir wollen frei sei«.
Halle: Am 2.11.1956 wurden in Halle, Dessau, Eisleben, Weißenfels und Bitterfeld an verschiedenen Stellen Losungen gegen die SU, führende Staatsfunktionäre und gegen unseren Staatspräsidenten angeschmiert.
Dresden: Am 1.11.1956 wurde im Flur der Bahnhofsgaststätte in Pirna-Copitz ein Zettel mit folgenden Forderungen gefunden:
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»Entfernung mit Walter Ulbricht«;
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»Mehr Lebensmittel für die Bevölkerung«;
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»Entlassung aller Häftlinge aus dem KZ«;
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»Redefreiheit«.
Karl-Marx-Stadt: Am 1.11.1956 wurde an der Brückenmauer in Wolkenburg, [Kreis] Glauchau, eine Hetzlosung gegen die sowjetische Armee angeschmiert. Am 3.11.1956 wurde in Dittmannsdorf am Spritzenhaus die Hetzlosung »Ulbricht der Hund, Russen raus, Pieck muss weg, Freiheit« angeschrieben. In Oelsnitz/Vogtland wurde am 3.11.1956 ein selbstgefertigtes Flugblatt mit folgendem Text gefunden: »Die Provokation in Ungarn hätte man schon im Keime ersticken müssen, sagt Ulbricht. Also handelt er nach dem Grundsatz der Nazis, gegen Demokraten helfen nur Soldaten,20 fort mit solchen Halunken aus Deutschland.«
Berlin: Am 2.11.1956 wurde auf dem Marx-Engels-Platz ein handgeschriebenes Flugblatt gefunden, dass sich an die Studenten gerichtet und folgenden Wortlaut hat: »Die Forderung der Berliner Studenten:
- 1.
Klare, objektive Einstellung der Regierung zu den Geschehnissen in Polen und Ungarn.
- 2.
Die Regierung muss aus diesen Ergebnissen die Konsequenzen ziehen.
- 3.
Weitgehende Änderung in der Regierung und in der Politik.«
Gerüchte
Magdeburg
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In Havelberg kursiert das Gerücht, dass bis Weihnachten mehrere Männer eingezogen würden, als 1. müssten sich Angehörige der Kampfgruppen21 zur Volksarmee melden.
- –
In Stendal erzählte ein Rentner, dass in der Zuckerfabrik in Goldbeck 100 »Russen« stationiert wären um aufzupassen, dass gearbeitet wird.
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Ein Kraftfahrer der Konsumgenossenschaft Barleben,22 [Kreis] Wolmirstedt, verbreitete, dass Verteidigungsminister Stoph23 zu Walter Ulbricht äußerte, »dass er aufhören sollte, dem Volke etwas Unwahres zu erzählen«.
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In Kamern, Kreis Havelberg, wird diskutiert, dass Ägypten durch unsere Volksarmee unterstützt werden soll,24 deshalb würden die Angehörigen der Kampfgruppen bald eingezogen.
- –
Einige Bauern aus Zerbst verbreiten, dass spanische Truppen an der ungarischen Grenze stehen. In 8 bis 14 Tagen würde es auch in Russland losgehen, der Kommunismus hätte abgefrühstückt.
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Im Krankenhaus Wolmirstedt kursiert unter den Schwestern das Gerücht, das Schwestern zum Einsatz nach Ungarn gesucht werden.
Besondere Vorkommnisse
Erfurt: Am 1.11.1956, gegen 0.20 Uhr, brach in der Scheune eines LPG-Bauern in Bollstedt Kreis Mühlhausen, ein Großbrand aus, welcher mit großer Geschwindigkeit auf die Scheune eines Einzelbauern übergriff. Schaden ca. 200 000 DM. Die Brandursache ist noch nicht bekannt.
Berlin: In den letzten Tagen haben sich verdächtig viele Westberliner beim Postamt O1725 betreffs Einstellung beworben.
Potsdam: Am 1.11.1956 wurden im Aufenthaltsraum der Konsumbäckerei in Oranienburg die dort hängenden Bilder der Genossen Pieck, Grotewohl, Ulbricht und Thälmann26 von zwei betrunkenen Kraftfahrern, tätig im Konsum, zerschlagen.
Neubrandenburg: In der Nacht vom 2. zum 3.11.1956 wurde im Kreisausschuss der Nationalen Front in Templin eingebrochen.27 Entwendet wurden:
- 1.
Aufstellung, woraus sämtliche Sekretariatsmitglieder und deren Aufgaben zu ersehen sind.
- 2.
Aufstellung über sämtliche Aktive der Nationalen Front.
- 3.
Eine Kassette mit Bausteinen im Werte von 381 DM.
Frankfurt/O.: In der Nacht vom 2. zum 3.11.1956 wurde in der HO-Gaststätte in Ahrensfelde,28 [Kreis] Bernau, ein Grenzsoldat von sieben Jugendlichen niedergeschlagen. Dabei äußerten die Jugendlichen: »Die Freiheit hier haben wir satt, es muss bald anders werden. Es kommt der Tag, da schlagen wir Euch alle tot. In Ungarn haben die Arbeiter die Freiheit mit Waffen erkämpft, wir bekommen auch welche.«
Lage in Westberlin
Inoffiziell wurde bekannt, dass der amerikanische Geheimdienst sich für die Stimmung zu den Ereignissen in Polen und Ungarn interessiert. Dabei werden folgende Fragen gestellt:
- 1.
Besteht die Möglichkeit, dass in der DDR durch die Studenten ähnliche Unruhen wie in Ungarn geschaffen werden.
- 2.
Welche Gegenmaßnahmen werden beobachtet (Polizeiverstärkung, Streifentätigkeit).
- 3.
Welche Weisungen werden an die SED-Parteigruppen betreffs Sicherheitsmaßnahmen gegeben.
Hetze der Westsender
Trotz der zahlreichen Varianten zeichnen sich bei der Propaganda des Gegners deutlich zwei Linien ab: 1. Hinter den Erklärungen von Partei und Regierung verberge sich Angst und Unsicherheit. 2. In der DDR gibt es Unruhen unter den Studenten, und überhaupt den Jugendlichen, ähnlich wie das in Ungarn der Fall war, in Polen, ja selbst in der SU der Fall sei. Darüber erfolgen die sensationellen Berichte und Kommentare. So äußerte z. B. der RIAS, dass an verschiedenen Fachschulen, besonders in Magdeburg und [im] Leipziger Raum, FDJ-Versammlungen abgesetzt worden seien, weil Studenten »unabhängige Gruppen [bilden] und Diskussionen über Ungarn auslösen« sollten.
Zu den Ausführungen des Genossen Grotewohl von der Volkskammer heißt es im SFB vom 2.11. u. a. »Die gesamte Rede Grotewohls war eine einzige flehentliche Bitte an die Bevölkerung der Sowjetzone, ja nicht dem polnischen und ungarischen Volk zu folgen.«29
Erwähnenswert ist noch eine Sendung des SFB vom 2.11.1956, in der Leo Bauer30 sprach. Ihm wurde unter anderem die Frage gestellt, ob er der Meinung ist, dass es in der SED solche Männer wie Gomulka31 und Nagy32 gibt. Dies bejahte er und sagte wörtlich: »Diese Männer müssen aber eins wissen, je länger sie zögern, je länger sie warten, die notwendigen Konsequenzen aus den Ereignissen in Polen und Ungarn zu ziehen, desto mehr schaden sie sich selbst, desto weniger wird es für sie möglich sein, den Nachweis zu führen, dass sie die ganzen Jahre gegen Ullrich [sic!] gekämpft haben.«
Anlage zur Information Nr. 302/56
Berlin, den 4. November 1956
Anhang zum Beispiel Nr. 1 im Informationsbericht Nr. 302/56
Ergänzend dazu wird festgestellt, dass das anonyme Schreiben hektographiert und ohne Unterschrift vom demokratischen Sektor aus versandt wurde. Auf Anweisung des Genossen Generalleutnant Mielke33 wurde diese Mitteilung durch die BZV Karl-Marx-Stadt an uns gegeben. Das Originalschreiben wurde von uns angefordert.